Vor 100 Jahren, am 29. Dezember 1921, wurde die Trennung von Niederösterreich und Wien beschlossen

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„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Als die Energiepreise erstmals explodierten
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Rund um Ukraine-Krieg und Inflation wird uns die Abhängigkeit von billigem Gas schmerzlich bewusst. Vergleiche mit der Situation im Jahr 1973 drängen sich auf, als das Öl plötzlich knapp wurde. Trotz aller Parallelen gibt es heute Unterschiede.
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Wie lange reichen die Vorräte noch – und reichen sie für den nächsten Winter? Kommt es zu Rationierungen in der Industrie und in Privathaushalten? Bleibt es gar in den Wohnungen und Häusern in den Wintermonaten kalt? Das waren die entscheidenden Fragen in jenen schwierigen Wochen.

Die Energiepreise waren weltweit explodiert. Praktisch alle Länder des Westens standen vor ähnlichen Herausforderungen, viele von ihnen griffen zu drastischen Maßnahmen. Im Parlament in Wien wurde eine Senkung der Mehrwertsteuer als Sofortmaßnahme diskutiert, nach und nach wurden stillgelegte Kohleöfen reaktiviert.

Auslöser der Krise war ein unerwartet ausgebrochener Krieg in einem anderen Land – und die Energieversorgung diente als Waffe. Österreich war hier kein primäres Ziel, sondern lediglich Kollateralschaden. Es ist Herbst des Jahres 1973 und der fossile Brennstoff, um den es geht, heißt Erdöl.

Nahostkonflikt mit globalen Konsequenzen
Ägypten und Syrien hatten am 8. Oktober Israel angegriffen und zunächst an den Rand einer Niederlage gebracht. Mit US-amerikanischer Unterstützung gelang es der israelischen Armee allerdings in der Folge, die feindlichen Truppen zurückzudrängen und den sogenannten Jom-Kippur-Krieg doch noch für sich zu entscheiden – sehr zum Missfallen der arabischen Welt.
APA/AFP/GPO/DAVID RUBINGER
Israelische Panzer bei Gefechten auf den Golanhöhen 1973

Die dortigen Staatschefs beschlossen, aus dem regionalen militärischen Konflikt einen globalen Wirtschaftskrieg zu machen. Primäres Werkzeug dafür: das Erdöl, von dem die westlichen Industriestaaten in den Jahrzehnten zuvor zunehmend abhängig geworden waren. Die arabischen Mitgliedsstaaten des Erdölkartells OPEC erhöhten ab Mitte Oktober die Preise und stoppten parallel dazu schrittweise ihre Lieferungen in „unfreundliche“ – also israelfreundliche – Staaten.

Vom Embargo unmittelbar betroffen waren nicht nur die USA, sondern auch die Niederlande. Die indirekten Auswirkungen fielen aber deutlich umfassender aus: Aufgrund der Preissteigerungen wurde Energie generell teurer, dadurch litten alle westlichen Länder.

Weinviertler Ölquellen als strategischer Vorteil
Österreich befand sich dabei noch in einer vergleichsweise guten Lage, schreibt der Historiker Theodor Venus in einer 2008 veröffentlichten Analyse der Ölkrise für das Kreisky Archiv: Zum einen produzierte man für ein westeuropäisches Land relativ viel selbst. Die Ölquellen im Weinviertel versiegten zwar langsam, dienten in den 70er-Jahren aber noch immer als wertvolle Ressource. Zweitens hatte man die Wasserkraft in der Nachkriegszeit bereits massiv ausgebaut. Drittens war Bundeskanzler Bruno Kreisky mit den Ländern im Nahen Osten besonders gut vernetzt, hier kam ihm die Neutralität Österreichs sehr gelegen.

Trotzdem waren die Auswirkungen auch hierzulande gravierend. In den ersten Wochen der Energiekrise wurde vielerorts das Heizöl knapp. Der Herbst hatte in der zweiten Oktober- und ersten Novemberhälfte längst begonnen, die Unruhe war deshalb groß. Mehr als eine Woche lang konnte etwa das Gebiet um Stadt Haag (Bezirk Amstetten) nicht versorgt werden.

In den westlichen Bundesländern waren die Versorgungslücken beim Heizöl noch größer. Diese Regionen wurden großteils aus den Nachbarländern beliefert – und dort war die Situation vielfach schlimmer als in Österreich. Die Lage besserte sich überall im Verlauf des Novembers, doch die Nervosität blieb erhalten.

Schmerzhafte Entwicklungen an den Tankstellen
Eine solche Nervosität herrschte auch unter Österreichs Autofahrerinnen und Autofahrern. An den Tankstellen waren die Preise schon in den Jahren zuvor immer wieder angehoben worden – bundesweit koordiniert, denn die Kraftstoffpreise wurden damals noch von der Regierung vorgegeben. Die Ölkonzerne mussten jeweils um eine Erhöhung ansuchen, nach einer politischen Debatte kam meist ein preislicher Kompromiss heraus.

ORF
Die ursprünglich militärische Krise in Nahost wirkte sich bald auch an den heimischen Tankstellen aus

Die massiven Steigerungen, die von den arabischen Ölstaaten einseitig verkündet worden waren, führten im Oktober zu großem Druck auf die Ölkonzerne und in weiterer Folge auf die Regierung. Am 14. November traten die bisher höchsten Preissteigerungen der Zweiten Republik in Kraft. Diesel und Benzin kosteten von einem Tag auf den anderen um etwa ein Viertel mehr, Heizöl sogar mehr als Drittel.

Hamstern, was das Zeug hält
Handelsminister Josef Staribacher (SPÖ) versuchte zu beruhigen, doch Hamsterkäufe konnte er nicht verhindern. Bereits zu Beginn der Krise hatte er dem Historiker Venus zufolge durch „einen ziemlich ungeschminkten Bericht über die Versorgungslage“ den Medien gegenüber einen Run auf Öl ausgelöst. Vor der Preiserhöhungen Mitte November bildeten sich erneut lange Schlangen vor den Tankstellen, die zum Teil schon bald ausverkauft waren.

Bis zu diesem Zeitpunkt war Öl in Österreich in der Wirtschaft, im Verkehr und den Privathaushalten kein limitierender Faktor gewesen, zumindest nicht in den Nachkriegsjahren des Aufschwungs. Nun war erstmals Sparen angesagt. Das passierte nicht nur auf freiwilliger Basis – früh begann die Bundesregierung damit, zum Teil einschneidende Maßnahmen zu verhängen. Als Schreckgespenst diente monatelang eine Rationierung von Mineralölprodukten, für die bereits Bezugsscheine gedruckt wurden, die schlussendlich aber nie kam.

Tempo 100 auf Autobahnen
Als Sofortmaßnahme wurde wenige Wochen nach Ausbruch der Krise das Tempolimit auf allen österreichischen Autobahnen auf 100 km/h herabgesetzt, zudem durfte in öffentlichen Gebäuden nicht mehr so viel geheizt werden. „Die Autofahrer reagierten trotz beruhigender Erklärungen des Ministers mit einer neuerlichen Hamsterwelle“, schreibt Historiker Venus. Diese Schritte der Regierung sollten die Versorgungssituation aber kaum verbessern, lediglich die Zahl schwerer Unfälle ging auf Autobahnen spürbar zurück.

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Das Tempolimit, das im November 1973 in Kraft trat, sollte für eine spürbare Kraftstoffersparnis sorgen

Deshalb wurde in einer nächsten Stufe ein wöchentlicher autofreier Tag diskutiert. Minister Staribacher schlug den Sonntag vor, doch Kanzler Kreisky „wollte es den Autofahrern selbst überlassen, an welchem Wochentag sie ihr Auto nicht benützen wollten“, so Venus, der die Tagebucheinträge des hauptverantwortlichen Handelsministers ausgewertet hat. Diese Maßnahme sei aber nur schwer umsetzbar und kontrollierbar gewesen. Vorerst wurde die Entscheidung deshalb vertagt.

„Im Rückblick meinte Staribacher, die Regierung habe damals eine Gelegenheit versäumt, durch eine entschlossene Energiesparpolitik sich die Anerkennung der Bevölkerung und der Presse zu sichern. Stattdessen sei später der Eindruck einer ziellosen und widersprüchlichen Politik entstanden“, schreibt der Historiker in seiner Untersuchung.

Laut Staribachers Aufzeichnungen scheiterte eine Rationierung auch am Personal in den Behörden. „Mit solchen Leuten eine Bewirtschaftung zu machen, wäre eine Katastrophe“, schrieb der Minister laut Venus über seine eigenen Mitarbeiter ins Tagebuch.

Diskussion über Sendezeiten des ORF
Im Dezember rang sich Kanzler Kreisky zunehmend zu schärferen Maßnahmen durch. Zum einen kündigte er nun tatsächlich die Einführung des persönlich gewählten „autofreien Tages“ an, zum anderen sprach er sich für Maßnahmen wie die Reduktion von Straßenbeleuchtungen aus. Sogar die Einschränkung der Sendezeit des ORF stand im Raum, wie sie in vergleichbarer Form in anderen Ländern bereits existierte. „Eine relativ geringe Verkürzung auf die Zeiten, in denen die meisten Leute hören und sehen“, könnte laut Kreisky „schon viel bedeuten für die Energieeinsparung“.

Tatsächlich spitzte sich die Situation zum Jahreswechsel erneut zu. Am 24. Dezember drehten die arabischen OPEC-Staaten einmal mehr an der Preisschraube – mittlerweile hatte sich deren Rohölpreis im Vergleich zum Jahresbeginn vervierfacht. Die österreichische Stromversorgung galt wenige Tage später als gefährdet. Die nächste staatliche Kraftstoffpreiserhöhung folgte – damit mussten die Menschen an den Tankstellen um gut die Hälfte mehr bezahlen als noch im Jahr zuvor.

Eine österreichische Lösung
Zum ersten „autofreien Tag“ kam es am 14. Jänner 1974. Jeder und jede war dazu verpflichtet, auf der Windschutzscheibe einen Aufkleber mit dem gewählten Wochentag anzubringen. Von der Regelung generell ausgenommen waren einspurige Kfz, Einsatzfahrzeuge, Ärzte im Dienst, Lkw, Taxis, Traktoren und Diplomatenfahrzeuge, schreibt Historiker Venus. „Anträge auf Ausnahmen vom Fahrverbot sollten Personen mit bestimmten Berufen wie Seelsorger, Tierärzte oder Hebammen und alle Personen erhalten, die ohne Auto nachweislich nicht zur Arbeit gelangen konnten.“
Parallel zum Individualverkehr setzte die Bundesregierung im Bildungsbereich an. Eine zusätzliche Woche sollten alle Schülerinnen und Schüler Anfang Februar freibekommen, kündigte Unterrichtsminister Fred Sinowatz an. Dadurch mussten die Schulgebäude in diesen Tagen nicht geheizt werden. Die Semester- bzw. Energieferien waren geboren.

Während die Energieersparnis dadurch im Rückblick verhältnismäßig klein blieb, bedeutete diese Maßnahme einen Geldregen für den heimischen Wintertourismus. „Ich sehe hier mit Freude einen zusätzlichen Markt im Inland zur Hauptsaison“, sagte etwa der damalige Chef der Fremdenverkehrswerbung, Harald Langer-Hansel.

Doch selbst im Tourismus waren nicht alle zufrieden. „Wir sind von dieser Maßnahme sehr überrascht gewesen, wir sind auch nicht gefragt worden“, erklärte ein Reiseberater im ORF-Interview. „Hätte man uns gefragt, hätten wir eine andere Empfehlung gegeben. Die logischste Zeit wäre im Anschluss an die Weihnachtsferien gewesen.“

Was vom Schock geblieben ist
Der „Ölschock“, wie die Ölpreiskrise heute auch genannt wird, wirkte sich nachhaltig auf die Gesellschaft aus. Während Maßnahmen wie der autofreie Tag und die Geschwindigkeitsbeschränkung auf der Autobahn 1974 wieder aufgehoben wurden, blieben die Semesterferien bestehen. Weitaus wichtiger erscheinen aber jene gesellschaftlichen Folgen, die indirekt von der Krise 1973/74 ausgelöst wurden und heute noch sichtbar sind.

Die Umwelt- und Klimathematik der fossilen Energieträger spielte zwar in den 1970ern noch keine große Rolle, doch die tägliche Abhängigkeit von Öl & Co. trat erstmals in aller Deutlichkeit ans Tageslicht – sowohl jene der gesamten Volkswirtschaft als auch jene der Privatpersonen.
In den Jahrzehnten zuvor waren Investitionen in Energiesparmaßnahmen vernachlässigt worden, sie waren schlicht nicht notwendig gewesen. Nun flossen plötzlich Forschungsgelder in die Entwicklung effizienterer Motoren oder in Bereiche wie die thermische Sanierung von Gebäuden und erneuerbare Energiequellen. Mindestens genauso viel Hoffnung wie in Solar- und Windkraft setzte Österreich damals in die Atomkraft, wurde doch in Zwentendorf zu diesem Zeitpunkt bereits am ersten Reaktor gebaut. Erst mit der Volksabstimmung 1978 sollte sich letztere Hoffnung als Illusion herausstellen.

Das Ende des Nachkriegsbooms
Doch nicht nur im Energiebereich waren die Folgen der Ölkrise zu spüren. Die Teuerungsrate erhöhte sich 1974 kurzzeitig auf 9,5 Prozent, den höchsten Wert seither. In einzelnen Monaten waren auch Werte über zehn Prozent zu beobachten – diese hatte es seit Anfang der 1950er nicht mehr gegeben. Experten der Nationalbank sprechen heute von einem „massiven Inflationsschub“, der eine Phase einer stark schwankenden Teuerungsrate zur Folge hatte.

Die Jahre des wirtschaftlichen Aufschwungs waren zu Ende, 1975 schrumpfte das BIP zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, bei der Arbeitslosenquote wurde erstmals in der Zweiten Republik ein Anstieg verzeichnet. Die Regierung unter Kreisky leitete eine Zeit der massiven Staatsverschuldung ein, um wieder aus der Rezession herauszufinden. „Ein paar Milliarden mehr Schulden“ waren für den SPÖ-Politiker bekanntlich weniger schlimm „als ein paar Hunderttausend Arbeitslose mehr“ – ein hoher Preis, fast ein halbes Jahrhundert vor der nächsten derartigen Krise.
01.07.2022, Felix Novak, noe.ORF.at
Als die Energiepreise erstmals explodierten
 

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„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Eine Tierseuche hält ganzes Land in Atem
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Niederösterreich ist im Jahr 1973 im Bann der Maul- und Klauenseuche (MKS) gestanden. Tausende Tiere wurden notgeschlachtet, dutzende Orte unter Quarantäne gestellt. Am schlimmsten war das Weinviertel betroffen, wo sich auch Widerstand der Bauern bildete.
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3. April 1973: Bei einem Landwirt in Ringelsdorf (Bezirk Gänserndorf) bestätigte sich ein Fall von Maul- und Klauenseuche – Schweine hatten sich mit dem Virus infiziert. Es war einer der ersten Fälle im Land, doch deren Tragweite konnte man damals noch kaum erahnen. „Keiner hat gewusst, dass das so eine Seuche ist“, erinnert sich der damalige Bürgermeister Karl Toch.

Doch mit der offiziellen Meldung durch den Tierarzt ging alles ganz schnell, erzählt Toch: „Der Tierarzt hat das bei der Gemeinde gemeldet, wir haben es an die Bezirkshauptmannschaft weitergegeben und dann habe ich mit dem Amtstierarzt den Betrieb besichtigt.“ Als Notmaßnahme mussten – auf Anordnung des Ministeriums – sofort alle Schweine und Rinder geschlachtet werden.

Die Seuche breitet sich aus
Doch es blieb nicht bei dem Einzelfall, ab sofort waren beinahe täglich weitere Betriebe betroffen, erinnert sich Toch: „Wenn ein Fall von Klauenseuche auftrat, wurde der gesamte Bestand an ’Klauentieren" gekeult und die Betriebe unter Quarantäne gestellt, damals hat aber noch keiner gewusst, was das heißt.“ Die Ställe mussten mit speziellen Mitteln gereinigt, der Mist speziell verpackt werden.

Zudem wurden an allen Ortseinfahrten Seuchenteppiche ausgelegt – eine Sandunterlage, die mit Desinfektionsmittel versetzt war. Wer den Ort verlassen wollte, musste sich selbst bzw. die Reifen der Fahrzeuge desinfizieren. Damit sollte verhindert werden, dass das Virus über die betroffenen Ortschaften hinaus verbreitet wird.

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Denn diese Seuche ist eine hochansteckende, akut verlaufende Viruserkrankung der Paarhufer (Rind, Schaf, Ziege, Schwein sowie Wildwiederkäuer). Der Mensch, falls er einem großen Infektionsdruck ausgesetzt ist, kann eine Infektion durchmachen, die aber in der Regel mild, ähnlich einem grippalen Infekt, verläuft und gefahrlos ist.

Der erste Fall der Tierseuche trat bereits Ende Jänner 1973 auf. In einem Betrieb in Margareten am Moos (Bezirk Bruck an der Leitha), waren zwei Rinder befallen. Vier Kühe, sieben Maststiere, sieben Jungrinder und 35 Schweine wurden am „verseuchten Hof“, wie die APA damals schrieb, umgehend getötet. Doch diese erste Welle hatte sich schnell gelegt, ehe im April die zweite, heftigere folgte.

Acht Tage Quarantäne
In Ringelsdorf wurde umgehend eine Seuchenkommission gebildet, um die durch die Notschlachtungen erlittenen Schäden zu schätzen. „Aber das war fast illusorisch, weil die Preise stark gestiegen sind“, sagt Toch. Nach drei Wochen traf es den Landwirt selbst: Seine zwölf Rinder, vier Kälber und ebenso viele Zuchtschweine wurden gekeult, acht Tage musste er in Quarantäne. „Wir sind dann über das Fenster mit Lebensmitteln versorgt worden.“

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Doch trotz aller Maßnahmen breitete sich die Seuche entlang der March ins Marchfeld bis in die Nachbarbezirke Mistelbach und Korneuburg aus. Das Weinviertel sei dafür aber prädestiniert gewesen, erzählt Franz Karner, langjähriger Landesveterinär-Direktor und damals Student der Veterinärmedizin: „Das Problem lag in den geschlossenen Ortschaften, wo die Höfe dicht nebeneinander lagen und jedes zweite Haus Klauentiere hatte. Die Ausbreitung zu stoppen war unmöglich.“

Das verseuchte Gebiet
Das Weinviertel – mit Ausnahme des Bezirks Hollabrunn – wurde deshalb offiziell zum verseuchten Gebiet erklärt. Die Folge: Aus dem Gebiet durften somit keine lebenden Tiere in andere Teile des Landes gebracht werden und umgekehrt. „Wenn die Seuche nicht unter Kontrolle gebracht werden kann, lässt sich der volkswirtschaftliche Schaden derzeit gar nicht absehen“, betont Bruno Laber von der Landwirtschaftskammer.
Um die Viruslast so gering wie möglich zu halten, blieb man bei der Anweisung, weiterhin auch sämtliche Verdachtsfälle zu töten. Unter den Landwirten sorgte das zunehmend für Widerstand – vor allem auch deshalb, weil die Rinder, die bereits Monate zuvor geimpft wurden und bis auf wenige Ausnahmen nicht von der Seuche befallen waren, ebenso betroffen waren. „Ich kann den Schaden nie wieder einnehmen“, klagte ein verzweifelter Landwirt.

„Die Immunität, die durch die Impfung erzeugt werden soll, ist nicht vollkommen, auch bei Rindern“, entgegnete damals Richard Geier vom Gesundheitsministerium. Viele konnten oder wollten die Gefahr nicht verstehen, ergänzt Karner, gibt aber zu: „Wer lässt gern prophylaktisch gesunde Tiere töten.“ Auch die vom Bund gebotenen Entschädigungen waren nicht allen bewusst, ergänzt Richard Pichler.
Wie das Virus nach Ringelsdorf bzw. nach Österreich gelangt ist, ist bis heute nicht gesichert, erzählt Karner. Höchstwahrscheinlich wurde das Virus „über Kadaverteile von Wildtieren aus den Nachbarstaaten herübergetragen.“ Durch Haustiere wie Katzen oder die in der Luft befindlichen Viren wurde die Seuche dann weitergetragen.

Die Übertragung erfolgt vor allem durch Kontakt der Tiere im Stall, auf Weiden, auf Viehmärkten, Transporten oder Tierschauen. Eine indirekte Übertragung ist aber auch durch kontaminierte Gegenstände, Stallkleidung, Einstreu, Futter oder Stallstaub, der durch Winde über weite Strecken transportiert wird, möglich. Eine weitere Übertragungsmöglichkeit sind Fleisch oder tierische Produkte von infizierten Tieren (Speck, Milch, Käse, Innereien, Blut, Wolle etc.) und Jagdtrophäen.

Kosmetische und pädagogische Maßnahmen
Die Teppiche waren laut Karner eher eine kosmetische – oder pädagogische – Maßnahme für die Bevölkerung. „Damit sollte die Seuche sicher auch immer wieder ins Bewusstsein gebracht werden.“ Die Teppiche wurden von der jeweiligen Gemeinde betreut. Dem Veterinärdirektor zufolge mussten sie eine bestimmte Mindestlänge aufweisen und auch feucht gehalten werden. „Wenn die Sägespäne austrockneten, verloren sie ihre Wirksamkeit.“

Stadtarchiv Wiener Neustadt
Die betroffenen Landwirte mussten ihre Ställe und Anlagen nach genauen Vorgaben gründlich reinigen

Große Probleme gab es schon damals mit der Tierkörperbeseitigung. Denn auf so eine Seuche „waren die Teams der Seuchenanstalt des Landes oder Bundes nicht vorbreitet“, schildert Toch. „Jeder Ort brauchte eine Seuchenkommission, eine Mannschaft, die die Tiere tötet, der Abtransport der Kadaver musste geregelt werden, wohin mit der plötzlich anfallenden Menge?“

Tiere landen in Pestgruben
Viele Tiere wurden deshalb einfach in „Pestgruben“, laut Karner Biodeponien, vergraben. Denn die ziemlich kälteresistenten MKS-Viren – sie können auch in tiefgekühltem Fleisch sehr lange überdauern – sind sehr Hitze empfindlich. Im Boden starben sie sehr rasch durch die Selbsterwärmung der Kadaver, die nach dem Eingraben auftritt. Zusätzlich wurden die Tierkörper zuvor mit Desinfektionsmitteln behandelt.

Erst mit Hilfe von zusätzlichen Seuchenfahrzeugen des Bundes konnten die von der Krankheit betroffenen noch lebenden Tiere abtransportiert werden, zudem wurde damals Oberösterreich und Kärnten um Hilfe gebeten, ihre landeseigenen Spezialfahrzeuge bereit zu stellen. Auch das Bundesheer stellte Soldaten ab, die bei der Verladung der Tiere helfen sollten. „Wir sind selber Bauern, und wissen, was das für die Landwirtschaft bedeutet.“



Zugleich wurde begonnen in einem Umkreis von zehn Kilometern rund um die betroffenen Orte Seuchenschutzgürtel zu legen. „Und zwar von außen nach innen, damit sich das Virus nicht weiter verbreitet“, erklärt Tierexperte Karner, wobei erneut Widerstand unter den Landwirten entstand. Letztlich wussten jedoch alle, dass der wirtschaftliche Schaden enorm sei – und zwar im ganzen Land.

Folgen für ganze Bauernschaft
Zwar reagierte man im Ausland erst relativ spät auf den Seuchenzug der Maul- und Klauenseuche – so findet sich die Meldung „Keine Fleischlieferung Österreichs in BRD“ erst mit Datum vom 10. Mai 1973 im APA-Archiv. Doch die Folgen waren fatal. Am 18. Mai 1973 folgte Italien mit einem Einfuhrverbot für österreichische Paarhufer, weitere Länder folgten, und neben lebenden Tieren waren auch Fleischprodukte betroffen.

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Die Amtstierärzte hatten damals vom Land genaue Auflagen, wie sie mit positiven Tierfällen umgehen sollen

Besonders schmerzhaft traf das auch das Waldviertel, wo die Rinderbauern damals etwa erst die Rassenumstellung beendet und bis zu 15.000 Kälber gekauft hatten. „Wir waren mitten im Aufbau, die Bauern haben viel Geld ausgegeben und plötzlich stand alles still“, schildert Pichler, der damals für die Rinderbauern zuständig war. Der Weideauftrieb wurde gestoppt, sämtliche Viehversteigerungen wurden zunächst verschoben, später abgesagt.

Erneuter Ausbruch
Im Juli war der Seuchenzug weitgehend gestoppt, Einzelfälle gab es jedoch bis in den Oktober hinein. Im August waren etwa die Orte Würmla und Anzing (Bezirk Tulln) betroffen, die Behörden reagierten jedoch umgehend mit rigorosen Quarantänemaßnahmen, die Orte wurden abgeschirmt, selbst die Arbeit am Feld war verboten. 500 Bewohnerinnen und Bewohner waren betroffen.



1.515 Gehöfte in 99 Ortschaften waren betroffen, mehr als 72.000 Tiere mussten geschlachtet werden: 4.494 Rinder, 75.627 Schweine, 245 Ziegen, 25 Schafe und ein Lama. 61 Ortschaften waren zeitweise total gesperrt, viele Großveranstaltungen im ganzen Land wurden abgesagt oder verschoben, wie etwa die Eröffnung der Landesausstellung „Die Römer an der Donau“ im Schloss Traun in Petronell-Carnuntum (Bezirk Bruck an der Leitha).

Die Bauern wurden schon damals für die entstandenen Verluste entschädigt. Ähnlich wie heute trat eine Schätzkommission auf und bewertete den Verlust für die Bauern. Insgesamt kostete der Seuchenzug von Maul- und Klauenseuche nach Einschätzung Karners etwa 150 Millionen Schilling – für 1973 eine exorbitant hohe Summe.

Ungeplanter Strukturwandel
Zugleich begann durch die Seuche ein ungeplanter Strukturwandel. Denn viele kleinere Landwirte im Weinviertel oder jene, die nahe der Pension waren, nahmen die Viehzucht nicht mehr auf oder legten den Betrieb überhaupt still, erinnert sich Ringelsdorfs ehemaliger Bürgermeister Karl Toch. Im Ort selbst blieb damals nur ein Betrieb von der Seuche verschont. „Wie wir das bewältigt haben, weiß ich bis heute nicht“, erzählt Toch, „aber alles ist vorübergegangen.“

Privat
Die Kapelle bei Pönning erinnert an die Tierseuche 1981

Vorüber war die Seuche zumindest für die nächsten acht Jahre. Doch 1981 war die Angst zurück. Von Großbritannien über Frankreich breitete sich die Seuche in Europa wieder aus. Anfang März wurde ein Fall in der Gemeinde Kapelln (Bezirk St. Pölten) bekannt. Allerdings wurde damals umgehend reagiert, schildert Karner, die Ortschaften Thalheim und Pönnig wurden sofort abgeriegelt, niemand durfte hinein oder hinaus.
Das Bundesheer kontrollierte beinahe lückenlos – auch auf den Feldern. Selbst ein Gemüsehändler, der eigentlich zum Großmarkt Inzersdorf nach Wien wollte und nur kurz im Ort war, durfte eine Woche nicht ausreisen. Warum es dort zu einem Ausbruch kam, ist bisher ebenso unklar. In Kapelln war auch der bisher letzte Fall von MKS in Niederösterreich.

Die Maul- und Klauenseuche ist weltweit verbreitet, wobei die Erkrankung in einigen Gebieten Afrikas, Asiens und Südamerikas endemisch vorkommt und immer wieder Neuausbrüche zu verzeichnen sind. Einzelne Ausbrüche traten in der Vergangenheit auch in Europa auf. Die Schweiz war 1980, Deutschland 1988, Italien 1994, und Griechenland in den Jahren 1995, 1996 und zuletzt 2000 von der MKS betroffen.

Rinderwahn sorgt für anfängliche Panik
2001 waren die EU-Mitgliedsstaaten schließlich mit BSE – Rinderwahn – konfrontiert, das katastrophale Ausmaße erlangte. Ausgehend von Großbritannien, wo alleine über 1.300 Betriebe von der Tierseuche betroffen waren, wurden auch Betriebe in Irland, Frankreich und den Niederlanden erfasst. Erst durch Tötung von tausenden erkrankten und ansteckungsverdächtigen Tieren konnte die Ausbreitung zum Stillstand gebracht werden.

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Im Jahr 2001 sorgte Rinderwahn – BSE – für Verunsicherung
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In Groß-Höbarten im Bezirk Gmünd wurde der erste positive BSE-Fall entdeckt

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Für die Analyse wurden den Tieren Rückenmarksproben entnommen und auf BSE untersucht

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Aktivisten des „Verein gegen Tierfabriken“ protestierten damals gegen die Haltungsbedingungendpa

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Der Konsum von Rinderfleisch war damals eine Zeit lang verpönt

In Niederösterreich wurde damals auch am Flughafen in Schwechat ein Seuchenteppich ausgelegt. In jedem Landesteil hatte ein Amtstierarzt rund um die Uhr und auch am Wochenende Rufbereitschaft. Viehmärkte wurden noch genauer als sonst überwacht und alle Tierärzte, Landwirte und Tierhalter waren verpflichtet, jeden, auch den geringsten Verdacht, umgehend bei der Bezirkshauptmannschaft und bei der Gemeinde anzuzeigen, betont Veterinärdirektor Franz Karner.

Peinlicher BSE-Fall im Waldviertel
Schließlich war auch ein Schlachtbetrieb im Bezirk Gmünd betroffen. Zunächst kam es dabei auch zu einer peinlichen Verwechslung, weil die Tierproben vertauscht wurden. Deshalb wurde zunächst ein Betrieb aus dem Bezirk Melk verdächtigt. „Das sorgte für viel Wirbel, auch weil der betroffene Betrieb mitgewirkt hat, dass das nicht ganz koscher war“, erinnert sich Pichler.

Als erste Maßnahme wurde erneut sofort der ganze Betrieb gekeult. „Das Wissen über BSE war zunächst nicht so ausgeprägt“, ergänzt Karner. Später fand man heraus, dass nur die von der Krankheit befallenen Tiere getötet werden müssen. Der Auslöser für BSE war, dass den Tieren Tierkörpermehl verabreicht wurde, dass nicht ausreichend erhitzt war, was mittlerweile verboten ist.

Obwohl es in Niederösterreich letztlich nur eine Handvoll Fälle gab, war die gesamte Landwirtschaft im Export erneut mit großen Einbußen konfrontiert. „Rindfleisch war damals eine Zeit richtig verpönt, man war bemüht, die Seuche so rasch wie möglich wieder loszuwerden“, weiß Pichler, der immer ein strenger Verfechter war Tierkörpermehl nicht zu verfüttern: „Das hatten wir nicht notwendig.“

„Schwergeburt“ sorgt für mehr Sicherheit
Mittlerweile würden Krankheiten bei Tieren darüber hinaus auch besser überwacht bzw. spielt Tiergesundheit eine wichtigere Rolle. Höhepunkt war laut Pichler die Gründung des NÖ Tiergesundheitsdienstes im Jahr 1996 – durch den damaligen Landesveterinär-Direktor Franz Karner. „Das war damals eine Schwergeburt, die Akzeptanz der Bauern und Tierärzte war enden wollend“, erzählt Pichler.

Denn Tierärzte fürchteten zunächst um ihr Geschäft, wenn es weniger kranke Tiere gibt. Die Landwirte mussten fortan Kontrollorgane in ihren Betrieb lassen und dafür auch noch selbst bezahlen. Doch mit der Zeit konnte man sie überzeugen – auch weil solche präventiven Maßnahmen die wirtschaftlichen Risiken minimiert haben, dass Tiere sterben oder ihre Leistung gemindert wird. „Es muss immer etwas passieren, damit etwas passiert.“

Zudem stiegen infolge des EU-Beitritts Österreichs 1995 die Auflagen für die Bauern und auch für bestimmte Bio-Programme wurde die Teilnahme immer mehr zur Auflage. Und solche präventiven Maßnahmen seien auch notwendig, betont Pichler, denn obwohl die letzte große Krankheitswelle bei Tieren schon Jahre zurückliegen, besteht immer die Gefahr, „dass durch die offenen Grenzen eine Seuche eingeschleppt wird.“

Afrikanische Schweinepest
Aktuell sorgt vor allem die Afrikanische Schweinpest für besondere Aufmerksamkeit, die neben Wild- vor allem Hausschweine treffen würde. Derzeit sorgt die Krankheit in Tschechien, der Slowakei und Rumänien für große Schäden. „Da wir auch große Wildschweinpopulationen haben, kann jederzeit etwas passieren“, weiß Karner.

APA/dpa/Gregor Fischer
Heute sorgt die afrikanische Schweinepest, die von Wildschweinen übertragen wird, für besondere Aufmerksamkeit

Es reicht auch, dass infiziertes, verarbeitetes Wildfleisch aus einem der betroffenen Länder in Österreich etwa an einer Raststation entsorgt und von einem Tier gefressen wird. Die Jägerschaft ist deshalb verpflichtet, verendete Schweine beim Amtstierarzt zu melden, Proben werden dann genau untersucht. „Damit sich die Krankheit, wenn wo ein Fall auftritt, nicht wie ein Flächenbrand ausbreitet.“

Im Gegensatz zu 1973 – „wo man durch den Eisernen Vorhang kaum etwas aus den Nachbarländern erfahren hat, maximal gerüchteweise aus der Bevölkerung“ – gibt es laut Karner heute international einen regen Austausch. Bei jedem Seuchenfall in einem Nachbarland wird Österreich automatisch informiert.
04:07:2022; Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at
Eine Tierseuche hält ganzes Land in Atem
 

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Geiselnahme löst blutige Terrorwelle aus - Teil 1
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Im September 1973 ist es in Marchegg zu einer Geiselnahme durch arabische Terroristen gekommen. Die Täter überfielen einen Zug und drohten, alle in die Luft zu sprengen. Doch das war erst der Beginn einer blutigen Terrorwelle im Land.
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28. September 1973, 10.30 Uhr: Am Grenzbahnhof in Marchegg (Bezirk Gänserndorf) kam ein Zug aus Bratislava in der damaligen Tschechoslowakei an. Die beiden Zollbeamten Franz Weleba und Franz Bobits wollten die Reisepässe der jüdischen Zugspassagiere kontrollieren. Doch plötzlich hielten ihnen zwei Araber eine Pistole unter die Nase. „Sie haben uns in den Schlafwagen reingetrieben und die Pistole abgenommen“, schilderte Weleba in einem Interview.

Weleba konnte bei einem hinteren Ausgang aus dem Zug entkommen und um Hilfe rufen. Sein Kollege sowie fünf jüdische Emigranten aus der Sowjetunion wurden als Geiseln genommen. Einer Frau gelang aber mit ihrem kleinen Sohn bald die Flucht. Am Bahnhof kam es auch zu einem Schusswechsel, ehe sich die syrischen Terroristen mit den Geiseln im Bahnhofsgebäude verschanzten.

Forderung nach Stopp der Emigration
Die Araber forderten ein Flugzeug und den Stopp der Auswanderung russischer Juden über Österreich nach Israel. Denn ab 1969 erlaubte die Sowjetunion den russischen Juden die Auswanderung nach Israel. Als Transitland bot sich das neutrale Österreich an. Die Jewish Agency hatte – als Zwischenstation – das Schloss Schönau an der Triesting (Bezirk Baden) gemietet, wo die Emigranten, die per Bahn nach Österreich kamen, bis zum Abflug untergebracht wurden.

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Mit diesem Zug kamen die arabischen Terroristen nach Marchegg
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Die Araber verschanzten sich zunächst mit mehreren Geiseln im Gebäude des Grenzbahnhofs

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Schließlich fuhren die Täter mit vier Geiseln zum Flughafen

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Die Polizei verfolgte das Fahrzeug auf Schritt und Tritt


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Die Verhandlungen mit den Geiselnehmern zogen sich am Flughafen über 16 Stunden

„Bestimmte Organisationen im arabischen Raum haben das aber nicht gern gesehen“, erinnert sich Polizeioffizier Kurt Werle, der damals für die Sicherheit im Schloss verantwortlich ist. Hintergrund war der mit Beginn der 1970er-Jahre zunehmende Konflikt wegen der Siedlungs- und Einwanderungspolitik Israels gegenüber den Palästinensern. Trotzdem kamen bis 1973 mehr als 70.000 sowjetische Juden über Österreich nach Israel.

Bewachung war „Alibi-Aktion“
„Allmählich sickerte aber eine gewisse Gefährdung durch“, erzählt Werle. 1972 wurden u.a. am Wiener Ostbahnhof sechs palästinensische Guerillas verhaftet, die zugaben, Sprengstoffanschläge auf das Schloss Schönau geplant zu haben. Doch die Bewachung im Schloss war laut Werle angesichts dieser Situation „eine reine Alibiaktion, von einer effektiven Überwachung konnte keine Rede sein“.

Die steigende Zahl der Emigranten veranlasste die Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit mit 1. Mai 1973 mit der Aufstellung einer kleinen Sondereinheit, dem Gendarmeriekommando Bad Vöslau. Dessen einzige Aufgabe war es, die Transporte und das Emigrantenlager zu sichern – allerdings nicht schon ab der Staatsgrenze, sondern erst ab dem Wiener Ostbahnhof. Dadurch kam es auch zum folgenschweren Terroranschlag im Bahnhof Marchegg.

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Die jüdischen Emigranten waren in den 1970er-Jahren im Schloss Schönau an der Triesting untergebracht, später kam hier die Spezialeinheit unter

Die beiden Entführer verlangten schließlich einen Fluchtwagen, mit dem sie mit den vier verbliebenen Geiseln zum Flughafen Schwechat gebracht werden wollen, außerdem ein bereitstehendes Fluchtflugzeug, ansonsten würden sie sich mit den Geiseln in die Luft sprengen. Die Polizei ließ die Täter zunächst gewähren, erzählt Werle, „weil wir in Marchegg keine Lösung herbeiführen konnten“.

„Mulmiges Gefühl im Bauch“
Doch am Flughafen bot sich das nächste Problem, nämlich „wenn die aussteigen und in eines der stehenden Flugzeuge einsteigen, das wäre eine ungute Situation gewesen“, sagt Werle. Stattdessen versuchte der Offizier mit den Terroristen Kontakt aufzunehmen und ging zu deren Auto. „Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, weil einer der Araber eine Kalaschnikow auf mich gerichtet hatte und in seinem Mund zwischen den Zähnen den Splint einer Granate gezwickt hatte.“ Doch irgendjemand musste eben Kontakt aufnehmen.

Daraufhin begannen zähe, stundenlange Verhandlungen, die bis weit nach Mitternacht dauerten. Bundeskanzler Bruno Kreisky rief unterdessen einen Krisengipfel ein. Schließlich ging Kreisky auf die Forderungen ein und sicherte die Schließung des Transitlagers im Schloss Schönau an der Triesting zu, woraufhin die beiden Terroristen ohne Geiseln per Flugzeug Wien verließen. In den Morgenstunden des 29. September war die Geiselnahme unblutig beendet.

Internationale Empörung
Über Radio und Fernsehen verkündete der Kanzler mit stockender Stimme: Um das Leben der Geiseln zu retten und weil Österreich für die Sicherheit der jüdischen Emigranten nicht mehr garantieren könne, sehe man sich gezwungen, Schönau zu schließen. Doch die Zugeständnisse Kreiskys führten zunächst zu veritablen politischen Verstimmungen, Israel reagierte empört, in den USA und anderen Ländern wurde die Entscheidung mit Befremden aufgenommen.

Am 2. Oktober landete Israels Ministerpräsidentin Golda Meir in Wien, um in einem Vier-Augen-Gespräch Kreisky zur Weiterführung des Transitlagers zu bewegen. Der Bundeskanzler erläuterte daraufhin sehr bestimmt die Gründe der Bundesregierung, denn auch ohne den Terroranschlag wäre Österreich nicht in der Lage gewesen, die Sicherheit Schönaus weiter zu gewährleisten. Daraufhin flog Meir, ohne auch nur einen Kaffee zu trinken, zornig nach Israel zurück. Am 5. Oktober wurde Schönau geschlossen.
Kurt Werle verteidigt jedoch die Entscheidung Kreiskys: „Denn dieser hatte eben nur die Schließung Schönaus zugesichert, aber kein Ende der Emigration über Österreich.“ Ungeachtet von der Weltöffentlichkeit wurde dafür am 13. November die Rot-Kreuz-Station Wöllersdorf (Bezirk Wiener Neustadt) eröffnet. Ab sofort wurden die jüdischen Auswanderer zumeist in kleinen Gruppen via Österreich nach Israel gebracht.

Kein finaler Rettungsschuss
Außerdem ging es um den Schutz der Geiseln, betont Werle: „Es hat Stimmen gegeben, man hätte die Terroristen liquidieren müssen, aber das war alles blödes Gerede.“ Denn in Österreich gibt es im Gesetz – im Gegensatz etwa zu Deutschland – keinen finalen Rettungsschuss. „Es gibt nur Notwehr oder Nothilfe, und für beides muss zuerst ein Angriff erfolgen.“

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Die körperlichen Anforderungen an Beamte der Spezialeinheit sind seit jeher groß
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Regelmäßige Übungen standen für die Spezialkräfte auf der Tagesordnung

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Auch die Ausbildung im Nahkampf muss gelernt sein

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Alpine Einsatzübung

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Das Schloss Schönau war auch der erste Standort der Spezialeinheit

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Der Fuhrpark beim Papstbesuch 1988

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Personenschutz-Dienst 1979 am Flughafen Wien-Schwechat

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Personenschutz-Dienst 1979 vor dem Bundeskanzleramt in Wien

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Als Folge wurde aber die Sicherung bis an die Grenzbahnhöfe Marchegg und Hohenau ausgedehnt. Wobei das Kommando damals „immer nur auf einen Monat fixiert und dann wieder verlängert worden ist“. Die Spezialeinheit war anfangs also mehr oder weniger ein Provisorium. „Wir haben aber gesagt: Provisorien halten sich in Österreich am längsten, also wird das wahrscheinlich eine Dauereinrichtung werden“, ergänzt Werle. So kam es dann auch.

Hohe Fluktuation und viel Flexibilität
Die Beamten waren aber alle freiwillig beim Gendarmeriekommando Bad Vöslau. Ohne Zustimmung durften sie nur drei Monate zugeteilt sein. Das führte zunächst zu einer hohen Fluktuation. Auch bei der Bekleidung war Flexibilität gefragt. „Ursprünglich haben wir die Alpinausrüstung der Gendarmerie gehabt, graue Hose, den grauen Ski-Pullover mit Anorak, im Winter eine Überhose. Dann kam die Uniform des Bundesheeres im Zwiebelschalensystem.“

1974 übersiedelte das nunmehrige Gendarmeriebegleitkommando Wien von Schönau in die Burstyn-Kaserne des Bundesheeres nach Zwölfaxing (Bezirk Bruck an der Leitha) und wurde ab diesem Zeitpunkt direkt der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit im Innenministerium unterstellt. Die Aufgabe blieb aber klar abgegrenzt. „Wir waren für nichts anderes zuständig als für den Begleitschutz und die Sicherheit des Objekts.“
Fortsetzung siehe Teil 2:
 
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„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Geiselnahme löst blutige Terrorwelle aus - Teil 2

Nächster Terroranschlag – mit drei Toten
Nur ein Jahr später folgte der nächste Terroranschlag, am 21. Dezember 1975 wurde die OPEC-Zentrale in Wien überfallen: Drei Menschen wurden erschossen, 70 Geiseln genommen. Die Tat hielt sowohl Österreich als auch die ganze Welt zwei Tage lang in Atem. Angeführt wurde die Gruppe, die sich „Arm der arabischen Revolution“ nannte, von dem venezolanischen Top-Terroristen Ilich Ramirez Sanchez, genannt Carlos. Als Drahtzieher hinter der Aktion wurde Libyen vermutet.
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Das Archivbild vom 26. Dezember 1975 zeigt eine mehrfach von Kugeln durchlöcherte Glastüre im Inneren des OPEC-Gebäudes in Wien
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Der Anschlag galt der OPEC-Konferenz

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Vor dem OPEC-Gebäude – gegenüber der Universität Wien – bezogen die Einsatzkräfte Stellung

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Sanitäter tragen einen Mann aus dem OPEC-Gebäude in Wien, der bei dem Terroranschlag am 21. Dezember 1975 verletzt wurde

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Ein Terrorist steigt in das Flugzeug, dass die Täter außer Landes bringen sollte

Bei dem Versuch der Polizei, das Gebäude zu stürmen, wurden ein österreichischer Kriminalbeamter und ein deutscher Terrorist verletzt. Mit Sprengstoff und Handgranaten drohten die Geiselnehmer das Gebäude in die Luft zu sprengen und forderten die Bereitstellung einer AUA-Maschine. Im Falle der Nichterfüllung der Bedingungen drohten die Geiselnehmer, Geiseln im 15-Minuten-Takt zu erschießen.

Terroristen entschuldigen sich
In dem sechseinhalbseitigen Kommunique, das im Radio in französischer Sprache verlesen werden musste, kritisierte die Gruppe die Friedenspolitik einiger arabischer Staaten gegenüber Israel, erklärten den Iran zum Agenten des amerikanischen Imperialismus und forderten die Nationalisierung des Erdöls. Die Terroristen bedauerten darin außerdem, dass sie gerade Österreich zum Schauplatz des Geschehens machen mussten.

Nach zähen Verhandlungen entschied Bundeskanzler Bruno Kreisky in der Nacht auf den 22. Dezember, die Terroristen ausfliegen zu lassen. In der Früh des 22. Dezembers stand ein Postautobus vor dem OPEC-Gebäude bereit und brachte das Kommando und 33 Geiseln zum Flughafen Wien-Schwechat. Die in Österreich wohnhaften OPEC-Mitarbeiter waren zuvor freigelassen worden. Für Aufsehen und Kritik sorgte später, dass sich Carlos am Flughafen mit einem Händedruck vom österreichischen Innenminister Otto Rösch verabschiedete.

Dieser Anschlag sowie weitere tödliche Anschläge in Deutschland, bei denen der Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und der Generalbundesanwalt Siegfried Buback (beides im Jahr 1977) ermordet wurden, seien auch in Österreich ein Weckruf gewesen, erinnert sich Werle: „Man hat gesehen, wir sind wirklich keine Insel der Seligen. Eine Sondereinheit würde uns nicht schlecht anstehen.“

„Zeit, Klartext zu reden“
In einem Zeitungsinterview verwies der damalige Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit aber rasch auf das bestehenden Gendarmeriebegleitkommando Wien und sagte: „Wir haben ja in Zwölfaxing eine Spezialeinheit.“ „Ich habe mir gedacht, um Gottes willen, und dann zu meinem Kollegen gesagt, es ist höchste Zeit, dass wir ins Ministerium fahren und Klartext reden“, erzählt Werle. Denn den Anforderungen an eine Spezialeinheit konnte man damals „nicht genügen“.

Die Reaktion des Generaldirektors: „Meine Herren, machen sie ein Konzept.“ Der Aufbau war aber alles andere als einfach. „Es war nichts da. Weil man uns nicht gekannt hat, war die GSG 9 (Spezialeinheit der deutschen Bundespolizei, Anm.) anfänglich eher zurückhaltend und hat uns nur ein paar Blatt Papier überlassen.“ Auch die Ausbildungspläne des Bundesheeres halfen nicht weiter, weil ein Krieg etwas anderes „als eine Geiselnahme“ sei.

Auf dem Gebiet der Einsatztaktik waren laut Werle viele Fragen offen: Wie dringe ich in Räume ein? Wie nähere ich mich Objekten? Doch das Konzept überzeugte. 1978 wurde mit Beschluss der Bundesregierung das Gendarmerieeinsatzkommando Cobra gegründet. Am 1. April bezog es sein Quartier im Schloss Schönau.
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Anregungen wollte sich der Polizeioffizier auch bei der SAS (Special Air Service, Spezialeinheit der Britischen Armee, Anm.) in England holen, die ihm das Eindringen in Räume demonstrierten. Doch auf seine Frage, „ob dabei nicht die eigenen Kräfte sehr gefährdet sind“, bekam Werle die Antwort: „‚Das sind Soldaten, wenn es notwendig ist, müssen die für ihr Vaterland sterben.‘ Das konnte ich mit unserer Mentalität nicht in Einklang bringen.“

Der österreichische Weg
Werle entschloss sich deshalb für den „österreichischen Weg“, wie er im Interview mit noe.ORF.at sagt: „Zielorientiert, aber nicht menschenverachtend.“ Den Großteil der Ausbildung habe man als Team deshalb selbst gestaltet. „In der Ausbildung haben wir Situationen vorgegeben, es aber den Teilnehmern offen gelassen, wie sie das Problem lösen. Über die Fehler hat man anschließend diskutiert. So hatten alle Teilnehmer das Gefühl, wir haben gemeinsam etwas erarbeitet. Das schafft Vertrauen.“

„Sehr gut“ für Anregungen waren die Delta Force – eine Spezialeinheit der US Army – und die Grenadiere, eine kleine Spezialeinheit des Kantons Aargau in der Schweiz. „Die übten sehr realitätsbezogen – Zugriffe auf Autobahnen, Schusswechsel in bewohntem Gebiet sowie Scharfschießen beim Eindringen in gekennzeichnete Täterräume.“ Begeistert hätten ihn auch die Fähigkeiten israelischer Offiziere.

Bundeskanzler Kreisky: „Macht’s die Fenster“
Darüber hinaus kamen in dieser Zeit auch neue Aufgaben hinzu wie der Personenschutz. Das betraf etwa Bundeskanzler Kreisky, der laut Werle zunächst aber nicht wollte, dass in seiner Wohnung beschusssicheres Glas eingebaut wird, weil das zu teuer sei. „Ich habe deshalb einen unserer Präzisionsschützen in ein gegenüberliegendes Wohnhaus hineingeschickt. Gleichzeitig hat jemand von uns am Frühstückstisch Platz genommen, den hat der Scharfschütze ins Visier genommen und davon ein Foto geschossen. Das Foto habe ich Kreisky gezeigt und seine Reaktion war: ‚Macht’s die Fenster.‘“

Den ersten Einsatz mit Geisellage hatte die Cobra im Juni 1980 in Graz. Ein 35-jähriger Mann war mit einem Gewehr in die Ordination eines Hautarztes eingedrungen und hatte 23 Geiseln genommen. Zunächst versuchte man den Täter hinzuhalten und zu ermüden. Am Ende wurde die Ordination gestürmt und der Mann erschossen. Bei diesem Einsatz wurden aber erste Mängel festgestellt, so funkten etwa die lokale Polizei und die Sondereinheit auf verschiedenen Frequenzen.

Blutiger Anschlag in Schwechat
Fünf Jahre später erschütterte der nächste Terroranschlag das Land – dieses Mal am 27. Dezember 1985 am Flughafen Wien-Schwechat. Die traurige Bilanz: Drei tote Passagiere, ein erschossener Terrorist, zwei schwer verletzte Palästinenser und etwa 50 weitere Verletzte. Drei Palästinenser hatten den Check-in-Schalter der israelischen Fluglinie El Al im Visier.

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Drei Tote und mehr als 40 Verletzte: Das ist die Bilanz eines Terroranschlags am Flughafen in Schwechat
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Die Abflughalle des Flughafens in Schwechat am 27. Dezember 1985

Kurz nach 9.00 Uhr rollten die Terroristen Handgranaten in Richtung des Abfertigungsschalters, wo der Check-in gerade in vollem Gang war. Während die Sprengkörper detonierten, begannen die Terroristen aus ihren Kalaschnikow-Sturmgewehren zu feuern. Sie wollten die überlebenden Passagiere als Geiseln nehmen und das entführte Flugzeug beim Überflug über Israel sprengen.

Die Attentäter hatten aber die Sicherheitsmaßnahmen unterschätzt: Österreichische Polizisten und israelische Sicherheitsbeamte erwiderten sofort das Feuer, ein wilder Schusswechsel begann. Einer der Terroristen wurde dabei getötet, die beiden anderen gaben auf, der Terrorüberfall war zu Ende. Die Cobra-Beamten waren damals aber nicht involviert, „weil der Flughafen – mit Ausnahme der El Al-Flüge – Hoheitsgebiet der Polizei-Einsatzstelle (PEST) war“, erklärt Werle.

Flugzeugentführung gestoppt
Dafür ist die Cobra nach wie vor die einzige Antiterroreinheit der Welt, die eine Flugzeugentführung noch in der Luft beenden konnte. Im Oktober 1996 wollte ein Nigerianer ein russisches Flugzeug mit Schubhäftlingen entführen. An Bord waren damals aber auch vier Spezialkräfte, die den Täter noch während des Fluges überwältigen konnten. Für diesen Einsatz wurden die Beamten später vom russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin ausgezeichnet.

Mit solchen und vielen anderen erfolgreichen Einsätzen weckte die Spezialeinheit auch das Interesse aus dem Ausland, so war etwa der saudi-arabische Kronprinz zu Gast. Werle erinnert sich auch an eine Delegation der bewaffneten Polizei Chinas. Die Beamten seien so begeistert gewesen, dass der Polizeioffizier später selbst für drei Wochen nach China eingeladen wurde und ein Seminar über die Ausbildung hielt.

Tragischer Einsatz in Annaberg
Neben vielen erfolgreichen und spektakulären Einsätzen wie auch die Geiselbefreiung in der Justizanstalt Graz-Karlau gab es auch traurige, Stichwort Annaberg. Am 17. September 2013 erschoss der Wilderer Alois H. vier Menschen: Neben einem Sanitäter auch zwei Polizisten und einen Beamten der Cobra. „Das wirkt nach, das werde ich mein Leben lang nicht vergessen“, sagt der Direktor für Spezialeinheiten, Bernhard Treibenreif Jahre später in einem Interview.
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Hauptsitz der Cobra in Wiener Neustadt

Seit 1992 hat die Cobra ihren Hauptsitz in Wiener Neustadt, dazu kommen sieben Außenstellen, sodass jeder Einsatzort in Österreich innerhalb von einer Stunde erreicht werden kann. Die 350 Cobra-Beamten werden jährlich zu 4.300 Einsätzen gerufen. Neben der Bekämpfung von Terrorismus betrifft das auch die Begleitung von Flugzeugen durch sogenannte Air Marshals, den Personenschutz, die Entschärfung von verdächtigen Gegenständen und die Observation.

Der Name des Einsatzkommandos geht übrigens auf die Fernsehserie „Kobra, übernehmen Sie“ zurück. Denn schon zu Beginn des Gendarmeriekommandos Bad Vöslau wurde laut Werle ein Funkrufname gesucht. „Wir wollten eigentlich etwas Unverfängliches, nichts martialisches“, erzählt Wehrle. Ein Journalist betitelte damals einen Artikel über die Spezialeinheit eben mit dem Seriennamen. Seither war das Einsatzkommando im Volksmund als Cobra bekannt.
„Sind sehr, sehr wachsam“
Heute gehört das Einsatzkommando zu den besten Anti-Terror-Einheiten der Welt. „Die globale Sicherheitslage in Österreich ist eine sehr gute, aber wir können uns von internationalen Entwicklungen, sprich Extremismus und Terrorismus, nicht verabschieden und sind hier sehr, sehr wachsam“, sagte der Direktor für Spezialeinheiten, Bernhard Treibenreif, anlässlich des 40-jährigen Jubiläums im Jahr 2018.

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Die Cobra-Beamten trainieren in regelmäßigen Abständen die verschiedenen Bedrohungsszenarien
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Auch das Zusammenspiel aus der Luft wird geübt


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Im Einsatz müssen sich die Beamten aufeinander verlassen können

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Die Bedrohungsszenarien seien in all den Jahren dieselben geblieben, aber viele Täter agieren heute spontan. "Sie werden durch das Internet oder Foren aktiviert, und plötzlich bricht ein Sturm über die Bevölkerung herein. Als Polizei kann man darauf nur abrupt bzw. spontan reagieren“, ergänzte damals Gerald Haider, Pressesprecher der Cobra.

Die Spezialeinheit ist deshalb heute auch international stark vernetzt und Mitglied im ATLAS-Verbund, einem Netzwerk wichtiger Spezialeinheiten von 38 Mitgliedsstaaten. Über diese Plattform würden Erfahrungen und neue Bedrohungsszenarien laufend ausgetauscht, regelmäßig finden auch gemeinsame Übungen statt.

Die körperliche und technische Ausbildung der Cobra-Beamten habe sich über all die Jahre nur wenig verändert, erzählt Werle. Die Taktik als auch die technische Ausstattung erlebten aber durchaus einen großen Wandel. Statt Fernglas und Spiegel operieren die Beamten heute mit Drohnen und Wandradaren. Speziell in diesem Bereich gilt es auch am „Puls der Zeit“ zu sein, denn wie laut Werle habe auch der Anschlag im November 2020 in Wien gezeigt: „Österreich ist keine Insel der Seligen.“
08.07.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at

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Geiselnahme löst blutige Terrorwelle aus
 

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#66
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Neue Einkaufsstadt versetzt Händler in Panik
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1976 beginnt für den heimischen Handel eine neue Ära. In Vösendorf eröffnet die erste Einkaufsstadt in Österreich: die Shopping City Süd (SCS). Viele kleine Händler fürchteten damals um ihr Geschäft. Auch Wien ist die SCS seit jeher „ein Dorn im Auge“.
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500 Meter lang, 230 Meter breit, und eine zwei Kilometer lange Ladenfront, die sich über zwei Etagen erstreckt – mit der Eröffnung der SCS am 22. September 1976 war unmittelbar vor den Toren Wiens eine der größten Einkaufsstädte Europas entstanden. Gleichzeitig begann damit in Österreich eine neue Ära: das Zeitalter der Hypermärkte.

Bereits kurz nach der Eröffnung waren die 5.300 Parkplätze besetzt, die Shopping City wurde von den Konsumentinnen und Konsumenten förmlich gestürmt. Billiggeschäfte wie Carrefour und elegante Fachgeschäfte waren hier unter einem Dach vereint. Hans Dujsik, SCS-Geschäftsführer, rechnete mit dem sicheren Erfolg: „Der große Handel aus dem Ausland hat diese Gelegenheit wahrgenommen, um auch in Österreich Fuß zu fassen.“

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Blick auf die Baustelle: Hier entsteht die SCS vor den Toren Wiens

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1976 wurde die Shopping City feierlich eröffnet

Pionierarbeit
„Die Idee war für die damalige Zeit relativ jung und eine Pionierarbeit“, erzählt Hannes Lindner, Geschäftsführer des Badener Beratungsunternehmens „Standort + Markt“. Das Konzept kam – wie vieles in dieser Zeit – aus den Vereinigten Staaten: „Ein großes Einkaufszentrum an einem Autokunden-orientierten Standort.“ Und das Konzept schlug ein.

Die Planungen dafür begannen bereits Anfang der 1970er-Jahre. Inmitten von Ackerland und aufgelassenen Ziegelteichen wollte Unternehmer Hans Dujsik im Süden von Wien eine Einkaufsstadt entstehen lassen. Vorbild war damals die Südstadt, sagt Lindner. Dort war in den 1960er-Jahren ein komplett neuer Stadtteil für etwa 5.000 Menschen entstanden. Mittendrin – wenn auch wesentlich kleiner – wurde ein erstes Einkaufszentrum errichtet.
SCS setzt neue Maßstäbe
Mit dem Beginn der 1970er Jahre öffneten schließlich die ersten Großmärkte: 1970 war zunächst das DEZ in Innsbruck an der Reihe, mit 11.000 m² Verkaufsfläche, fünf Jahre später folgte das Donauzentrum in Wien, das etwa die doppelte Verkaufsfläche bot. Mit der Eröffnung der SCS wurden in Österreich aber neue Maßstäbe gesetzt: 80.000 Quadratmeter Verkaufsfläche und 160 Geschäfte.

Für viele Kundinnen und Kunden bot die SCS ein völlig neues Einkaufserlebnis. So war die SCS etwa vom Bau weg vorwiegend auf den Autoverkehr ausgerichtet, wodurch man den Einkauf bequem nach Hause bringen konnte. 1977 wurden bereits an die 7,5 Millionen Besucherinnen und Besucher gezählt. Die Shopping City selbst rechnete zu Beginn mit einem Jahresumsatz von etwa drei Milliarden Schilling. Nach sechs Jahren sollte dieses Ziel auch erreicht werden.

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Zu Beginn war die Shopping City Süd noch etwas kompakter
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Die Shopping City Süd bekam von den Behörden sogar eine eigene Ortstafel

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Parkplätze 1976

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Furcht und Panik
Während die Geschäfte und Großmärkte in der Shopping City Süd mit Sonderangeboten lockten, fürchteten die Gewerbetreibenden und Einzelhandelsgeschäfte in den Bezirken Mödling und Baden die übermächtige Konkurrenz ausländischer Konzerne. Deren kühne Umsatzerwartungen versetzten eingesessenen Händler in und um Wien gar in Panik. Intern wurden Maßnahmen gegen den beginnenden Vernichtungswettbewerb im Handel besprochen.

Nach außen hin gab man sich trotz allem zuversichtlich: „Wir können uns wehren“, meinte damals etwa Lebensmittelkaufmann Hans Rataj, „wir werden nicht nur so wie bisher verkaufen, sondern auch unseren Kundenservice intensivieren und Ware, die in Supermärkten besonders günstig angeboten wird, aus unseren Regalen nehmen.“ Befürchtung, dass Kunden abwandern, habe man nicht, meinte er.

Die Lebensmittelkette Konsum reagierte auf die Eröffnung der SCS allerdings mit einem Ausbaustopp ihrer Märkte in Wien und startete in Niederösterreich eine gezielte Kampagne mit Angeboten, um der Abwanderung Richtung Hypermarkt einen Riegel vorzuschieben. Konsum-Direktor Hans Purzer warnte bereits damals vor einem zu großen Flächenangebot: „Dadurch entsteht ein Sog, der Kaufkraft und Steuerkraft absaugt.“

Liefer-Boykott
Auch das Carrefour-Warenhaus mit seinen 38.000 Artikeln, das die meiste Fläche in der SCS inne hatte, bekam den Ärger zu spüren. An die 20 Herstellerfirmen hatten den Konzern mit einer Liefersperre belegt. SCS-Betreiber Dujsik konterte damals auf die Frage, ob er mit der SCS das Greißler-Sterben vorantreibe: „Ich glaube nicht, dass ich es bin, der den Greißlern den Tod wünscht, ich liebe meinen Greißler.“


Greißlermuseum
Viele kleine Greißler fürchteten wegen der SCS um ihr Überleben

Doch auch in der SCS war anfangs nicht alles Gold, was glänzt, weiß Lindner: „Was man am Anfang geglaubt hat, dass es sofort ein durchschlagender Erfolg wird, hat wohl länger gedauert.“ Nach einigen Jahren musste etwa Carrefour die Segel streichen. Das Konzept Hypermarkt sei in Österreich nicht angenommen worden, hieß es. Lindners Begründung heute: „Die Fachgeschäftswelt in den Wiener Einkaufsstraßen war sehr gefestigt. Gegen die Beratung war schwer anzukommen.“

Mödling leidet unter Konkurrenz
Anders war die Situation in Mödling. Die Stadt litt stark unter der SCS, erzählt Lindner: „Mödling hat sich dadurch nicht entwickeln können, wurde klein gehalten und hat über Jahre mit massiven Leerständen zu kämpfen gehabt.“ Baden und andere Orte spürten die Auswirkungen ebenfalls, wenn auch nicht so stark. Als Reaktion entstanden damals verstärkt Ortsmarketing-Kampagnen wie „Fahr nicht fort, kauf im Ort“.

Aus Sicht der SCS war das Wiener Hinterland damals aber ohnehin noch „ein zartes Pflänzchen, noch nicht so dicht besiedelt, wie wir es heute kennen“. Deshalb habe man von Beginn an auf das Wiener Publikum geschielt – was der Wiener Politik „über lange Zeit ein Dorn im Auge war“, erzählt der Handelsexperte, „weil es unlustig ist, direkt an der Stadtgrenze einen Konkurrenten zu haben, der aufzeigt und immer größer wird.“
Um Kosten zu sparen, wurde die Shopping City außerhalb Wiens errichtet. Damit floss und fließt allerdings viel Kaufkraft nach Niederösterreich. Daraus erklärt sich laut Lindner auch die zwiespältige Haltung der Wiener Landesregierung gegenüber der SCS, etwa die mangelhafte Anbindung durch die Wiener „Öffis“ – nach dem Motto: „Wenn sie es schon dort errichten, sollen die Wiener bitte mit dem Auto hinfahren, aber wir müssen sie nicht mit der U-Bahn hin karren.“

Pkw-abhängige Strukturen
Das sei zwar eine verständliche Sichtweise, meint Lindner, die aber zu einer höheren Verkehrsbelastung führt und auch die Raumprobleme nicht löst. Ob der Bau am Stadtrand sinnvoll gewesen sei, sei eine andere Frage, sagt Lindner. Doch damit wurden erste Strukturen aufgebaut, die uns „vom Pkw abhängig machten.“ Jenen, die meinen, die SCS hätte man sich überhaupt sparen können, stellt Lindner die Frage: „Wo bringen sie solche Flächen in einer Stadt unter?“

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Die Shopping City Süd war von Beginn an auf den Autoverkehr ausgelegt

Den Konsumentinnen und Konsumenten waren die Grenzen damals – wie auch heute – jedenfalls egal. Nicht zuletzt deshalb, weil der Wohlstand der Bevölkerung damals generell anstieg und die Kaufkraft massiv wuchs. „Die Leute haben begonnen, richtig zu konsumieren“. Dadurch stieg die Nachfrage nach unterschiedlichen Geschäften mit einer großen Auswahl. Vom Kaufkraftanstieg profitierten übrigens auch viele Händler in den Geschäftsstraßen.

Streit um Ladenöffnung
Doch nur kurze Zeit nach der Eröffnung entfachte ein neuer Streit zwischen den SCS-Betreibern auf der einen Seite und den eingesessenen Händlern der traditionellen Einkaufsstraßen sowie der Gewerkschaft auf der anderen Seite. Geschäfte, in denen Lebensmittel verkauft wurden, durften damals nämlich bis 18.30 Uhr offen halten, alle anderen nur bis 18.00 Uhr. In der SCS wurden sämtliche Waren bis 18.30 Uhr verkauft.
„Wir sind der Auffassung, dass wir ein Haus als Einheit sind, in dem Lebensmittel geführt werden, und deshalb dürfen wir offen halten“, erklärte Dujsik. Die Arbeitnehmer-Vertreter sahen das natürlich anders, denn jede Verlängerung erhöhe die Preise und schädige den Konsumenten, beklagte Franz Kulf, Zentralbetriebsobmann der Warenhausgesellschaft: „Wir werden alle Möglichkeiten ausschöpfen und uns zur Wehr setzen, nötigenfalls auch mit Streik.“ Am Ende gewann die Kaufkraft der Konsumenten.

Die SCS habe für sich „die Zeichen der Zeit immer rechtzeitig gedeutet und die nächste Erweiterungsstufe gezündet“, meint Hannes Lindner. Am 2. Oktober 1988 setzte man einen Schritt Richtung Süden: Auf einer zusätzlichen Verkaufsfläche von 40.000 m² zogen weitere 70 neue Shops und Gastronomiebetriebe ein. Das Möbelhaus IKEA wurde direkt an die Mall angebunden. Außerdem wurde ein Bürocenter gebaut.

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Die SCS wurde in den fast 50 Jahren ihres Bestehens mehrmals erweitert
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Einkaufszentren boomen
In dieser Phase entwickelte sich nicht nur die SCS, sondern auch viele Bezirkshauptstädte in Niederösterreich wuchsen massiv. Ein Beispiel war der Raum Wiener Neustadt, wo es damals noch eine starke Innenstadt und eine immer größer werdende Peripherie u.a. mit dem Fischapark gab. Zu Spitzenzeiten umfasste das Einzugsgebiet laut Lindner an die 270.000 Einwohner. „Das war gewaltig, entsprechend hoch ist heute auch das Flächenaufkommen.“
Das Problem: Über die Jahre hinweg wurden die Ränder des Einzugsgebiets wieder von anderen Konkurrenten wie Fachmarktzentren „angeknabbert“. So entstanden in Neunkirchen der Panoramapark oder ein Zentrum in Leobersdorf (Bezirk Baden). „Dadurch entstehen dann Überkapazitäten, wie es im Raum Wiener Neustadt schon absehbar ist“, meint Lindner.

Fluch und Segen
Auch in den meisten anderen größeren Städten Niederösterreichs entstanden in den folgenden Jahren Einkaufszentren, oft jedoch auf der grünen Wiese am Stadtrand. „Der Boom der Einkaufszentren ist Fluch und Segen zugleich“, sagt der Experte für Raumordnung und Regionalentwicklung, Thomas Knoll. „Für die Menschen stieg das Angebot, gleichzeitig sind sie ein Beitrag zur Schwächung der Stadtzentren als historisch gewachsene Einkaufsstandorte.“

Ab der Jahrtausend-Wende entwickelten sich solche Zentren vom reinen Handelszentrum vermehrt zu Zentren für Unterhaltungs- und Freizeiterlebnisse. In der SCS wurden etwa ein Kinocenter mit neun Sälen, Bars und Gastronomie-Betriebe sowie eine Disco eröffnet. „Shops alleine haben nicht mehr ausgereicht. Die Einkaufszentren haben versucht, sich als urbane Entertainment-Center zu positionieren“, sagt Handelsexperte Lindner.

Umstrittener Titel
Heute umfasst das größte Einkaufszentrum Österreichs eine Verkaufsfläche von 235.000 Quadratmetern. Die SCS verfügt über etwa 330 Geschäfte mit 4.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ob es sich bei der SCS um das größte Einkaufszentrum Europas handelt, ist eine Streitfrage, da gemessen an Besucherzahl, Verkaufserlösen oder Verkaufsfläche mehrere Einkaufszentren diesen Titel für sich beanspruchen.

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1998 wurde die SCS um ein Kinocenter, Bars und Gastronomie-Betriebe sowie eine Disco erweitert

Dass die Shopping City Süd an einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte Mitteleuropas liegt, ist ihr größter Vorteil. Mehr als 150.000 Autos passieren täglich die SCS. Im Einzugsgebiet von einer Stunde Fahrzeit leben mehr als drei Millionen Menschen. Im Jahr 2016 verzeichnete man laut Angaben auf der eigenen Homepage mehr als 20 Millionen Besucherinnen und Besucher.

Das letzte Shopping Center
In Niederösterreich dürfen mittlerweile auf der grünen Wiese keine neuen Einkaufszentren mehr gebaut werden. Das verbietet seit 2005 das Raumordnungsgesetz, zum einen wegen des hohen Bodenverbrauchs, zum andern, um die Innenstädte nicht weiter zu schwächen. Als letztes großes Shopping Center eröffnete 2014 das G3 in Gerasdorf (Bezirk Korneuburg). Neben Einkaufszentren entstanden aber vor allem kleinere Fachmarktzentren.

„Die Flächen sind bereits massiv“, gibt auch Hannes Lindner zu. Bis zu 40 Prozent der Umsätze, die in Österreich getätigt werden, betreffen Fachmarktzentren. Diese sind für den Experten aber die Antwort auf eine Siedlungsstruktur, „die wir selber geschaffen haben. Der Handel ist nicht blöd, er setzt sich genau dorthin, wo er das Feld abgrasen kann, wo er Kunden findet.“

„Lieblose, dysfunktionale“ Fachmarktzentren
Auch wenn viele solcher Fachmarktzentren nach außen hin „dysfunktional wirken“ und „lieblos in der Landschaft stehen“, stellen sie heute die moderne Nahversorgung dar. Effizienter wären laut dem Experten zwar große Retail-Parks, die besser geplant sind, „aber das unterbindet teilweise wieder die Raumordnung“. Zudem „hängen wir mittlerweile praktisch am Tropf unseres Pkw, der uns überall hinbringen soll.“
Die Gründe: Einerseits sei die Raumordnung einst „zahnlos“ gewesen, andererseits hätten professionelle Anwaltskanzleien Schlupflöcher gefunden und das umgesetzt, was der Projektentwicklungsmarkt oder Händler verlangt hätten. Die Fehler könnten heute zum Teil gar nicht mehr korrigiert werden, meint Lindner.

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Ein Vorteil der SCS ist die Lage an einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte Mitteleuropas

Die Schuld auf die Raumordnung abzuschieben, sei trotzdem zu kurz gegriffen. „Die Entwicklung zwischen 1970 und 2010 war so rasant, dass man sich förmlich anschnallen hätte müssen. Jetzt müssen wir damit auskommen und aus den Fehlern lernen.“ Denn letztlich gilt seit jeher das einfache Prinzip: Der Konsument hat Geld, das er verkonsumiert will. Der Händler will die Ware möglichst nah an den Konsumenten bringen.

Online-Handel trifft alle
Eine Entwicklung, die sowohl den Geschäften in den Innenstädten als auch in den Einkaufszentren zusetzt, ist der Online-Handel, dessen Marktanteil in den vergangenen Jahren deutlich stieg. In den Innenstädten reduzierten sich aus diesem Grund die Flächen von Textilhändlern von 33 auf 28 Prozent. Ob damit eine Bodenbildung erreicht sei, ist laut Lindner offen.

Viele Geschäfte stehen jedenfalls leer, viele Gemeinden reagieren darauf nicht selten mit speziellen Förderungen, um neue Händler anzulocken. Lindner ist hingegen der Meinung, „dass man dem Handel nicht zwangsläufig nachlaufen und sich verrenken muss.“ Zwar dürfe man auf den Handel langfristig nicht vergessen. Doch vorübergehend können auch Gastro-Betriebe oder Dienstleister leerstehende Flächen nutzen. Gleichzeitig müssten Flächen für den modernen Handel attraktiv gestaltet sein.

Erfolgreich etabliert
Ein erfolgreiches Beispiel, wie sich eine Innenstadt gegen ein Einkaufszentrum behaupten kann, ist laut Lindner ausgerechnet Mödling. Durch die Konkurrenz am Stadtrand musste man sich dort seit jeher schon anders orientieren. In den vergangenen Jahren habe das Stadtmarketing verstärkt auf einen nahversorgungsorientierten Handelsmix mit einem hohen Gastro- und Dienstleiter-Anteil gesetzt. Die Leerstandsrate liegt bei zwei

Und auch E-Commerce bietet gerade belebten Innenstädten eine Chance, etwa Baden. Hier wird laut Lindner bereits abgewogen: „Fahre ich in die SCS oder shoppe ich im Internet?“ Die Zeit, die man sich durch das Online-Shoppen erspart, „kann man letztlich in der Stadt verbringen und merkt, dass die Stadt auch einiges zu bieten hat.“ Die Zukunft für solche Städte sieht der Experte „gar nicht zu schlecht“ und „entwicklungsfähig“.

„Dann muss es clashen“
Während Fachmarktzentren also boomen und Innenstädte mit Rückgängen kämpfen, stagnieren große Shopping-Zentren derzeit in ihrer Entwicklung. Zwar spüre man ebenfalls den Druck auf die Bekleidungsbranche, aber Lindners Eindruck ist: „Man will nicht alles im Internet einkaufen, man will auch hinaus gehen. Dann aber muss es ‚clashen‘, das Angebot in Hülle und Fülle da sein, sodass man sich richtig austoben kann.“

Unter diesem Wunsch würden vor allem mittelgroße Zentren leiden, die nicht alle großen Modehändler haben, sondern nur eine eingeschränkte Auswahl. „Die werden eher übersprungen, da bleibe ich lieber auf der Couch sitzen“, meint der Experte. Um die großen Einkaufszentren wie die SCS, die immer stärker auf den Erlebnischarakter setzen, macht er sich hingegen keine Sorgen.

Doch egal ob groß oder klein – letztlich müssen die Zentren den Händlern Frequenz bieten. Die nächste Entwicklungsstufe sieht Lindner in der Multifunktionalität. „So werden auch ärztliche Einrichtungen integriert, was aber nicht zur Freude der örtlichen Bürgermeister ist, die wieder Frequenz in der Innenstadt verlieren.“ Teilweise werden solche Konzepte bereits ausgearbeitet oder umgesetzt.

Sind wir glücklich mit der Entwicklung?
Sind wir glücklich mit der Entwicklung, stellt sich Hannes Lindner nach der Analyse des aktuellen Zustands selbst die Frage. „Wir sind selber schuld“, konstatiert er: „Unsere Siedlungsstrukturen schauen so aus, der Handel findet die Antwort selbst und siedelt sich dort an, wo Konsumenten und Verkehr ist. Alle wollen eine nahegelegene Nahversorgung aber im Grünen leben.“

Für Lindner befinden wir uns in einem spannenden Zeitraum, in dem wir das Übermaß verstehen und hinterfragen, ob das alles sinnvoll war. „Wir waren Konsumhelden. Von 1970 bis 2015 haben wir uns sehr stark treiben lassen und jetzt sind wir gezwungen umzudenken.“ Was brauchen wir wirklich? Wo müssen wir uns zurückentwickeln oder Dinge anders nutzen? Die Bevölkerung transformiere sich zunehmend zur Wissensgesellschaft, wo nur noch bedingt produziert werde.

„Es ist eigenartig, von der Konsumwelt die letzte Welle geritten zu haben“, meint Lindner fast schon etwas philosophisch. Diese Entwicklung sei aber kein Schlammassel, vielmehr eine aufregende Zeit: Was ist überlebensfähig, welchen Stellenwert darf Konsum in Zukunft haben, wie stellt sich das auf der Fläche dar. „So wie wir es erlebt haben, wird es wohl nicht sein, das wird sich ändern. Wie? Da sind wir momentan dran, uns das zu überlegen.“
11.07.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.O
Neue Einkaufsstadt versetzt Händler in Panik
 

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#68
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Die Textilindustrie schlittert in die Krise - Teil 1
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Die Geschichte des Waldviertels ist eng mit der Textilindustrie verwoben. Ab den 1970er-Jahren schlitterte die Branche allerdings in die Krise. Tausende Jobs gingen verloren, weil Firmen in Billiglohnländer abwanderten. Doch es gibt eine Handvoll „Lichtblicke“.
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Die 1960er-Jahre waren eine prosperierende Phase für die Textilhochburgen des nördlichen Waldviertels, wie etwa für Groß-Siegharts (Bezirk Waidhofen an der Thaya). Am Höhepunkt arbeiteten an die 1.200 Menschen in den sieben örtlichen Bandwebereien. Einige Textil- und Bekleidungsunternehmen gründeten zudem in den Bezirken Waidhofen an der Thaya und Gmünd Zweigwerke. Arbeit fanden vor allem Frauen.
Der Lokalhistoriker Hans Widlroither erinnert sich noch an einige Aussagen von älteren Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohnern, als er in den 1960er-Jahren selbst einen Arbeitsplatz suchte: „Gehst in die Fabrik oder in den Konsum, lässt dir nichts zuschulden kommen, kannst dort in Pension gehen.“ Seit Mitte des 19. Jahrhunderts galten die Betriebe der Textilbranche für die Bewohnerinnen und Bewohner als sicherer Arbeitsplatz.

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In der Textilbranche fanden einst auch viele Frauen einen Job
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Weber, die hauptsächlich Männer waren, waren jedoch besser bezahlt

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Im Waldviertel gab es fast in jeder Familie jemanden, der in der Textilbranche tätig war

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Die Arbeiten wurden im Akkord meist in zwei Schichten erledigt

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Anfang des Niederganges
Ab 1973 hatte die Weltwirtschaftskrise allerdings auch einen Einbruch in der Waldviertler Textilindustrie zur Folge. „Es ist der Anfang des Niederganges“, sagt Andrea Komlosy, Professorin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. „Die Krise führt zu einer neuen internationalen Arbeitsteilung, Jobs werden nach und nach in Billiglohnländer ausgelagert, vor allem nach Ostasien und in osteuropäische Länder.“

Im Alltag führte das zu der kuriosen Situation, „dass das Garn bei uns teurer angekommen ist, als das fertig gelieferte Produkt aus Asien“, erinnert sich Ulrich Achleitner, heute Bürgermeister von Groß-Siegharts und Geschäftsführer eines Textilbetriebs. Im Waldviertel mussten in den folgenden Jahren viele Betriebe Konkurs anmelden, tausende Jobs verschwanden. „Das hat jeder gespürt, weil fast jeder jemanden hatte, der in der Textilindustrie tätig war.“

Als Beispiel nennt Komlosy das Traditionsunternehmen Patria, das in Heidenreichstein (Bezirk Gmünd) und Waidhofen an der Thaya Textilwaren produzierte. Die Firma stellte dort 1974 die Feinstrumpfproduktion ein und verlegte sie nach Rumänien. 1977 verschärften sich die wirtschaftlichen Probleme der Firma. 1978 ging Patria in Konkurs, fast 1.000 Beschäftigte waren betroffen.

Jahrhundertealte Tradition
Dabei war die Textilbranche im nördlichen Waldviertel bis dahin mehr als jahrhundertlang eine sichere Bank. In Groß-Siegharts reicht der Ursprung sogar bis ins 18. Jahrhundert zurück: Bis zum Jahr 1720 war Groß-Siegharts ein 55 Häuser umfassender Ort, doch der damalige Herrschaftsbesitzer Johann Christoph Graf von Mallenthein ließ hier die erste Textilmanufaktur errichten und berief 200 schwäbische Siedler in den Ort.

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Weberhäuser in Groß-Siegharts, um 1900

Der Textilindustrielle begann einen Fernosthandel, ließ Stoffe wie Seide und Baumwolle ins Waldviertel bringen und sie dort verarbeiten. Unter Mallenthein wurden dafür an die 200 Weberhäuser errichtet, in denen die Arbeiter wohnen durften. „Dafür mussten sie Tag und Nacht arbeiten, um ihr Soll zu erfüllen“, erzählt Widlroither. Dabei halfen meist auch Großeltern und Kinder mit.

Das Geschäft lief gut, bis ein Kompromiss zwischen den Habsburgern und anderen europäischen Herrschaftsgeschlechtern den Handel beendete, denn Kaiser Karl VI. hatte damals keinen männlichen Nachfolger. „Der Kompromiss war: Maria Theresia kann als Frau Nachfolgerin werden, aber dafür wird der Fernosthandel eingestellt“, erklärt Widlroither. Für Mallenthein bedeutete das den Ruin, der Rohstoffimport war unterbunden und die vielen Hauswebereien waren auf heimische Stoffe wie Leinen oder Schafwolle angewiesen.

„Bandlkramer“ ziehen durchs Land
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erlebte nicht nur Groß-Siegharts, sondern die ganze Region einen Aufschwung und wurde als „Bandlkramerlandl“ bekannt. Die im Waldviertel gewebten Bänder wurden von „Kramern“, also fahrenden Händlern, in ganz Mitteleuropa verkauft. Zudem entstanden in den Bezirken Gmünd und Waidhofen die ersten Textilfabriken, vor allem Webereien. Erzeugt wurden Kleider- und Möbelstoffe sowie Strick-, Wirk- und Frottierwaren.

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Bandlkramer aus Groß-Siegharts, die im 19. Jahrhundert in ganz Mitteleuropa unterwegs waren

Vor allem der immer größere Bedarf nach günstigen Betriebsflächen und billigen, aber mit der Textilherstellung vertrauten Arbeitskräften machten das Waldviertel zu einem begehrten Standort. In dieser Zeit wurden die großen Textilfabriken in Waidhofen und Groß-Siegharts/Dietmanns sowie in Heidenreichstein, Schrems, Weitra (alle Bezirk Gmünd) und Gmünd gegründet und waren mit bis heute bekannten Namen wie Adensam, Hetzer, Backhausen, Baumann oder Hackl verbunden.

Aufschwung für die ganze Region
„Für die Leute war es ein gewisser Aufschwung, sie hatten wieder Arbeit, und das in geheizten und beleuchteten Räumen“, sagt Widlroither. Das zog dank der guten Anbindung über die Franz-Josefs-Bahn nicht nur Einheimische an. „Dort, wo Straßen und Schienen hingehen, tut sich was“, meint Achleitner, „und das Know-how war in der Bevölkerung da.“ Die Firma Adensam war damals mit etwa 500 Beschäftigten der größte Textilbetrieb der Donaumonarchie.

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Die Teppich- und Möbelstoffwerke (Vordergrund), im Hintergrund die Firmen Adensamer (links) und Leopolswagner (rechts)
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Heimweber Anton Schneider am Handwebstuhl, ca. 1930

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Fabrikenstraße um 1900, rechts Firma Leopold Wagner

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Herstellung von Winterhilfswerkabzeichen in der Firma Adensamer, 1938

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Firma Brüder Silberbauer (Bildmitte) ehemals Firma Hetzer, 1887

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Die Firmenzentrale Brüder Silberbauer im Gegensatz dazu heute

In dieser Zeit gründeten auch die Vorfahren von Achleitner den Betrieb. Ursprünglich aus Wien, begannen sie zunächst in der Brauerei in Groß-Siegharts und übernahmen später eine ehemalige Seidenweberei. Das Sortiment war das gleiche wie in fast allen anderen Betrieben: Bandwebereien, Leinenbänder, Baumwollbänder, Verpackungen. „Der Betrieb ist stetig gewachsen.“

Gute und schlecht bezahlte Jobs
Ein Job in der Textilbranche war laut Thomas Samhaber vom Textilmuseum Weitra jedenfalls begehrt. Zwar wurde von den Beschäftigten viel Arbeitsleistung verlangt, „aber man konnte sich dadurch auch eine Existenz aufbauen, was sonst in ländlichen Gebieten nicht möglich war“. Weber – hauptsächlich Männer – seien seit jeher „sehr gut bezahlt“ worden, so Samhaber. Hilfsarbeiten wie Spinnen oder Wollefärben, die vorwiegend von Frauen ausgeführt wurden, waren „sehr schlecht bezahlt“.

Anders als in anderen Branchen schadete der Erste Weltkrieg und der Zusammenbruch der Monarchie der Waldviertler Textilindustrie kaum, mit dem Wegfall der Konkurrenz aus den ehemaligen Kronländern Böhmen und Mähren kam es sogar zu einem Aufschwung. Während des Zweiten Weltkriegs wurde Fallschirmseide produziert. „Man hatte immer irgendwelche Aufträge“, sagt der Lokalhistoriker.

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1952 wurde in Groß-Siegharts eine Textilfachschule eröffnet

Die Jahre des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg brachten einen neuen Boom im Textilbereich. Die Errichtung einer Textilfachschule am Standort Groß-Siegharts ab dem Jahre 1952 war ein deutliches Zeichen für die überragende Bedeutung der Textilindustrie. Die Zahl der Arbeitsplätze allein in dieser Branche belief sich auf über 2.000. Großbetriebe vermittelten einen Hauch von Hochkonjunktur.
Fortsetzung siehe Teil 2:
 

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#69
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Die Textilindustrie schlittert in die Krise - Teil 2

Billiglohnsegment wird spürbar
Allerdings rutschte die Textilerzeugung zunehmend in den Billiglohnbereich ab. Zu spüren bekamen das besonders Frauen in den Großschneidereien wie bei Respo in Weitra. Dort wurden laut Samhaber gezielt Frauen eingestellt, die ihre Schulausbildung abgeschlossen, aber noch keine Familie hatten: „Die wurden schnell angelernt und haben dann im Akkord gearbeitet, oft auch zwei Schichten. Sie haben wenig verdient, waren aber froh, dass sie überhaupt Geld bekommen haben.“

Kleine regionale Betriebe waren dem internationalen Kostendruck nicht mehr gewachsen und mussten schließen. Und das Waldviertel wurde vermehrt „als verlängerte Werkbank“ genutzt, erzählt Thomas Samhaber vom Textilmuseum Weitra. Die Firmenzentralen blieben meist in Wien – ohne wirkliche regionale Anknüpfung. Deshalb wurden die Standorte im Waldviertel auch als erstes geschlossen bzw. in billigere Regionen verlagert.

Umstellung „absichtlich versäumt“
In einigen Fällen wurde die Umstellung aber auch „absichtlich verschlafen“, weiß Achleitner. Denn in dieser Zeit gab es auch einen großen Technologiesprung in der Bandherstellung bzw. bei den Webmaschinen. „Die waren sehr produktiv, aber nicht so flexibel. Und dann ist der Umschwung gekommen, der teilweise auch absichtlich versäumt wurde, weil ohnehin kein Nachfolger da war.“ Einige hätten nur noch auf die Pension gewartet, ergänzt Widlroither, „weil sie gemerkt haben, das ganze floriert nicht mehr so, wie es einmal war“.

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Die Waldviertler Textilprodukte wurden wegen ihrer Qualität weltweit geschätzt

Generell sanken in den Bezirken Gmünd und Waidhofen an der Thaya die Beschäftigungszahlen in der Textil- und Bekleidungsindustrie dramatisch. 1971 arbeiteten in diesem Bereich noch mehr als 6.600 Menschen, 1977 waren es fast um ein Drittel weniger. Auch die Betriebe wurden immer weniger. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs verlagerten weitere Firmen ihre Produktion in osteuropäische Länder.

Eine Region dünnt aus
Für das nördliche Waldviertel hatten die vielen Schließungen teils gravierende Folgen. Viele vor allem junge Menschen waren zum Abwandern gezwungen. „Es gab keine Arbeit mehr, sie mussten sich außerhalb etwas suchen“, erzählt Widlroither. Außerhalb bedeutete in der Regel, dass für viele Wien zum neuen Lebensmittelpunkt wurde.

In Groß-Siegharts fiel die Einwohnerzahl von einst 4.000 um mehr als ein Drittel und erholte sich nur langsam. Heute hat die Stadt inklusive Katastralgemeinden etwa 2.800 Bewohnerinnen und Bewohner. Die Abwanderung wurde für unzählige Gemeinden des Waldviertels über Jahrzehnte zu einem stetigen Begleiter. Erst in den vergangenen Jahren – durch gezielte Kampagnen – stabilisierte sich die Situation.
Heute erinnern noch einige, großteils verfallene Fabrikshallen an die Hochblüte der Textilindustrie. Die goldenen Zeiten dieser Branche sind lange vorbei. In den letzten Jahren und Jahrzehnten wurden große Traditionsbetriebe geschlossen bzw. wanderten ab oder wurden übernommen, darunter beispielsweise Ergee oder auch Backhausen. Andere, wie der Traditionsbetrieb Baumann Dekor, schlitterten in die Insolvenz.

Der Billigkonkurrenz getrotzt
Gegenüber der harten Konkurrenz konnten einheimische Textilbetriebe nur mit Nischenprodukten und Qualität punkten. HERKA Frottier aus Kautzen (Bezirk Waidhofen an der Thaya) exportiert weltweit und gilt als einer der größten textilen Arbeitgeber im nördlichen Waldviertel. Der Betrieb erzeugt Frottierwäsche für Luxushotels, für die Filmfestspiele Cannes (Frankreich), Golfclubs und anspruchsvolle Kunden.

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Die Textilfabrik des Frottierhersteller Wirtex

Die Bandweberei Silberbauer aus Groß-Siegharts stellte hingegen ihre Produktpalette um. „Wir machen heute vorwiegend technische Gewebe aus Kohle- oder Glasfaser“, erzählt Geschäftsführer Ulrich Achleitner. Die Produkte kommen u.a. im Maschinen- oder Leichtbau, bei Elektromotoren in Schienenfahrzeugen oder im Trafobau zum Einsatz. „Überall dort, wo spezielle Motoren notwendig sind, die viel höhere Temperaturen aushalten müssen.“

Aus dem Waldviertel nach China
Produziert wird in der Gemeinde an drei Standorten, die Maschinen werden dafür teils selbst umgebaut. Es geht nicht um massenhafte Stückzahlen, sondern um individuelle Kundenwünsche. Die Produkte werden von der Firma Silberbauer in die ganze Welt geliefert – auch nach China. „Und das heißt für einen Textiler schon etwas, wenn man ein Produkt von Europa nach China liefert“, sagt Achleitner stolz. Heute beschäftigt der Betrieb an die 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Auch die anderen Waldviertler Frottierhersteller Framsohn aus Heidenreichstein und Wirtex aus Frühwärts (Bezirk Waidhofen an der Thaya) behaupten sich erfolgreich auf dem Markt. Wirtex – die älteste und gleichzeitig kleinste Frottierweberei Österreichs – stand vor einigen Jahren wegen der immer größer werdenden Konkurrenz aus dem Ausland vor der Schließung, konnte sich aber erfolgreich behaupten.

Jene Betriebe, die den Umbruch überlebten, hätten heute eine „große Berechtigung“, meint Achleitner, der vor einigen Jahre auch Fachvertreter der Textil-, Bekleidungs-, Schuh- und Lederindustrie in Niederösterreich war, „weil keiner mehr ein Massenprodukt hat, sondern mit viel Know-how punktet“. Durch Zollauflagen, globale Lieferprobleme und ein neues Qualitätsdenken würden auch vermehrt Kunden wieder zurückkehren.

Wandel der Industrielandschaft
Die Textilherstellung war einst ein führender Wirtschaftszweig der Monarchie. Heute gibt es in Österreich nur noch 50 Webereien, davon drei industrielle Frottierwebereien im Waldviertel. Aber schon seit einigen Jahren ist die Textilindustrie nicht mehr der Kern der Industrie im Waldviertel, sagte der Regionalexperte Peter Mayerhofer vom Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) vor vier Jahren gegenüber noe.ORF.at. Die Industrielandschaft im Waldviertel wurde vielfältiger.

Der Anteil der Textilindustrie sei zwar im Waldviertel noch doppelt so hoch wie in Österreich, aber der Anteil liegt bei drei Prozent der Industriebeschäftigung. "Das ist ein relativ kleiner Bereich. Wir haben viel größere Anteile in der Nahrungsmittelproduktion. Wir haben viel größere Anteile rund um das Thema Holz, wie der Möbelindustrie, wir haben Schuhindustrie, wir haben Druck“, so Mayerhofer.

Mit hoher Qualität und speziellen Produkten schaffen es laut Mayerhofer die meisten Unternehmen im Waldviertel zu reüssieren. „Natürlich ist es so, dass die Unternehmen firmenspezifische Wettbewerbsfähigkeit brauchen, also Spezifika, die sie von der Konkurrenz abheben. Solange sie das haben, können sie gut performen“, so der Wirtschaftsforscher.


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Die Firma Test-Fuchs gilt heute als neuer Leitbetrieb für die Region um Groß-Siegharts

Ein Beispiel dafür ist die Firma Test-Fuchs in Groß-Siegharts, die heute als größter Betrieb der Region gilt. Das Unternehmen liefert seine Produkte – Prüfgeräte für die Luftfahrt- und Weltraumindustrie – in die ganze Welt. Ein anderes Beispiel ist der Autozulieferer Pollmann aus Karlstein an der Thaya (Bezirk Waidhofen an der Thaya).

Letzte Zeugen der Blütezeit
An die Blütezeit und traditionsreiche Geschichte der Textilindustrie erinnern heute zwei Museen in Groß-Siegharts und Weitra sowie die „Waldviertler Textilstraße“. Sie führt – von Schloss Groß-Siegharts ausgehend – zu alten Fabriksgebäuden und Webereien und zeigt neben der wirtschaftlichen auch die soziale und kulturelle Bedeutung der Textilindustrie in den Bezirken Gmünd und Waidhofen an der Thaya.

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Das lebende Textilmuseum in Groß-Siegharts zeigt heute noch die letzten Zeugen der einstigen Blützeit, etwa einen Oberschlägerwebstuhl aus der Zwischenkriegszeit
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Etwa 130 Jahre alte Bandwebstühle im Textilmuseum
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Innenansicht in ein Weberhaus aus dem 19. Jhdt. mit Hanswebstuhl und Spulmaschine
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Haspelmaschinen
Museum Alte Textilfabrik
Das Museum Alte Textil-Fabrik in Weitra
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Ein alter Webstuhl des Museums
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Museum Alte Textilfabrik

Mit viel Engagement versucht man in Groß-Siegharts zudem, den Standort als Einkaufs- und Gewerbezentrum der Region abzusichern und neue Geschäftsfelder zu erschließen. Mit dem sanften Tourismus, der großzügigen „Thayaradrunde“ und der Neuerschließung von Bauplätzen will man sowohl als Ausflugs- als auch Wohngemeinde attraktiv sein.
15.07.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at

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#70
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Volksabstimmung zerstört Jobs und Träume - Teil 1
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Eine äußerst knappe Mehrheit der Bevölkerung hat sich 1978 gegen die Inbetriebnahme des Atomkraftwerks Zwentendorf ausgesprochen. Während heute viele darüber froh sind, zerstörte die Entscheidung damals auch Träume und Hoffnungen – vor allem in der Region.
Die Ausstattung bis hinunter zur Schutzkleidung war bereits geliefert, etwa 200 speziell ausgebildete Techniker standen höchst motiviert bereit. Und auch die Brennstäbe waren schon mit dem Hubschrauber eingeflogen worden. Im AKW Zwentendorf (Bezirk Tulln) warteten damals alle darauf, dass der Startknopf gedrückt wird.

Doch am Abend des 5. November 1978 brach für die Mitarbeiter des Atomkraftwerks Zwentendorf und viele Gemeindebewohner eine Welt zusammen. Der Traum von einer strahlenden Zukunft war geplatzt, die jahrelange Spezialausbildung im Ausland für den erhofften Job in Österreich war nichts mehr wert. „Keiner hat gedacht, dass das mit nein ausgeht“, erinnert sich Karl Sieberer aus Zwentendorf, damals Elektrotechniker im Kraftwerk.

30.068 Stimmen entscheiden
Innenminister Erwin Lanc (SPÖ) gab an diesem Abend das Ergebnis bekannt. 1.576.709 Österreicher (49,5 Prozent) stimmten für die Atomkraft, 1.606.777 (50,5 Prozent) dagegen – die Gegner lagen mit nur 30.068 Stimmen vorne. Die Volksabstimmung ging denkbar knapp gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie in Österreich und damit gegen die Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Zwentendorf aus.

Dabei hatte die Atomenergie – im industriellen Aufbruch der 1960er – so vielversprechend begonnen. Die Kernenergie galt in Österreich – wie im restlichen Nachkriegseuropa – als Technologie der Zukunft. Ihre friedliche Nutzung war politischer Konsens, aber auch die Mehrheit der Bevölkerung – quer durch alle sozialen und politischen Schichten – begrüßte die Energieform.

Österreichs Tor zur Atomenergie
Mit dem Bau des Reaktorzentrums Seibersdorf (Bezirk Baden) 1958 stieg Österreich schließlich in die Atomenergie ein. Ein Energieplan aus den 1960er-Jahren sah damals neben dem Bau von Wasserkraftwerken auch drei Atomkraftwerke in Österreich vor. Das erste hätte in Zwentendorf, das zweite in St. Pantaleon (Oberösterreich) und das dritte in St. Andrä (Kärnten) entstehen sollen.

Auch die anfangs skeptische heimische E-Industrie konnte die Große Koalition auf den gemeinsamen Kurs einschwören. Der wurde auch beibehalten, nachdem zuerst die ÖVP, dann die SPÖ jeweils absolute Mehrheiten erzielten. 1969 wurde Zwentendorf als Standort festgelegt. Im März 1971 wurde auf Drängen der Bundesländer von der Bundesregierung unter Kanzler Kreisky (SPÖ) der Baubeschluss gefällt.
Noch im selben Jahr begannen in Niederösterreich die Bauarbeiten. Errichtet und betrieben werden sollte das Kraftwerk von der Gemeinschaftskernkraftwerk Tullnerfeld Ges.m.b.H. (GKT), an der der Bund und die Länder über ihre Energieversorger wie die EVN beteiligt waren. Österreichs ohnehin verspäteter Eintritt ins Atomzeitalter schien auf Schiene. Mit großem, ernstzunehmendem Protest rechnete kaum jemand.

„Wir waren ganz happy“
Damit blühte auch das Leben in Zwentendorf auf. „Wir waren ganz happy“, erinnert sich Maria Höchtl, die damals einen Fleischereibetrieb führte, „weil wir gewusst haben, wenn da so viele Leute herkommen, profitiert die ganze Gemeinde.“ Und so kam es auch, im Schnitt waren auf der Baustelle etwa 1.000 Arbeiter beschäftigt, zu Spitzenzeiten bis zu 2.500, ergänzt Karl Sieberer.

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Vom Heurigen bis zu den Gasthäusern hätten daran alle verdient. „Am Abend hast du als Einheimischer nicht hingehen brauchen, überall waren Arbeiter.“ Pensionen und Private vermieteten hingegen leerstehende Häuser oder Zimmer. „Manche haben, glaube ich sogar, die Speis vermietet“, erzählt Peter Grestenberger, damals Gendarm im Ort. Die Bevölkerung sei damals größtenteils positiv gestimmt gewesen.

Als Geld keine Rolle spielte
„Alle Leute haben Geld gehabt, Geld hat keine Rolle gespielt“, weiß Höchtl, die in ihrem Betrieb selbst groß investierte: Drei zusätzliche Mitarbeiter und vier Lehrbuben statt bisher einer. Denn ab sofort belieferten sie die Kantine auf der Baustelle. Dafür mussten auch Nachtschichten eingelegt werden, etwa wenn 200 Schnitzel geschnitten werden mussten. Für das Besucherzentrum wurden wiederum pro Tag an die 300 Wurstsemmeln bis pünktlich um 8.00 Uhr geliefert.


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Das fertig gebaute Atomkraftwerk im Jahr 1976

Und in der Region gab es Arbeit. „Ich hätte mir damals drei Jobs aussuchen können“, erzählt Sieberer, der sich als damals 22-Jähriger schließlich für das Kraftwerk entschied: „Das war eine völlig neue Technologie, für mich als Elektrotechniker war das eine super Sache, hat mich sehr interessiert.“ Als Mitarbeiter sei man damals auch sehr geschätzt gewesen und gut bezahlt worden.
Fortsetzung siehe Teil 2:
 
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#71
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Volksabstimmung zerstört Jobs und Träume - Teil 2

Der Widerstand wächst
Ab 1975 wuchs aber die Anti-Atomkraft-Bewegung in Österreich. Es kam unter anderem zu einem Protestmarsch auf der Wiener Ringstraße. An vorderster Front war damals Carl Manzano dabei, langjähriger Direktor des Nationalparks Donau-Auen. „Wir sind deshalb gegen Atomkraftwerke, weil sie die Gesundheit und das Leben der Bevölkerung gefährden“, so Manzano damals, vor 40 Jahren, im Interview. „Niemand kann uns garantieren, dass es nicht zu einem großen Unfall kommt.“

Das blieb auch in Wien nicht unbemerkt. Mit dem Versuch in die Offensive zu gehen, scheiterte die Kreisky-Regierung allerdings spektakulär. Im Herbst 1976 startete die „Informationskampagne Kernenergie“. Veranstaltungen in ganz Österreich sollten Bedenken bezüglich der Atomkraft zerstreuen – und wurden zum PR-technischen Desaster.

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Im Publikum saßen keine unschlüssigen Menschen, die nur genügend Informationen brauchten, um sich von den Vorteilen eines AKWs überzeugen zu lassen. Vielmehr kamen zu den Vorträgen und Podiumsdiskussionen mehrheitlich Gegnerinnen und Gegner der Atomkraft. Sie fanden in den Veranstaltungen eine Bühne, auf der sie ihre Bedenken und Kritik vorbringen konnten – und das unter breiter medialer Beachtung.

„Lausbuben“ gegen die Kernkraft
In den folgenden Monaten trugen die Kernkraftgegner ihren Protest mehrfach auf die Straße – inklusive Eklat am Nationalfeiertag 1977. Verärgert über antiparlamentarische Parolen und Transparente verweigerte Kreisky das Gespräch mit den Demonstranten und ließ ausrichten, er „habe es nicht notwendig, mich von ein paar Lausbuben so behandeln zu lassen“.


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Über die Jahre wuchs der Widerstand der Anti-Atom-Gegner

Bereits am 12. Juni 1977 waren etwa 6.000 Atomkraft-Gegner durch das Tullnerfeld zum Kraftwerk marschiert und hatten lautstark protestiert. Grestenberger, der das Kraftwerk damals intensiv bewacht hatte, stand mit einem Kollegen vor dem Tor: „Wir hatten befürchtet, dass es zu etwas kommen könnte, das war eine schwierige Situation, aber Gott sei Dank ist alles ohne Probleme abgelaufen.“

Feuerwehrschläuche gegen Demonstranten
Im Kraftwerk hatte man sich auch gerüstet und Feuerwehrschläuche ausgelegt, um im Notfall die Demonstraten mit Wasser zurückzudrängen. Doch die Aktion verlief friedlich. Unter den Teilnehmern waren etwa auch Mütter mit Kindern und Kinderwägen, aber auch „Männer, mit langen Haaren, die auf einer Gitarre gespielt haben und eine Ziege an der Leine hatten, also richtige Hippies“, erzählt Grestenberger.

Doch diese Entwicklung führte dazu, dass etwa die Brennelemente Anfang 1978 nicht auf der Straße geliefert, sondern eingeflogen wurden. Die Inbetriebnahme des Kraftwerks lief immerhin schon ab 1976. Zunächst wurde das Material von Frankfurt (Deutschland) mit dem Flugzeug zum Flughafen nach Linz-Hörsching gebracht und von dort per Hubschrauber nach Zwentendorf transportiert. Täglich landeten zwei Helikopter am Kraftwerksgelände.

Volksabstimmung als Ausweg
Die Politik sah sich letztlich aber gezwungen, die Bevölkerung darüber entscheiden zu lassen, ob sie für oder gegen die friedliche Nutzung von Atomenergie sind. Eine Volksabstimmung sollte somit klären, ob das Kernkraftwerk Zwentendorf an das Netz gehen würde. Eine demokratische Entscheidung würden die Aktivisten, die sich auch für mehr Demokratie und Partizipation aussprachen, wohl akzeptieren – so der Plan.

Kreisky machte sogar seinen Verbleib als Bundeskanzler vom Ausgang der Volksabstimmung abhängig. Sollte sie negativ ausgehen, würde er zurücktreten. Kreisky verknüpfte somit eine politische Frage mit einem Wirtschafts- und Umweltthema, weshalb es bei dieser Abstimmung nicht mehr nur um die Frage der Atomenergie ging.


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Mit der Zeit machten auch immer mehr Prominente gegen das Kernkraftwerk mobil, wie etwa der Schriftsteller Peter Turrini, der Musiker Georg Danzer und der Nobelpreisträger Konrad Lorenz in einer Pressekonferenz zwei Monate vor der Volksabstimmung im September 1978: „Ich geniere mich zu bekennen, dass ich jahrelang an Zwentendorf vorübergebraust bin, gesehen habe, wie das allmählich wächst und mir nichts dabei gedacht habe. So blöd sind die allermeisten von uns gewesen“, sagte Lorenz.

Vereint gegen gemeinsamen Gegner
Trotz vieler Unterschiede waren sich die verschiedenen Gruppen in ihrer Ablehnung der Kernenergie einig. Der Zweifel an der tatsächlichen Sicherheit eines AKW, die Sorge um mögliche Langzeitfolgen auch geringer Strahlenbelastung, und die – bis heute ungelöste – Frage, was mit dem radioaktiven Abfall geschehen soll: Diese Fragen vereinten sie in ihrem Widerstand gegen die Kernenergie.

Fleischhauerin Höchtl erlebte damals auch die aggressive Seite der Kraftwerksgegner. Denn als Betrieb hatte man sich bei einer Umfrage der GKT für das AKW ausgesprochen, in einer offiziellen Broschüre des Kraftwerks wurde damit geworben. Daraufhin begann eine Welle an Drohbriefen und Anrufen. „Wir wurden mit dem Umbringen bedroht und einer hat mir gesagt, wir sollen uns in den Kutter setzen und einschalten.“

Obwohl sich die Ansichten radikal verhärtet hatten, war die Stimmung unter den Mitarbeitern weiter zuversichtlich. Sieberer begann – mit dem sicher geglaubten Arbeitsplatz im Rücken – im Ort ein Haus zu bauen. Und die Mitarbeiter warben eifrig für das Projekt. Im Auftrag der Kraftwerksbetreiber wurden an alle Haushalte Broschüren verteilt. In Wien trieb man drei Elefanten über die Mariahilferstraße, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. „Das war ein Aufsehen, wir machen Werbung pro Kernenergie.“

Vier Monate Ratlosigkeit
Umso härter traf dann alle das negative Ergebnis der Volksabstimmung. „Die nächsten drei, vier Monate hat große Ratlosigkeit geherrscht“, schildert Sieberer. Keiner wusste, wie es weitergeht. In der Gemeinde selbst hatten gut 55 Prozent für das Atomkraftwerk gestimmt. Das bis dahin rege Treiben am Kraftwerksareal stand plötzlich still.

Auch die Gemeinde wurde damals hart getroffen, als eines Tages ein Brief vom Finanzamt kam, erzählt Grestenberger, damals auch Gemeinderat: „Mit der Forderung, die Gemeinde muss fünf Millionen Schilling, die sie an Vorauszahlungen der Kraftwerksbetreiber erhalten hatte, zurückzahlen.“ Das Problem: Das Geld wurde bereits in den Jahren zuvor in die Infrastruktur investiert.

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Der Traum von der strahlenden Zukunft mit der sicheren Atomenergie war plötzlich ausgeträumt

So wurde etwa der Donauhof, eine Veranstaltungshalle oder eine neue Volksschule mit Hallenbad gebaut. „Wir haben das Geld nicht verprasst“, betont Grestenberger. Der Donauhof sei etwa auch wegen des Kraftwerks gewesen, „weil bei Bauverhandlungen gleich einmal 100 Leute zusammengekommen waren.“ Und aus Deutschland wusste man, dass infolge des Baus auch viele interessierte Besucher kommen werden, die man irgendwo verköstigen musste.

„Ängste der Leute geschürt“
Doch das Finanzamt blieb hart, über fünf Jahre musste Zwentendorf seine Ausstände zurückzahlen – bei einem Gemeindebudget von 16 Millionen Schilling pro Jahr, wie Grestenberger anmerkt: „Das hat uns sehr schwer getroffen.“ Im Nachhinein beklagt der Gendarm, dass vor der Abstimmung gezielt „die Ängste der Leute geschürt“ worden seien. Und: „Die Junge haben gesagt ‚Oma, du musst für das stimmen‘ und die hat dafür gestimmt, obwohl sie gar keine Ahnung hatte“, ergänzt Höchtl.

Ein Blick in das Abstimmungsergebnis von 1978 zeigt, dass die große Mehrheit der Tiroler und Vorarlberger gegen die Atomenergie in Österreich waren – obwohl in diesen Bundesländern keine Atomkraftwerke geplant gewesen waren. Doch vor allem in Vorarlberg hatte sich eine breite Bevölkerungsmehrheit gegen die Errichtung von AKWs in der Schweiz stark gemacht, deren Anliegen fanden damals aber kein Gehör. Bei der Abstimmung zu Zwentendorf fanden sie nun ein Ventil, um ihren Frust bezüglich der Atomenergie loszuwerden.

Die östlichen Bundesländer, die bei einem möglichen Unfall die Hauptlast der Kontamination zu tragen gehabt hätten, sprachen sich jedoch mehrheitlich für die Nutzung der Atomenergie aus. Die meisten Befürworter gab es im Burgenland und in Wien, also in jenen Bundesländern deren Landesenergieorganisationen nicht am Betrieb des Kraftwerkes beteiligt gewesen wären.

Roter „Schwarzer Peter“ gewinnt
Den „Schwarzen Peter“, den die politische Konkurrenz Kreisky umhängen wollte, hatte dieser aber geschickt genutzt. Denn der SPÖ-Politiker ließ daraufhin das Atomsperrgesetz beschließen, womit der Betrieb von Atomkraftwerken in Österreich gesetzlich verboten wurde und er im Jahr 1979 seinen bis dahin größten Wahlerfolg einfahren konnte.

Im AKW Zwentendorf begann am Tag nach der Volksabstimmung der Konservierungsbetrieb. Die Anlage sollte nach dem bereits absolvierten Probebetrieb, der jedoch noch ohne Kernkraft ablief, für einen späteren „Vollbetrieb“ intakt bleiben. Dieser sollte nach einer neuerlichen Volksabstimmung ein paar Jahre später, wenn die Stimmung wieder positiver wäre, starten.

Privat
So sollte das geplante History Land aussehen

History Land rund um AKW
Zwischenzeitlich gab es auch Pläne, das Areal rund um das Atomkraftwerk sowie die nähere Umgebung in ein History Land zu verwandeln – ähnlich dem Disneyland, in dem die Menschheitsgeschichte präsentiert werden sollte. Das Projekt wurde vom Kärntner Bauunternehmer Robert Rogner vorangetrieben und vom Land unterstützt. Allerdings hätten der Park pro Jahr an die 1,5 Millionen Besucherinnen und Besucher benötigt, pro Tag wären das mehr als 12.000 Personen gewesen – eine für das Tullnerfeld viel zu hohe Zahl.

1986 kam deshalb die Volkabstimmung wieder ins Spiel. Die Ökologiebewegung hatte sich beim Widerstand gegen den Bau des Donaukraftwerkes in der Hainburger Au zwar konstituiert, doch die Breite der Zustimmung war deutlich geringer als 1978. Zudem waren auch in anderen europäischen Ländern die Kernkraftwerke ohne größere Probleme gebaut und betrieben worden. Im Herbst sollte die neuerliche Abstimmung stattfinden, um auch in Österreich endlich Atomstrom erzeugen zu können.

Der Todesstoß für das Kraftwerk
Doch auch dieses Mal wurden die Pläne durchkreuzt. Am 26. April 1986 kam es zum Reaktorunfall von Tschernobyl in der Ukraine, die damals ein Teil der Sowjetunion war. Eine radioaktive Wolke erreichte zwei Wochen darauf Österreich. Der Bevölkerung, aber auch den politischen Verantwortungsträgern, wurde deutlich vor Augen geführt, wie groß die Gefahr ist. Ab diesem Zeitpunkt war nicht mehr an einen Betrieb des AKW Zwentendorf zu denken „und dessen endgültiges Schicksal besiegelt“, sagt Sieberer.

Der Konservierungsbetrieb wurde beendet und noch im Jahr 1986 begann der Verkauf von Kraftwerksteilen an fünf baugleiche Kernkraftwerke in Deutschland. Später wurde eine Öffnung in die doppelwandige Kondensationskammer des Kraftwerkes geschnitten, um die Kammer den Besuchern zugänglich zu machen. Damit ist eine Inbetriebnahme des Kernkraftwerks unmöglich, da an dem Durchbruch Strahlung austreten und somit das AKW keine Zulassung mehr bekommen würde. Dieser Durchbruch wird auch als „Todesstoß von Zwentendorf“ bezeichnet.

Kohle statt Atomenergie
Als Ersatz wurde im Jahr 1987 das Kohlekraftwerk Dürnrohr in Betrieb genommen. Der Standort wurde so gewählt, dass die Stromleitungen des Kraftwerks Zwentendorf genutzt werden konnten. Doch auch einige frühere Mitarbeiter des Atomkraftwerks fanden dort eine neue Arbeit, wie Karl Sieberer stolz erzählt: „Ich hatte Anfang der 80er-Jahre keine Lust mehr das AKW zu konservieren, Leitungen zu putzen und war der zweite Mitarbeiter, der im Kohlekraftwerk begann.“

Und trotzdem wird mehr als 40 Jahre nach der Volksabstimmung auf dem Kraftwerksgelände in Zwentendorf Strom erzeugt. 2005 kaufte nämlich die EVN das Gelände und ließ eine große Photovoltaikanlage errichten. Die Atomkraft ist unterdessen zu einem Thema geworden, das die Bevölkerung in weiten Teilen nicht mehr spaltet, sondern eint.
18.07.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at
Volksabstimmung zerstört Jobs und Träume

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AKW Zwentendorf
Kohlekraftwerk Dürnrohr
 
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„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Als den Wäldern die Luft zum Atmen ausging
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Das Waldsterben war in den 1980er-Jahren eines der bedeutendsten Umweltthemen im deutschsprachigen Raum. Grund dafür war die starke Luftverschmutzung bzw. saurer Regen. Im Waldviertel wurden die Toleranzwerte etwa um ein Vielfaches überschritten.
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„Baum fällt“ – dieses Kommando war am Waldviertler Ostrong ab den 1980er Jahren regelmäßig zu hören. Denn viele Bäume waren längst zerstört, die Zeichen des langsamen Baumsterbens wurden sichtbar – selbst im Frühling, wenn die Nadeln frisches Grün tragen sollten. Stattdessen verloren die Bäume ihre Nadeln, die Baumkronen werden immer lichter.

Allein am Ostrong waren bis Mitte der 1980er Jahre mehr als 4.000 Hektar Wald betroffen. Ein Großteil der Flächen mussten sofort geschlägert werden, damit Schädlinge wie der Borkenkäfer sich nicht ausbreiten können. Schwer getroffen waren davon besonders die kleinen Waldbesitzer, die nur noch reagieren konnten. Doch auch in anderen Regionen hatte die Idylle des Waldes lange Zeit getäuscht.


Bäume beginnen „zu kränkeln“
Denn die Veränderungen im Wald begannen teilweise schon Anfang der 1970er Jahre, erinnert sich Forsttechniker Rainhard Hagen, der damals oft mit seinem Vater, der Förster war, im Hochleitenwald bei Groß-Schweinbarth (Bezirk Gänserndorf) unterwegs war. Waren die Eichen, die hier auf einer Fläche von 3.000 Hektar nebeneinander wuchsen eigentlich kräftige Bäume, die an die 1.000 Jahre alt wurden, begannen sie damals „zu kränkeln“.

Im Forstamt Persenbeug (Bezirk Melk) waren 2.000 Hektar betroffen, zehn Prozent Bäume sogar stark geschädigt, erzählte damals Oberforstmeister Manfred Mattanovic: „Im vergangenen Herbst sind mehrere Nadeljahrgänge abgefallen, die Kronen sind weitgehend verlichtet, man sieht nur die entnadelten, herabhängenden Zweige.“

In Persenbeug wie am Ostrong mussten große Waldflächen abgeholzt werden. Doch das Überangebot an Holz, bedingt durch den Zwang, die Bäume schlägern und verkaufen zu müssen, ruinierte die Weltmarktpreise und bedrohte unter anderem die Existenz heimischer Sägewerke. Die Landwirte forderten Entschädigungen. „Denn es kann nicht so sein, dass die Großindustrie unsere Existenz gefährdet und wir keinerlei Schadenersatz haben“, beklagte damals ein Forstwirt.


Der Spiegel
Der Spiegel, 16.11.1981

Die ersten Weckrufe
Ab 1979 warnten die Forstwissenschaftler Bernhard Ulrich und Peter Schütt vor einem bevorstehenden bzw. stattfindenden Waldsterben und forderten eine Verbesserung der Luftreinhaltung. Massenmedien griffen diese Warnungen auf, eine Titelgeschichte des Spiegel im November 1981 mit dem Titel „Saurer Regen über Deutschland: Der Wald stirbt“ brachte dem Thema den öffentlichen Durchbruch.

In Österreich machten zwei Professoren der Universität für Bodenkultur (Boku) in Wien auf die Problematik aufmerksam, erzählt Hagen, der damals selbst noch Student war: „Das waren sozusagen die ersten wissenschaftlichen Rufer in der Wüste bei uns.“ Doch nach und nach griffen auch die heimischen Medien das Thema auf. Mitte 1983 war das Waldsterben auch als Forschungsgegenstand etabliert.

Kein Entkommen
Mithilfe genauer Analysen stellte sich schließlich heraus: die zunehmende Luftverschmutzung ist schuld. „Bäume können nicht davonlaufen, Bäume müssen Schadstoffe annehmen, genauso wie die Hitze, wir können keinen Schirm rundherum spannen, das heißt, sie sind dem vollkommen ausgeliefert.“ Bäume seien damit aber auch ein guter und wichtiger Indikator, wie Lebewesen auf Schadstoffe oder andere Veränderungen reagieren.

Privat
In Deutschland und in Tschechien war das Waldsterben noch massiver als in Österreich

Eine Buche reinigt über ihre Lunge – die Blätter – in der Stunde bis zu 5.000 Kubikmeter Luft von Kohlendioxid und gibt Sauerstoff ab. Normalerweise. Doch aus den Schloten der Industrien und des Gewerbes, der kalorischen Kraftwerke und der Wohnhäuser wurden nach Expertenschätzungen damals 440.000 Tonnen Schwefeldioxid pro Jahr ausgestoßen.

Gift für die Bäume
Schwefeldioxid ist Gift für den Baum. Er nimmt es auf wie das wichtige Kohlendioxid. Doch das Gift lähmt seine Lunge. Aufgelöst in Wassertröpfchen bildet sich Schwefelsäure, die als saurer Regen die Nährstoffe aus Blättern, Nadeln und Wurzeln auswäscht. Schwefeldioxid ist allerdings nur einer der Schadstoffe, mit denen die Luft verunreinigt wurde. Weitere waren Stickoxide, Chlor, Fluor, Ammoniak, Kohlenwasserstoffe und Schwermetalle.
Alle zusammen schwächten die Widerstandskraft der Bäume. Anfangs verlor der Baum nur einen Teil seiner Nadeln, die restlichen Nadeln wurden gelblich-grau. Darüber hinaus wurde aber auch das Wurzelsystem geschädigt. Insgesamt waren in Österreich nach Meinung von Experten Mitte der 1980er Jahre mehr als 200.000 Hektar betroffen – eine Fläche, die fast der Größe Vorarlbergs entspricht.

Die Verursacher
Besonders betroffen waren die Industriegebiete entlang der Donau und im Ballungsraum Linz und Wien. In der traditionsreichen obersteirischen Industrieregion und im Grazer Becken sowie im Tiroler Inntal, von Kufstein bis über Innsbruck hinaus und im Rheintal in Vorarlberg. Neben Österreich war damals auch weite Gebiete in Mittel-, Nord- und Osteuropa betroffen.

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Die rot gefärbten Regionen waren am schlimmsten von den Schadstoffen betroffen

Vor allem die Ende der 1970er intensivierte Nutzung der vorhandenen Braunkohlevorkommen in der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und ČSSR sowie eine unzureichende Umwelttechnik führten zu massiven Belastungen. Über den Westwind wurden auch diese Schadstoffe nach Österreich geblasen. „Wir haben deshalb versucht, die Bevölkerung zu sensibilisieren und zu erklären, da passt etwas nicht mehr“, erinnert sich Hagen.

Übertriebenes, apokalyptisches Szenario
Mit Beginn der 1980er-Jahre entwickelte sich quer durch die Gesellschaft ein Konsens über die Dringlichkeit und Schwere des Themas. Von einigen Kritikern wurde das Waldsterben jedoch als reines Medienphänomen betrachtet, welches ein übertriebenes, apokalyptisches Szenario heraufbeschworen und Alarmismus ausgelöst hätte. Hagen kontert: „Die Bilder waren keine Utopie. Das waren mächtige Flächen, die das Ökosystem Wald nachhaltig geschädigt haben.“

Von der Politik wurden deshalb gesetzlich vorgegebene Grenzwerte bei Schadstoffen eingefordert. „Grenzwerte wurden damals als nicht wirklich relevant erachtet oder man hat ihnen nicht so viel Wert beigemessen“, erzählt der Forstexperte – was in gewisser Weise auch verständlich gewesen sei. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg „musste man schauen, dass man schnell aufbaut, dass man alle nötigen Rohstoffe produziert.“ Die Versorgung der Bevölkerung hatte Vorrang.

Die Politik reagiert
Doch nun hatten sich die Zeiten geändert. Die gesellschaftliche Angst vor einem großflächigen Absterben der Wälder drängte auch die Politik zum Handeln. Mit Anfang 1983 wurden in Österreich strenge Gesetze erlassen, die eine deutliche Verringerung der Emissionen bewirkten. So mussten etwa in Industrieanlagen, die neu errichtet oder umgebaut wurden, Filtersystem integriert werden.

Als eine der ersten Anlagen war davon auch das Kohlekraftwerk Dürnrohr (Bezirk Tulln) betroffen, dass in den 1980er Jahren als Ersatz für das nicht in Betrieb genommene Atomkraftwerk Zwentendorf gebaut wurde. Die Abgase sollten damit zu 90 Prozent entschwefelt werden. Die OMV musste in der Raffinerie in Schwechat (Bruck an der Leitha) den Bleigehalt im Benzin verringern.

Zugleich wurden in den Fahrzeuge Katalysatoren eingebaut. Mit all diesen Maßnahmen konnte der Ausstoß an Emissionen eingeschränkt werden, betont Hagen. Darüber hinaus wurde in Österreich ab 1983 begonnen, die Schadstoffe in der Luft regelmäßig und großflächig zu monitoren, um eine Veränderung schnell erkennen zu können.

Wiedervereinigung als Wendepunkt
Eine wichtige Maßnahme, wie Hagen betont. Denn gerade die großen Kohlekraftwerke des ehemaligen Ostblocks liefen „damals natürlich ohne Grenzwerte und Hemmungen“ weiter, sagt Hagen, „da sind diese Emissionen direkt zu uns geweht worden.“ Mit der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 wurden aber mehrere Kraftwerke stillgelegt bzw. Grenzwerte ein Thema, „sodass die Zustände im Wald wieder besser geworden sind.“

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Im Kraftwerk Dürnrohr mussten die Abgase zu 90 Prozent entschwefelt werden

Wie sich der Zustand des Waldes ohne Einführung dieser Maßnahmen entwickelt hätte, lässt sich nicht eindeutig prognostizieren. Doch genau deshalb waren die einstigen Mahner und Warner, wie Hagen, in den folgenden Jahren und Jahrzehnten erneut mit harter Kritik konfrontiert: „Wir haben damals alles übertrieben, Blödsinn, Waldsterben hat es ja gar nicht gegeben. Gott sei Dank, aber nur wegen der umgesetzten Maßnahmen.“

Vorboten des Klimawandels
Ab Mitte der 1980er Jahre setzte eine Normalisierung des Umgangs der Forstwissenschaftler mit dem Waldsterben ein, das zunehmend weniger politisch und emotional besetzt war. Doch in dieser Zeit zeigten sich bereits die Vorboten des Klimawandels. Denn im Weinviertel, wo die Niederschläge laut Hagen ohnehin am unteren Limit sind und „ein ewiger Kampf zwischen Wald und Steppe herrscht“, hatten plötzlich die Kiefern ein großes Problem.

Das bedrohte auch den von Maria Theresia ab 1.770 angelegten Waldschutzgürtel von Wolkersdorf (Bezirk Mistelbach) nach Marchegg (Bezirk Gänserndorf). Dieser Wall hatte und hat die wichtige Funktion, die Felder vor der Erosion zu schützen. Doch innerhalb kurzer Zeit starben damals mehrere hundert Hektar ab. „Und dann haben wir natürlich angefangen, auch zu sagen, da tut sich was in der Atmosphäre, irgendwo stimmt was nicht.“

Die Eichen wurden etwa zunehmend von Misteln befallen – ein wärmeliebender und hitzebeständiger „Schmarotzer“, wie Hagen sagt: „Das heißt, da ist schon das erste Zeichen, dass sich etwas in Richtung wärmer, trockener Dürre tut.“ Die Folge: Eichen wurden nicht mehr 150, sondern 100 oder 70 Jahre alt. In dieser Zeit kam schließlich auch erstmals das Schlagwort Ozon auf, „das da vielleicht wieder ein Schadstoff ist, der da mitspielt und das Absterben befeuert.“

Schwarzmaler und „Wichtigmacher“
Die mittlerweile für Hagen bekannte Reaktion – auch vieler seiner Forstkollegen: „Ich bin ein Schwarzmaler, ich mache mich nur wichtig, das ist alles ein Blödsinn.“ Im Rückblick sei man aber auch hier bestätigt worden. Denn das Absterben der Kiefern, das zunächst im Marchfeld Thema war, schwappte zehn Jahre später auch auf das Steinfeld im Industrieviertel über.

Durch Förderungen und in Kooperation mit der Universität für Bodenkultur gelang es im Marchfeld, die geschädigten Waldflächen – ein paar hundert Hektar – wieder aufzuforsten. Ziel war es dabei vor allem, aus den Fehlern der bisherigen Forstwirtschaft, als vor allem schnellwachsende Monokulturen gepflanzt wurden, zu lernen und Baumarten zu finden, die in Zukunft großflächig, wirtschaftlich sinnvoll genutzt werden können.

Klimafitter Wald
Auf eigenen Versuchsflächen wurde zunächst experimentiert: Gepflanzt wurde von der Eiche bishin zum Ahorn, Linden, Elsbeere oder auch Wildobst, teilweise kam Humus in den Boden, bei anderen Stroh auf den Boden, damit die Feuchtigkeit erhalten bleibt. „Wir haben gesagt, wenn uns von den zehn bis 15 Baumarten drei bis fünf übrigbleiben, haben wir gewonnen“, erzählt Hagen, der damals als Forsttechniker für die Bezirke Gänserndorf und Mistelbach zuständig war.

Anhand dieser Untersuchungen wurde schließlich auch der Schutzwald von Markgrafneusiedl über Obersiebenbrunn und Angern bis Ollersdorf (alle Bezirk Gänserndorf) aufgeforstet. Mittlerweile sind die Bäume an die 30 Jahre alt, erzählt der Forstexperte stolz, „dort kann man heute im Schatten eines schönen Waldes sitzen, wo sogar im Marchfeld wertvolle Hölzer rauskommen und der auch ökologisch wichtig ist. Wir haben also schon vor 30 Jahren einen klimafitten Wald erschaffen.“

Ziel war es aber auch, den Forstwirten damit neue Optionen aufzuzeigen. Und das geht laut Hagen am besten, indem man mit gutem Beispiel vorangeht: „Ich muss etwas zeigen, damit er versteht, was ich da mache. Nur reden hilft meistens nicht.“ Deswegen initiierte der Forsttechniker im Weinviertel auch eigene Stammtische, bei denen er über die Veränderungen informierte.

Das Ökosystem im Fokus
Ab den 1990er Jahren entwickelte sich die Forschung überhaupt vom reinen Waldschaden hin zu einem breiter angelegten Waldökosystem. Im Hochleitenwald im Weinviertel wurde damals ein 24 Meter hoher Turm errichtet, um die Einflussfaktoren auf die Baumkronen genau messen zu können: Luftfeuchtigkeit, Trockenheit, Niederschlag, Ozon, Wind, „also alles, was einen Baum positiv oder negativ beeinflusst.“

Dass die Waldsterbensdebatte Ende der 2010er wieder in den Medien erschien, ist in direktem Zusammenhang mit der „Klimakrise“ zu sehen, die nun zunehmend die öffentliche Diskussion beherrschte. Durch die globale Erwärmung folgten häufiger Hitzewellen und Monate nie dagewesener Wärme, auch in den kühleren Jahreszeiten, mitsamt abnorm warmen und niederschlagsarmen Wintern. Von vielen Experten, Ländern und Gemeinden wurde auch ein „Klimanotstand für den Wald“ ausgerufen.

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Der Borkenkäfer sorgte in den verganenen Jahren vor allem im Waldviertel für große Schäden
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Durch die Kombination von Trockenstress, hoher Sommerhitze und der Veränderung der Regionalklimata kam es neben großflächigen Schäden durch Sturm und Borkenkäfer auch zu Symptomen an einzelnen Hauptbaumarten wie Eichen, Buchen, Kiefern, Tannen und durch neuartige Infektionen an Eschen (Eschentriebsterben) oder Ahorn (Rußrindenkrankheit).

Eine folgenreiche Kettenreaktion
Solche klimatischen Veränderungen habe es aus Sicht der Natur zwar immer gegeben, betont Hagen, in den vergangenen Jahren hätten sich aber abiotische Faktoren – also Faktoren, an denen Lebewesen nicht erkennbar beteiligt sind – deutlich verschärft. Bäume werden etwa durch Sturmschäden geschwächt und schließlich kommt der Borkenkäfer, „der den Baum umbringt, wenn es ihm nicht mehr gut geht.“ Ein Beispiel dafür sei seit 2015 das Waldviertel.

Doch gerade diese Probleme waren laut Hagen teilweise auch selbst gemacht. Wegen der verstärkten Nutzung des Schadholzes für die Biomasse wurden die Hölzer nicht sofort aus dem Wald entfernt – für den Borkenkäfer ein gefundenes Fressen, wodurch er sich großflächig ausbreiten konnte. Diese Fehler wurden aber erkannt, sagt Hagen, weshalb das Holz nun deutlich schneller aus dem Wald gebracht und an eigenen Lagerplätzen gesammelt wird.

ORF
Im Kampf gegen den Borkenkäfer werden Schadholzmengen nun eigens gelagert

Die Probleme durch den Klimawandel werden mittlerweile ausreichend erkannt, meint Hagen – vor allem von den großen Waldbesitzer. Statt Monokulturen werden nun drei, vier oder sogar fünf Baumarten gepflanzt, ebenfalls fremde Baumarten aus mediterranen Regionen, die wärmere Temperaturen gewohnt sind. „Das ist gut und wichtig, um einen klimafitten Wald aufzubauen.“

Handlungsbedarf bei kleinen Forstwirten
Doch etwa die Hälfe des heimischen Waldbestandes ist in den Händen kleiner Forstwirte mit wenigen Hektar Eigengrund, „die oft gar nicht wissen, wo überhaupt ihr Wald ist“, ergänzt Hagen. In diesem Bereich sieht der Experte in den nächsten zehn Jahren noch Handlungsbedarf. „Da wird sicher noch einiges an Arbeit auf die Forstbehörden zukommen“, um mit Förderungen, Information und Demonstrationen von gelungenen Flächen Überzeugungsarbeit zu leisten.

Trotz der aktuellen Probleme sieht Hagen den Wald in Niederösterreich nicht gefährdet. Regional gebe es zwar rote Flächen, wo etwa die Fichte im Waldviertel zunehmend gefährdet sei. „Das ist für die Leute natürlich schlimm. Dort ist der ganze Besitz, die Sparkasse der kleinen Bauern, zum Teil ruiniert.“ Doch sowohl im Alpenvorland als auch in den höheren Schichten des Waldviertels sei „eine ganz gute Mischung“ vorhanden und der Wald „im Großen und Ganzen in einem guten Zustand.“

ORF/Felix Novak
Generell sieht der Forstexperte die heimischen Wälder in gutem Zustand

Im Gegensatz dazu ist laut Hagen die aktuelle Gesetzeslage, konkret die zweite Verordnung gegen forstschädliche Luftverunreinigung, die 1983 vom Forstminister erlassen wurde – „durchaus noch verbesserungsfähig“: „Das war damals zwar gut und visionär, aber noch immer ist Luft nach oben im wahrsten Sinne des Wortes.“

Als Beispiel nennt der Forsttechniker das Immissionsschutzgesetz Luft oder das Ozon-Gesetz. „Das sind zwar Themen, wo gewisse Begrenzungen angesprochen werden, aber richtige Grenzwerte, die man auch vollziehen kann, fehlt dort noch.“ Bei Stickoxiden oder Ozon gebe das Gesetz nach wie vor nur eine Art empfohlenen Richtwert vor, der nicht überschritten werden sollte.

Gesellschaft gefordert
Doch auch die Gesellschaft sieht Rainhard Hagen gefordert, die sich über Jahre und Jahrzehnte an einen hohen Wohlstand gewöhnt habe. „Natürlich will keiner auf den gewonnenen Luxus oder Wohlstand verzichten.“ Es gehe aber darum, Dinge einzuschränken, „die nicht unbedingt sein müssen.“ Egal ob das den Energieverbrauch, Autofahrten über kurze Distanzen oder andere Gewohnheiten betrifft.

Doch um die heimischen Wälder bzw. die saubere Umwelt langfristig zu erhalten, sei der Waldbesitzer „nur EIN Player, der versucht, mit mehreren Baumarten zu arbeiten und sie mit entsprechender Pflege zu fördern.“ Auf der anderen Seite müsse auch jeder einzelne mithelfen, seinen Fußabdruck zu minimieren, etwa beim Thema CO2, sagt Hage, der am Ende eines langen Gespräches sagt: „Es wird ein ganz schwieriger Prozess werden.“
22:07:2022; Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at
Als den Wäldern die Luft zum Atmen ausging
 

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#73
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Glock-Pistole: Der Mythos aus Deutsch-Wagram
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Die Pistolenmarke Glock ist insbesondere in den USA etabliert wie kaum eine andere. Erstmals gebaut wurde die Waffe in Deutsch-Wagram Anfang der 1980er vom heutigen Milliardär Gaston Glock. Ein Zeitzeuge rückt den Mythos nun erstmals in ein neues Licht.
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Das Leben von Tausenden Menschen steht auf dem Spiel. Terroristen haben den Flughafen Dulles in Washington D.C. übernommen, einen der größten der USA, und drohen damit, Flugzeuge abstürzen zu lassen. Der einzige, der das verhindern kann: ein gewisser John McClane.

Die Szene stammt aus dem Actionfilm des Jahres 1990 schlechthin, der Fortsetzung des Kultstreifens „Stirb Langsam“. Bruce Willis kehrt zurück – und ist von der Bewaffnung der Terroristen beeindruckt: „Dieser Penner hat eine Glock 7! Wissen Sie, was das ist!?“, fragt Willis’ Charakter einen überforderten Sicherheitsverantwortlichen. „Ne Porzellanwaffe, in Deutschland gebaut, beim Durchleuchten in der Kontrolle unsichtbar. Kostet mehr als Sie in einem Monat verdienen!“

Nahezu jedes Wort in diesen vier Sätzen ist inhaltlich falsch – es handelt sich um eine Glock 17, eine Waffe mit Plastikteilen, in Niederösterreich gebaut, bei Sicherheitskontrollen sehr wohl erkennbar und noch dazu günstiger als alle wesentlichen Mitbewerber. Trotz dieser Masse an Fehlern war die Szene in „Stirb Langsam 2“, der erste Auftritt der Waffe in Hollywood, im Rückblick einer der Wendepunkte in der verrückten Geschichte rund um Gaston Glock und die wohl wichtigste Pistole aller Zeiten. Sie nahm ihren Ausgang in einer unscheinbaren Garage in Deutsch-Wagram (Bezirk Gänserndorf).

Vom Autoteil über das Messer zur Pistole
1980 betrieb Gaston Glock, damals Anfang fünfzig, mit seiner Frau Helga nahe der Wiener Stadtgrenze ein kleines Nebengeschäft, schreibt der US-Journalist Paul M. Barrett. Im Hauptberuf produzierte Glock demnach Autokühler, in der Garage neben seinem Wohnhaus hatte er eine Metallpresse stehen. Dort hatte er zunächst Messingbeschläge für Fenster und Türen hergestellt, ab den 1970ern kamen militärische Feldmesser und Bayonette dazu – Glocks erster beruflicher Kontakt mit dem Bundesheer und der Welt der Waffenhändler.

wikimedia commons/Steve DockCC BY-SA 3.0
Glock-Feldmesser FM 78 mit Griff aus Kunststoff, das seit den 1970ern vom Bundesheer verwendet wird

Im Februar 1980 schließlich kam es zu jenem Ereignis, das die Rüstungsindustrie weltweit verändern sollte – zumindest berichtet das Barrett in seinem 2012 erschienenen Buch „Glock – The Rise of America’s Gun“. Demnach wurde Glock zufällig Zeuge eines Gesprächs zwischen zwei Bundesheer-Offizieren. Sie beschwerten sich darüber, dass keine geeignete Handfeuerwaffe verfügbar war, um die alten Weltkriegspistolen abzulösen. Steyr, der etablierte österreichische Schusswaffenproduzent, habe die Anforderungen nicht erfüllen können, nun reiße der Armeespitze der Geduldsfaden.

„Glock unterbrach die beiden und fragte, ob sich auch noch eine andere Firma – seine eigene – an der Ausschreibung beteiligen könne“, schreibt Barrett. „Die Obersten lachten nur.“ Immerhin hatte der Unternehmer bislang keinerlei Erfahrung mit Schusswaffen, abgesehen von einem kurzen Einsatz als Jugendlicher im Zweiten Weltkrieg. Nun wollte er sich also mit einigen der renommiertesten Rüstungsfirmen der Welt anlegen?

Glock blieb davon unbeirrt. Nach einem Gespräch mit Verteidigungsminister Otto Rösch ließ er sich auf das Wagnis ein. Er analysierte die damals verfügbaren Modelle bis ins kleinste Detail und nutzte einige Kontakte zu Militärs und Waffenexperten, um Anforderungen an eine neue, möglichst ideale Pistole zu formulieren. Dann begann er damit, erste Prototypen zu entwerfen.

Hohes Risiko, nicht nur finanzieller Natur
„Die Entwicklung war auf zwei, drei Leute beschränkt“, erklärte Glock später gegenüber dem ORF in einem seiner äußerst seltenen TV-Interviews. Dadurch sei eine rasche Abfolge von Prototypen möglich gewesen. Von einer Idee bis zur Erprobung habe es meist nur zwei bis drei Tage gedauert – „das war es, was uns so schnell vorangebracht hat“. Die Tests mit den Prototypen soll der Unternehmer persönlich vorgenommen haben. „Er schoss alleine und verwendete dafür nur seine linke Hand“, schreibt Journalist Barrett. „Falls eine Waffe explodiert wäre, hätte er immer noch seine gute rechte Hand gehabt, um weiterhin Pläne zeichnen zu können.“

Ein Jahr später, im April 1981, war es soweit, ein Patent wurde eingereicht. Es war Gaston Glocks 17. Erfindung, „daher nannte er seine Waffe ‚Glock 17‘“, so Barrett. Ein weiteres Jahr später erhielt das Bundesheer mehrere Pistolen, um diese ausführlich zu testen.

Triumph über Konkurrenten
Das Ergebnis des Verteidigungsministeriums im November 1982 war eindeutig: Der Neuling und Außenseiter ließ die Konkurrenz hinter sich. Die etablierten und renommierten Waffenschmieden Heckler & Koch (Deutschland), Sig-Sauer (Schweiz), Beretta (Italien), Fabrique Nationale (Belgien) sowie natürlich Steyr (Österreich) mussten sich geschlagen geben. Glock triumphierte auf ganzer Linie – und verkaufte auf einen Schlag 20.000 Stück seiner ersten Pistole.

Wie konnte es dazu kommen? „Mein Vorteil war, dass ich vorher nichts wusste“, sagte Glock später. Er hatte seine Pistole von Grund auf entwickelt, ohne Rücksicht auf bestehende Prozesse und Maschinen zu nehmen. Gleichzeitig hatte er das Glück gehabt, sich bereits zuvor mit qualitativ hochwertigen Kunststoffen beschäftigt zu haben, unter anderem für die Griffe seiner Feldmesser.

wikimedia commons/Steve DockCC BY-SA 1.0
Die wesentlichen Einzelteile einer Glock 17

Eine neue Ära der Rüstungsproduktion
Während der Lauf weiterhin aus robustem Stahl bestand, kam bei der restlichen Pistole viel Plastik zum Einsatz. Der dafür notwendige, qualitativ hochwertige Kunststoff war kurz zuvor noch nicht verfügbar gewesen. Das sorgte gleichzeitig für eine ganze Reihe an Wettbewerbsvorteilen. So war die Pistole nicht nur spürbar leichter, sondern auch bedeutend günstiger in der Herstellung. Weniger Einzelteile waren nötig, dadurch kam es seltener zu technischen Problemen wie etwa Ladehemmungen.

Auch die Magazine wurden zu einem großen Teil aus Kunststoff gefertigt – sie fassten, passend zum Modellnamen, 17 Patronen. Das bedeutete einen enormen Vorsprung, nicht nur im Vergleich zu sechsschüssigen Revolvern, sondern auch verglichen mit vielen anderen Pistolen. Zudem fiel der manuelle Sicherungshebel weg, der bei Pistolen Standard war. Stattdessen kam ein neuer Sicherheitsmechanismus zum Einsatz, direkt im Abzug verbaut und damit intuitiver zu bedienen. Soweit der „Mythos Glock“ rund um den genialen Waffenbauer aus Deutsch-Wagram, wie er vom US-Journalisten Barrett wiedergegeben wird.

Zweifel am „Mythos Glock“?
Es gibt noch eine zweite Version dieser Geschichte. Erzählt wird sie von Ingo Wieser, heute Geschäftsführer einer Sicherheitsforschungsfirma in Baden und einer von Österreichs renommiertesten Gerichtssachverständigen rund um Schusswaffen und Sprengstoffe. Rund um das Jahr 1980 war Wieser, damals in seinen Zwanzigern, Leiter des Referats „Schießversuch Leichte Waffen“ im Bundesheer – und damit direkt verantwortlich für die Pistolentests.

1979 beschaffte er sich dafür 22 verschiedene Pistolen. Sie unterzog er einer Reihe an Härteprüfungen, in dem sie unter anderem Haltbarkeit und Verlässlichkeit unter Beweis stellen mussten. „Es war eine sehr aufwändige Untersuchung, die erste in dieser Art und dieser Form“, sagt der Waffenspezialist gegenüber noe.ORF.at. Als Siegerin sei damals die italienische Beretta 92 SB ermittelt worden. Doch Steyr, der einzige vollständig österreichische Anwärter, habe sich damit nicht abfinden wollen.

Glock 17: „Nicht die beste, aber sehr brauchbar“
Deren Pistole, die „GB“, hatte innovative Technik verbaut – doch die war laut Wieser damals noch nicht ausgereift und fiel in den Tests durch. „Seitens der Firma Steyr wurde dann interveniert, über den Landeshauptmann beim Minister. Dann kam die Weisung, es sei eine österreichische Pistole zu beschaffen“, erzählt der pensionierte Offizier. Da man trotzdem nicht auf die fehleranfällige Waffe von Steyr zurückgreifen wollte, entschied man sich, auf mögliche weitere Firmen zuzugehen, unter anderem jene von Gaston Glock, der bereits Vorwissen mit Kunststoffgriffen bei Messern aufweisen konnte.

„Herr Glock bekam dann von uns alle Vorgaben, wie es sein sollte, und alle Vorschläge“, sagt Wieser. „Ich hatte natürlich eine riesige Erfahrung, nachdem ich die 22 Waffen getestet hatte, und wusste, was an jeder Waffe optimal war.“ Glock habe daraufhin „zwei Ferlacher Büchsenmachermeister engagiert, die das dann umgesetzt haben.“ Nach mehreren Prototypen habe das Bundesheer die neue „Glock 17“ getestet. Sie sei zwar im Vergleich mit den Mitbewerbern „nicht die beste, aber sehr brauchbar“ gewesen, sagt Wieser. Das gute Preis-Leistungs-Verhältnis habe schließlich den Ausschlag für Glocks Waffe gegeben.

Von Deutsch-Wagram in die weite Welt
Nicht nur das Bundesheer entschied sich für die neue „Glock 17“, wenig später folgte die österreichische Polizei. Auch in internationalen Fachkreisen wurde die Waffe dadurch Thema – bald wurden auch internationale Spezialeinheiten sowie die schwedische und norwegische Armee damit ausgestattet. Letztere war damals bereits NATO-Mitglied und stand mit ihren Verbündeten in engem Austausch. Das wiederum war einer der ersten Anknüpfungspunkte mit jenem Markt, der sich binnen kurzer Zeit zum wichtigsten entwickeln sollte: den USA, dem Land der Waffennarren, wie es oft heißt.

Auch hier traf Glock einen Nerv, das Timing glückte erneut. Viele Polizei- und Spezialeinheiten waren schon seit Jahren auf der Suche nach Alternativen für die damals verwendeten Waffen gewesen. Die herkömmlichen Polizeirevolver mit nur sechs Schuss Munition waren den halb- oder gar vollautomatischen Waffen von Kriminellen immer öfter unterlegen.


wikimedia commons/Bill Bradford from Houston, TX, USACC BY 2.0
Revolver wie dieser S&W 15-2 aus den 1960ern waren bei der US-Polizei weit verbreitet – und wurden dort auch als Zeichen von Patriotismus getragen

Zwar stieß die „Plastic Pistol“ anfangs auf Misstrauen und Spott, doch bald schon setzte sich Glocks Siegeszug in Übersee fort, diesmal in deutlich größerem Ausmaß. Glock gewährte den Polizeieinheiten massive Rabatte – und nutzte das Image als Waffe der Gesetzeshüter auf dem weitaus lukrativeren privaten Markt.

Ständige US-Kontroversen um den Österreicher
Die Strategie ging abermals auf, trotz bzw. gerade wegen zweifelhafter Medienberichte. So berichtete die „Washington Post“ 1986, dass der libysche Diktator Muammar Al-Gaddafi Glocks kaufen wolle. Der autoritäre Herrscher galt damals als Unterstützer palästinensischer Terroristen, die unter anderem im Jahr zuvor auf dem Flughafen Schwechat ein Blutbad angerichtet hatten. Laut israelischen Quellen habe Gaddafi höchstpersönlich das Glock-Werk in Deutsch-Wagram besichtigt.


ORF
Gaston Glock im ORF-Interview 1982

Die Firma Glock wies die Anschuldigungen wiederholt zurück. Sogar Innenminister Karl Blecha rückte zur Ehrenrettung des Unternehmens aus. Glock habe nie um eine Exportgenehmigung nach Libyen angesucht, heißt es in einem Schreiben vom 24. April 1986.

Debatte um mögliche Anschläge auf Flugzeuge
Kritiker befürchteten zudem, dass die Waffe aus Österreich für eine neue Terrorwelle sorgen könnte. Schließlich seien Kunststoffteile in Sicherheitsschleusen schwerer zu entdecken. Wegen dieser Sicherheitsbedenken wurde die österreichische Pistole in New York kurzerhand verboten. Der US-Kongress leitete eine Untersuchung ein, bei der auch Gaston Glock geladen war. Er zeigte Unverständnis für die Kritik und verwies auf Tests auf dem Flughafen Schwechat einige Jahre zuvor. Damals sei seine Pistole problemlos identifiziert worden.

Während all diese Vorwürfe bald wieder fallen gelassen wurden, blieb das Interesse an Glock laut dem US-Journalisten Barrett bestehen. Immerhin hatte das enorme Medienecho für massenhaft kostenlose Werbung gesorgt. Sowohl Sicherheitskräfte als auch Privatpersonen schlugen zu, kauften das österreichische Produkt und machten den Ingenieur zum Multimillionär.

Eine Pistole schockt ein Land
Einer der Käufer: ein 35-jähriger Ex-Soldat aus der texanischen Stadt Killeen. Am 16. Oktober 1991 zückte er seine Glock 17 in einem Café und begann zu schießen. 22 Menschen starben. Zu diesem Zeitpunkt war es der schlimmste Amoklauf in der US-Geschichte – und ein weiterer Ausgangspunkt für eine nationale Waffendebatte.

Aufgrund der großen Magazine hatte der Schütze kaum nachladen müssen – und das stieß den Demokraten sauer auf. Eine Beschränkung der Magazingröße auf sieben Schuss wurde heftig eingefordert. Einer der größten Wettbewerbsvorteile der österreichischen Pistolen war in Diskussion.

AFP
In diesem Café in Killeen wurde 1991 ein Massaker verübt

Auch wenn der Entwurf letztlich scheiterte, auf die Waffenverkäufe hatte er eine Auswirkung. Eine positive, heißt es zumindest in „Glock – The Rise of America’s Gun“. Die Menschen strömten in die Waffengeschäfte, aus Angst vor kommenden Verboten und um sich in einer ähnlichen Amok-Situation verteidigen zu können.

Statussymbol von Snoop Dogg bis Saddam
Die Glock 17 und ihre ähnlich aussehenden Nachfolgemodelle entwickelten sich immer mehr zur „ultimativen amerikanischen Handfeuerwaffe“, wie sie Journalist und Autor Barrett bezeichnet. Rapper wie Snoop Dogg und Cypress Hill nutzten die Marke in ihren Texten, Hollywood-Regisseure in ihren Filmen und Serien.

Parallel dazu kam es weiterhin zu aufsehenerregenden realen Verbrechen. Beim Mord an dem Rapper Tupac Shakur 1996 kam ebenso eine Glock zum Einsatz wie beim Anschlag auf die Kongressabgeordnete Gabby Giffords 2011, bei dem sechs Menschen starben. Die Liste ließe sich fortsetzen.

APA
Bei der Gefangennahme von Iraks Diktator Saddam Hussein 2003 stellten US-Soldaten eine Glock-Pistole sicher

Auch im Nahen Osten tauchten mit der Zeit Glock-Pistolen auf, schreibt Barret: „Als US-Behörden nach dem Einmarsch in Afghanistan und in den Irak lokale Sicherheitskräfte ausstatten wollten, nutzten sie dafür hauptsächlich Glocks.“ Der Erfolg war zweifelhaft. In den folgenden Jahren verlor sich dem Autor zufolge die Spur von 80.000 Pistolen, zum Großteil Glocks. Demnach seien in diesen Ländern bald österreichische Pistolen auf dem Schwarzmarkt aufgetaucht. Über Saddam Husseins persönliche Glock-Pistole berichtet die Dokumentation „Weapon of Choice“ der österreichischen Filmemacher Fritz Ofner und Eva Hausberger.

All das sind dunkle Seiten, die für die Firmengeschichte eines Rüstungsunternehmens nicht ungewöhnlich sind. Dem gegenüber steht der enorme wirtschaftliche Erfolg des Glock-Imperiums rund um den Patriarchen, der in diesen Tagen seinen 93. Geburtstag feiert und immer noch als Geschäftsführer fungiert. Die Familie Glock befindet sich laut jüngstem „Trend“-Ranking auf Platz 22 der reichsten Österreicher, ihr Vermögen wird auf 2,1 Milliarden Euro geschätzt.

Krisenbedingte Hochkonjunktur
Daran ändern auch die vergangenen Jahre nichts – immerhin wirken sich Krisenzeiten auf die Waffenindustrie in der Regel gegenteilig aus. 2020 verdreifachte sich der Konzerngewinn auf etwa 170 Millionen Euro, berichtete zuletzt der „Kurier“. Der Umsatz legte um mehr als die Hälfte zu, auf 780 Millionen Euro.

In der österreichischen Öffentlichkeit präsent ist das Unternehmen dennoch kaum, das zeigt sich auch bei dieser Recherche. Eine Bitte um Stellungnahme zu den hier behandelten Themen blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
29:07:2022; Felix Novak, noe.ORF.at
Glock-Pistole: Der Mythos aus Deutsch-Wagram
 

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#75
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Massencrash „überfordert“ Rettungskräfte
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158 Autos sind 1982 auf der Südautobahn (A2) zusammengekracht – die erste derartige Massenkarambolage in Österreich. Angesichts dieses Ausmaßes waren die Rettungskräfte „überfordert“. Die Versorgung glich damals noch einem besseren Erste-Hilfe-Kurs.

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Bei Nebel und Schneetreiben ereignete in den frühen Morgenstunden des 8. Februar 1982 der erste Auffahrunfall an diesem Tag. Die Sichtweite war gerade einmal knapp 50 Meter. Kurze Zeit später krachte es bei der Autobahnauffahrt Vösendorf erneut, was eine Serie an Karambolagen nach sich zog. Der fünf Kilometer lange Abschnitt zwischen Vösendorf und Wiener Neudorf (beides Bezirk Mödling) Richtung Wien glich damals einem Trümmerhaufen.

„Ich habe selbst nur Rauch gesehen und versucht stehen zu bleiben“, erinnert sich Augenzeugin Ingrid Feitschinger in einem ORF-Interview. Das gelang der damals 42-Jährigen auch als erstes Auto direkt vor der Massenkarambolage. „Als ich dann nach vorne gelaufen bin, habe ich den Rauch von den brennenden Autos gespürt, aber es war kein Wirbel oder so. Die Leute haben versucht, den anderen zu helfen.“

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Der Pannenfahrer Herbert Zechmeister alarmierte Feuerwehr und Polizei, und wollte nachkommende Autos warnen: „Ich habe die Warnblinkanlage eingeschaltet und versucht, die Leute aufmerksam zu machen, langsamer zu fahren. Das haben sie aber missachtet.“ Stattdessen sei er links und sogar rechts überholt worden, „und das viel zu schnell“. Bis auch diese Fahrer von den bereits ineinander verkeilten Autos gestoppt wurden – in Summe waren es 158 Fahrzeuge.

Unfallwracks blockieren Pannenstreifen
Drei Fahrzeuge fingen sogar Feuer und brannten komplett aus. Die Insassen konnten von den Ersthelfern noch rechtzeitig herausgezogen werden. 40 Beteiligte wurden teilweise schwer verletzt. Der Einsatz war vor allem deshalb chaotisch, weil viele Autofahrer auf den Pannenstreifen ausgewichen waren und so die Zufahrt der Einsatzkräfte behinderten.

„Wir waren alle etwas überfordert“, erinnert sich Gerhard Poyer, einer der ersten Sanitäter an Ort und Stelle, „so etwas hatte ich und, ich glaube, auch viele meiner Kollegen noch nicht miterlebt.“ Für die Rettungskräfte war die Lage zunächst auch sehr unübersichtlich, sagt Poyer, das wahre Ausmaß wurde erst allmählich sichtbar. „Die Leute liefen zu uns und haben uns gesagt, wo jemand liegt oder drinnen sitzt.“

Wegen der sehr unübersichtlichen Lage bot auch die Berufsfeuerwehr Wien ihre Hilfe an. Doch der damalige Landesfeuerwehrkommandant Josef Kast gab stattdessen den Befehl, Feuerwehren der Bezirke Baden und Wiener Neustadt nachzualarmieren, damit der Einsatz durch heimische Feuerwehren abgewickelt werden kann.

„Mussten selbst Triage vornehmen“
Weil die Fahrspuren jedoch alle blockiert waren, mussten sich die Helfer zu Fuß – ein Fahrzeug nach dem anderen – nach vorne arbeiten. „Wir mussten selbst eine Art Triage vornehmen.“ Die medizinische Versorgung damals sei mit der heutigen aber in keiner Weise vergleichbar gewesen, betont Poyer: „Wir mussten viel improvisieren.“

Die Verletzungen waren zwar „teilweise enorm“, die Patienten konnte man damals aber nur stabilisieren, ruhigstellen und „mit einfachen Mitteln versorgen“. Blutende Wunden wurden mit einem Druckverband gestillt, Knochenbrüche geschient und Leute mit Kreislaufstillstand beatmet. Notarztwägen mit Medizinern gab es damals noch nicht. Deswegen konnten die Verletzten auch nicht mit Medikamenten wie Schmerzmittel versorgt werden.

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Die defekten Fahrzeuge blockierten an vielen Stellen die schnelle Zufahrt der Einsatzkräfte

Auch das System der Rettungshubschrauber wurde erst im Jahr 1983 eingeführt. Stattdessen mussten die Verletzten so schnell wie möglich ins Spital gebracht werden – aber unkoordiniert, wie Poyer erklärt: „Man hat die Leute hingebracht, hingebracht, hingebracht, bis es voll war, und dann ist man in das nächste Spital gefahren.“

Ausrüstung war damals „sehr spartanisch“
Ein weiteres Problem stellte die fehlende Ausrüstung der damaligen Autobahngendarmerie dar. Außer Pannendreiecken, Fackeln und Blinkleuchten hätte man damals kaum eine Möglichkeit gehabt, nachkommende Autolenker auf die Unfallstelle aufmerksam zu machen, erinnert sich der ehemalige Bezirksinspektor Helmut Frauenhofer. Die Ausrüstung sei wirklich „sehr spartanisch“ gewesen.

Außerdem mussten damals Fahrzeuge des Verkehrsunfallkommandos aus ganz Niederösterreich kommen. Deshalb wurde mit Vermessungen, Fotografieren und Unfallaufnahmen erst relativ spät begonnen. Gegen 9.30 Uhr konnte etwa noch kein Zeitpunkt für die Feuerwehr bekanntgegeben werden, wann mit den Aufräumarbeiten begonnen werden kann.

Millionenschaden
Die Autobahn war mehr als sechs Stunden gesperrt. Der Schaden wurde auf vier bis fünf Millionen Schilling geschätzt. Schuld an der Massenkarambolage waren zu hohe Geschwindigkeit und ein zu geringer Abstand, sagt Klaus Robatsch, Leiter des Kuratoriums für Verkehrssicherheit (KfV): „Das Risiko wurde damals sicher unterschätzt, man war sich dessen noch nicht so bewusst, obwohl die Todes- und Verletzungszahlen viel höher waren.“

In Niederösterreich starben 1982 im Straßenverkehr 511 Menschen (2021: 92 Tote), 11.578 (2021: 7.884) wurden verletzt. Zwar gab es damals auf Autobahnen und Bundesstraßen bereits Tempolimits von 130 bzw. 100 km/h. Doch wenige hielten sich damals auch an diese Regeln, sagt Robatsch und erinnert an den Slogan „Freie Fahrt für freie Bürger“, doch die Autos waren damals noch wesentlich unsicherer.

Freiheitsgedanke
Dieser Freiheitsgedanke wurde lange Zeit auch von der Politik mitgetragen. Zwar wurde bereits 1976 eine Gurtanlegepflicht eingeführt, allerdings ohne Strafe. Das kam erst ab 1984. Auch die Helmpflicht für Motorrad- bzw. Mopedfahrer wurde erst ab 1985 mit Sanktionen gesetzlich verankert. „Natürlich gab es andere Interessen, die ein stärkere Lobby hatten als die Verkehrssicherheit.“

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Die Tempolimits, die damals auf Autobahnen und Bundesstraßen galten, wurden laut Experte Robatsch nur selten eingehalten

Bei einer Befragung 1978 gab die Hälfte der Autofahrer an, auf Autobahnen keinen Gurt zu verwenden, auf Freilandstraßen waren es zwei Drittel und im Ortsgebiet drei Viertel. In Bezug auf den Massencrash auf der A2 könne man trotz der 40 Verletzten von Glück im Unglück sprechen, auch weil es keine Toten gab. Und nur 25 Fahrzeuge waren so stark beschädigt, dass sie abgeschleppt werden mussten.

„Early Warners“ installiert
Dieser Unfall löste aber zahlreiche Verbesserungen sowohl bei den Einsatzkräften als auch bei der Autobahnverwaltung, der heutigen ASFINAG, aus. So erhielten die Gendarmeriefahrzeuge neben verstärkter Absicherungsausrüstung auch Dachaufsetzer mit „Early Warners“ (Frühwarngeräten). Auch die Einführung der Überkopfwegweiser geht auf diesen Unfall zurück.

Der Autobahnabschnitt zwischen Baden und Wien war die erste Teststrecke, wo derartige Warnanlagen in Betrieb gingen. "Damit konnten wir Geschwindigkeitsbeschränkungen händisch schalten und in weiterer Folge auch Hinweise wie ‚Unfall‘ oder ‚Geisterfahrer‘ eintippen“, erinnert sich Gerhard Bachinger, Dienststellenleiter der Autobahnpolizei Tribuswinkel (Bezirk Baden).
Heute sind die Überkopfwegweiser in ganz Österreich im Einsatz. Sie werden aber nicht mehr von der Polizei, sondern von der Verkehrsleitzentrale der ASFINAG gesteuert. Zugleich wurden überall Leitschienen errichtet und Bodenmarkierungen angebracht, womit man etwa den nötigen Abstand besser einschätzen können soll.

„Sollte heute nicht mehr passieren“
Doch nicht nur die Infrastruktur auf der Straße verbesserte sich wesentlich, auch die Autos wurden durch Sicherheits- bzw. Fahrassistenzsysteme ergänzt. Und die Fahrzeuge können die Fahrbahn besser ausleuchten. „Wir haben heute so moderne Fahrzeuge, dass ein Unfall, der früher tödlich ausgegangen wäre, heute sogar zu einem unverletzten Fahrer oder Beifahrer führen kann“, sagt Robatsch.

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Dank moderner Warnanlagen habe sich die Verkehrssicherheit auf Autobahnen deutlich verbessert

Deshalb ist der Leiter des Kuratoriums für Verkehrssicherheit auch überzeugt, dass ein Massenunfall wie 1982 auf der Südautobahn „in diesem Ausmaß heute nicht mehr passieren“ würde. Zugleich seien auch die Unfallfolgen deutlich geringer.

Leidvolle Verkehrsgeschichte
Die Geschichte der Verkehrssicherheit lehrt laut Robatsch aber „leider“ auch, dass es „in den meisten Fällen schlimme Unfälle gebraucht“ hat, damit Maßnahmen ergriffen wurden. Ein Beispiel dafür sei die Reduktion der Alkoholgrenze von 0,8 auf 0,5 Promille 1998. Das geschah erst, nachdem drei Sportler einer Basketballmannschaft aus Baden starben, weil ihr Bus von einem betrunkenen Lenker gerammt wurde, „obwohl die Wissenschaft die Reduktion seit Jahren forderte“.

Ein weiteres Beispiel betrifft die Absicherung von Baustellen. Anlass war ein Unfall im August 2000, als ein Lkw bei einer Baustelle auf der Westautobahn bei Pöchlarn (Bezirk Melk) ins Kippen kam und in den Gegenverkehrsbereich geriet. Der Bus mit 61 Schülerinnen und Schülern aus Deutschland an Bord wurde regelrecht aufgeschlitzt. Acht Schüler starben, 23 wurden teils schwer verletzt. Deshalb überwachen heute auch vermehrt Radaranlagen Baustellenbereiche, sagt Robatsch.

„Viel Spielraum“ für Verbesserungen
Trotzdem gibt es noch „viel Spielraum“ für Verbesserungen, betont der Verkehrsexperte. Denn Österreich liege im europaweiten Schnitt „nur im besseren Mittelfeld“. Handlungsbedarf gibt es etwa beim Thema Radverkehr. „Es gibt keine Gruppe, die gefährlicher unterwegs ist.“ Mit Anfang Oktober werden zwar u. a. die Sicherheitsabstände beim Überholen im Ort auf eineinhalb bzw. im Freiland auf zwei Meter erhöht, das Kuratorium hätte sich aber mehr gewünscht.

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Radfahrer seien derzeit die im Straßenverkehr gefährdetste Gruppe

Denn die gesamte Radinfrastruktur müsse effektiv adaptiert werden. „Radstreifen bedeutet meist eine Linie, die auf den Gehsteigbereich gepinselt wird.“ Für den Experten ist das aber zu wenig. Wie beim motorisierten Verkehr sei es auch beim Radverkehr notwendig, „Geld in die Hand zu nehmen, um die Infrastruktur gut zu organisieren“. Nur auf entsprechenden Radwegen könne man sicher unterwegs sein.

Das gleiche Thema betreffe gefährliche Stellen für Motorräder. Auch diese müssten noch besser markiert werden, um die Biker auf der Straße zu unterstützen. Denn fast jeder vierte Verkehrstote ist derzeit ein Motorradfahrer. „Vor allem Wiedereinsteiger sind betroffen, weil sie überfordert sind oder oft aus Sicht des Autofahrers denken.“

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Praktische Prüfung fehlt
Schärfere Vorgaben fordert der Verkehrsexperte auch beim Thema Moped. Derzeit müssen meist 15-Jährige nur eine theoretische Prüfung ablegen und ein paar Fahrstunden nehmen, „die in der Praxis teilweise nie stattfinden“, sagt Robatsch. Hier fordert er auch im Sinne der Verkehrssicherheit eine praktische Prüfung. Denn eine Untersuchung des Kuratoriums ergab, dass mehr als die Hälfte ein halbes Jahr nach der erhaltenen Fahrerlaubnis nicht die entsprechende Reife hat.

Das größte Sterberisiko haben nach wie vor junge Fahranfänger, weil sie zu wenig Erfahrung haben, zu schnell oder unter Drogeneinfluss fahren. Und fast jeder dritte Verkehrstote war nicht angeschnallt. Im Vorjahr starben auf Niederösterreichs Straßen 92 Menschen, 359 waren es österreichweit. Robatsch beklagt hier die mediale Wahrnehmung: „Wenn ein Flugzeug abstürzt, ist die Aufregung groß, aber dass auf den Straßen noch immer eine Person pro Tag stirbt, geht unter.“
02.08.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at

Link:
Massencrash „überfordert“ Rettungskräfte
 
#76
Die Trennung war wohl rein politisch ... Sonst hätten wir ja ständig rote Landeshauptmänner(innen) in NÖ ;-)
gibt es leider nur kurz:
Ein fragwürdiges Jubiläum - Report vom 12.07.2022 um 21:06 Uhr
Ein sehr guter Report!
Den muss man sich genau ansehen.
Also NÖ feiert 100 Jahre Trennung; Wien hingegen nicht, da sie die 100 Jahre schon früher feierten. Aber NÖ wollte für die Feier 9 Mio Euro vom Bund und bekam sie auch. Daraufhin hat Wien reklamiert und auch 9 Million erhalten, obwohl sie gar nichts feiern.
Und die NÖ 100 Jahr Feier ist genau vor einem Wahljahr.
Und wer präsentiert sich in diesem Report...der Altlandeshauptmann, welcher damals nach der Stiftungsaffäre schnell abtrat.
 

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#79
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Versteckter Impfstoff für die ganze Welt
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Erfindergeist und Pionierarbeit prägen den Pharmastandort in Orth an der Donau. Seit der Eröffnung 1982 läuft hier – versteckt am Rande der Donau-Auen – etwa die Produktion des globalen FSME-Impfstoffes. Wegen Tierversuchen geriet der Standort einst in Kritik.

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Ruhe und Abgeschiedenheit – das waren die Gründe, weshalb sich die Immuno AG – bis zur Jahrtausendwende einer der größten Pharmabetriebe in Österreich – in Orth an der Donau (Bezirk Gänserndorf) niederließ. 1982 eröffnete das Unternehmen am Rande der Ortschaft, unmittelbar neben der Donau, ein biomedizinisches Forschungszentrum.

Dieses Forschungszentrum war vor allem den Gründern der Immuno AG, den Chemikern Johann Eibl und Otto Schwarz, ein großes Anliegen. In Wien sei der Platz dafür damals nicht vorhanden gewesen, erzählt Herwig Brudik, der seit 1989 am Standort arbeitet, mittlerweile als Produktionsleiter. In Orth weckte man stattdessen ein ehemaliges Sägewerk, das im Zweiten Weltkrieg völlig zerbombt wurde und über Jahrzehnte eine Ruine war, zu neuem Leben.

„Nie gedacht, dass die Firma so groß wird“
Die im Jahr 1960 gegründete Immuno AG errichtete zunächst 1966 in Wien das erste Plasmapheresezentrum Europas. Die Immuno AG beschäftigte sich mit der Fraktionierung von menschlichem Plasma, einem Impfstoff gegen FSME und der Herstellung von Fibrinkleber (Gewebekleber). „Es hat sich eine Firma angesiedelt, bei der man nie gedacht hat, dass sie einmal so groß wird“, erinnert sich der heutige Bürgermeister Johann Mayer, der auf der Baustelle damals auch sein erstes Praktikumsgeld verdiente.
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Das ehemalige Sägewerk in Orth an der Donau, das während des Zweiten Weltkrieges völlig zerstört wurde

Der Fokus in Orth lag zunächst auf der bakteriologischen Forschung, zusätzlich wurde hier auch die Qualitätskontrolle der Medikamente gebündelt, etwa von Blutplasmaprodukten. 1982 startete man mit etwa 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Der Großteil wurde von Wien ins Marchfeld gelockt, doch schon damals bekamen auch Einheimische Jobs. So gefiel etwa einem Lkw-Fahrer einer Betonfabrik der Standort so gut, dass er sich als Portier bewarb.

Rot-weiß-rote Erfolgsgeschichte
Die Produktion des bis heute bekannten FSME-Impfstoffes blieb zunächst noch in Wien verankert, wurde aber in den folgenden Jahren sukzessive von Wien ins Marchfeld verlagert. „Das Ziel war hier den Impfstoff zu verbessern und eine höhere Ausbeute zu erzielen“, sagt Brudik. Die Entwicklung des FSME-Impfstoffes gilt in der Branche heute auch als rot-weiß-rote Erfolgsgeschichte.

Zum ersten Mal nachgewiesen wurde das von Zecken übertragene FSME-Virus vor mehr als 100 Jahren in der Gegend von Wiener Neustadt. Christian Kunz vom Institut für Virologie der Universität Wien schaffte es 1973 erstmals, eine kleine Menge Versuchsimpfstoff zu entwickeln. „Mein Mitarbeiter, Dr. Hofmann, und ich haben uns gegenseitig geimpft und warteten ab, wie der Test ausgehen würde“, schilderte Kunz einst in einem Interview.

Bereits 1976 startete die Immuno AG mit der industriellen Herstellung des Impfstoffes. Zunächst wurden nur Risikogruppen wie Land- und Forstarbeiter geimpft. Nachdem im Jahr 1979 aber dennoch 677 FSME-Erkrankungsfälle dokumentiert wurden, startete 1981 die erste breit angelegte Informationskampagne – mit Erfolg: Die Durchimpfungsraten liegen seit Jahren konstant über 80 Prozent, wodurch die Erkrankungsfälle auf 50 bis 100 Fälle pro Jahr reduziert werden konnten.

Zeckengefahr
Viele Zeckenarten sind bedeutende Krankheitsüberträger. Einige von ihnen übertragen das FSME-Virus. Gegen die ausgebrochene Erkrankung gibt es keine Therapie, die Symptome der Erkrankung können nur so gut wie möglich gemildert werden. Es gibt auch keine Impfung danach. Ein Zeckenstich kann daher das ganze Leben verändern. Die FSME-Impfung gilt laut Expertinnen und Experten als die wichtigste Prävention und bietet den effektivsten Schutz gegen die Erkrankung.


Die Herstellung des Impfstoffs ist aber komplex. Ein einziger Produktionsdurchlauf dauert etwa neun Monate. Aktuell produziert Pfizer, das die Impfstoffproduktion 2014 übernahm, in Orth an die zehn Millionen Impfdosen pro Jahr. "Das Werk ist ein wichtiger Produktionsstandort, darauf sind wir stolz“, betonte Robin Rumler, Geschäftsführer der Pfizer Corporation Austria, im Jahr 2016, anlässlich des 40-jährigen Impfstoffjubiläums.
Auch, weil die Liste der Länder, in denen der FSME-Impfstoff gebraucht wird, mittlerweile immer länger werde. Allein in Europa gibt es heute etwa 30 Länder mit Endemiegebieten. Jährlich werden mehrere tausend Erkrankungsfälle gemeldet. FSME kommt jedoch auch in Russland und Übersee wie Asien vor. Auch in Österreich ist eine Ausbreitung zu beobachten, zum Beispiel in den Talgebieten Tirols, wo immer wieder neue Infektionsorte gefunden werden.

Pionierarbeit und „Forschergeist“
Diese Pionierarbeit war es auch, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Standort von Beginn an begeisterte. Brudik spricht gar von einer „Gründerzeitstimmung“: „Es war damals ein riesiger Forschergeist vorhanden, die Mitarbeiter waren motiviert, nach Orth zu kommen.“ Auch weil man noch nicht erahnen konnte, „wie sich das alles entwickeln wird“.

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Das Forschungszentrum in Orth wurde im Laufe der Jahres immer wieder erweitert – von anfänglich fünf bis heute auf 36 Gebäude

In dieser Zeit konzentrierte man sich zum einen auf virale Impfstoffe, andererseits auch auf die Herstellung von Antikörpern – aber alles im Stadium der Forschung und nicht der konkreten Entwicklung, betont Brudik. Denn normalerweise bekommt man als Mitarbeiter ein Produkt, „das dann 20 Jahre lang produziert wird“. Als reines Forschungslabor konnten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier aber mit vielen verschiedenen Viren unterschiedlicher Sicherheitsklassen arbeiten.

Brudik konnte etwa mit den hochansteckenden Vogelgrippeviren experimentieren, „wo wir wie in Science-Fiction-Filmen mit Anzügen mit eigener Belüftung gearbeitet haben, eine wahnsinnig spannende Zeit“. Ziel sei immer gewesen, etwas zu erfinden, „das den Menschen hilft“. Die Forschung war oft auch Basis für weitere Entwicklungen, die bis heute nachwirken. Dieses Wissen würde den Standort bis heute attraktiv machen, ergänzt der heutige Standortleiter, Marian Bendik.

Angst vor Kobaltkanone
Der Standort sei über die Jahre stetig gewachsen, wobei „nicht alles immer unumstritten war“, erinnert sich Bürgermeister Mayer. In den 1990er Jahren sollte etwa eine sogenannte Kobaltkanone zum Einsatz kommen – ein Strahlentherapiegerät, das als Quelle ihrer Gammastrahlung das Radionuklid Cobalt-60 enthielt. „Das ist in der Medizin etwas ganz Natürliches, zur gezielten Bestrahlung von Zellen“, sagt Mayer.
Doch in der Bevölkerung sorgte das für Angst und Aufregung, nach dem Motto: „Wir wollen nichts Atomares im Ort, wir wollen damit nichts zu tun haben“, erzählt der heutige Ortschef. Seitens der Gemeinde musste man viel Überzeugungsarbeit leisten. Zudem gab es Sorgen, was etwa passiert, „wenn es dort brennt“. Mit gemeinsamen Übungen der örtlichen und Betriebsfeuerwehr konnte man die Ängste abbauen, „und jetzt spürt man sie gar nicht mehr“.

Neuer Eigentümer aus dem Ausland
Bis Mitte der 1990er Jahre stieg die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf etwa 300. Allerdings wuchs in dieser Zeit auch die Erkenntnis, dass die Immuno AG am globalen Markt in seiner Größe nicht mehr mitspielen kann. Der Betrieb erwirtschaftete damals einen Umsatz von etwa 320 Millionen Euro. Deshalb wurde das Geschäft 1996 an den US-Konzern Baxter verkauft, der in Österreich bis dahin nur ein Vertriebsbüro hatte.
Damit begann laut Mayer ein großer Aufschwung: „Der Standort ist exorbitant gewachsen, man hat erst gemerkt, welches Potenzial hier vorhanden ist.“ Die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stieg auf mehr als 1.000, Baxter war damit auch der mit Abstand größte Steuerzahler und Orth war damals sogar eine Einpendlergemeinde, hatte also mehr Arbeitsplätze als arbeitende Bewohnerinnen und Bewohner.
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Der Pharmastandort liegt am Rande von Orth an der Donau bzw. des Nationalparks Donau-Auen

Diese Entwicklung machte die Gemeinde auch über die Region hinaus bekannt. „Jeder war stolz auf Orth, wenn man irgendwo hingekommen ist, wusste sofort jeder, dass Immuno bzw. Baxter dort ist“, erzählt Mayer, der damals schon Bürgermeister war. Der große Vorteil des Standorts sei gewesen, dass hier sowohl Entwicklung als auch Produktion stattfinden, ebenso die Qualitätskontrolle.

Das verschaffte Baxter nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 auf die Twin Towers in New York auch einen Großauftrag. Damals wurden laut Mayer – vor allem in den USA – „terrormäßig“ Pockenviren verschickt, weswegen sich die Vereinigten Staaten mit Impfstoffen rüsten wollten. Baxter erhielt den Zuschlag, „weil man eben alles an einem Standort erledigen konnte, was viel schneller ging“. Damals war sogar eine eigene Delegation aus Amerika in Orth, „weil sie das nicht glauben konnten“.

Versuchstierhaltung sorgt für Kritik
In der Öffentlichkeit wurde Baxter in dieser Zeit vor allem mit den Aids-Affen in Zusammenhang gebracht, die aus der Zeit unter Immuno AG in Orth für Forschungszwecke gehalten wurden. Ab Mitte der Achtzigerjahre wurden junge Schimpansen mit dem HI-Virus infiziert, um an ihnen die Wirksamkeit eines Impfstoffs gegen Aids zu testen. Rückblickend weiß man, dass der Versuch vergebens war, die Forschung konnte keine Erkenntnisse aus den Experimenten gewinnen, die an mehr als 40 Schimpansen durchgeführt wurden.

Nach der Firmenübernahme stand Baxter vor der Frage: Wohin mit den schwer versehrten Schimpansen, von denen einige mit gefährlichen Erregern infiziert sind? Schließlich wurden die 150 Affen, darunter 45 Schimpansen, in eine von Baxter finanzierte Anlage im Safaripark Gänserndorf gebracht. Nach dessen Konkurs im Jahr 2004 übernahm fünf Jahre später Gut Aiderbichl die Betreuung der Tiere.

Der Großteil der Tiere stammte aus Wildfängen aus Westafrika. Um Schimpansenbabys zu fangen, wurden die erwachsenen Tiere von Affenfängern getötet. Seit 2006 sind Versuche an Menschenaffen in Österreich verboten. Im Interview mit noe.ORF.at will man sich bei Takeda, dem heutigen Standortbetreiber, dazu nicht weiter äußern – nur so viel: „Die Forschung für lebensrettende Therapien hat sich in den letzten Jahrzehnten wesentlich weiterentwickelt.“

Hilfe bei Bluterkrankheit
Im Forschungszentrum Orth wurden unterdessen insbesondere Impfstoffe und gentechnisch gewonnene therapeutische Proteine entwickelt. Das betraf etwa ein gentechnisch hergestelltes Faktor-VIII-Konzentrat zur Behandlung der Hämophilie A, das im Herstellungsprozess ohne Zusatz von menschlichen oder tierischen Plasmaproteinen auskommt. Patienten mit Hämophilie A können den für eine wirksame Blutgerinnung notwendigen Gerinnungsfaktor VIII nicht oder nicht ausreichend bilden.

Ohne die Zufuhr von solchen Präparaten kommt es zu häufigen und schmerzhaften Blutungen, vor allem in den Gelenken, teilte Baxter 2007 in einer Aussendung mit. Ohne Behandlung würden die von der schweren Form dieser Erkrankung betroffenen Patientinnen und Patienten oftmals schon im Kindesalter sterben. Durch prophylaktische Behandlung würden die Patientinnen und Patienten eine weitgehend normale Lebenserwartung erreichen.

Schnellere Impfstoffproduktion
Als weiteren medizinischen Meilenstein für die Herstellung von Impfstoffen entwickelten Forscher in Orth die Vero-Zell-Technologie. Damit war Baxter 2007 etwa in der Lage – während weltweit über eine Ausbreitung des Vogelgrippe-Virus gerätselt wurde – in nur zwölf Wochen einen Impfstoff herzustellen. Das war deutlich schneller als mit bebrüteten Hühnereiern, die damals bei der herkömmlichen Produktion von Grippeimpfstoffen eingesetzt wurden.

„Die Vero-Zell-Technologie, die wir in Orth entwickelt haben, hat sich als Plattform für die Herstellung von ganz unterschiedlichen Impfstoffen bewährt“, meinte damals Noel Barrett, Baxter-Vorstand und verantwortlich für die Forschungsaktivitäten. Durch die Technologie erhielt das Pharmaunternehmen neben dem H5N1-Impfstoff auch Aufträge zur Entwicklung bzw. Herstellung von SARS- und Pockenimpfstoffen. „Unsere Impfstoffkompetenz ist weltweit anerkannt“, sagte Barrett.

Laborfehler bei der Impfstoffentwicklung
Anfang 2009 wurde experimenteller Impfstoff, der mit Vogelgrippe-H5N1-Viren kontaminiert war, von Baxter Österreich jedoch an mehrere europäische Laboratorien versandt. Der gefährlichere Subtyp des Influenzavirus wurde mit dem harmloseren Subtyp der saisonalen Influenza vermischt. Als in einem Labor in Tschechien Versuchstiere starben, wurde die Verwechslung aufgedeckt. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mit den Proben in Kontakt gekommen waren, wurden prophylaktisch antiviral behandelt.

Baxter gab gegenüber den Behörden eine Stellungnahme zum Hergang des Unfalls ab. Das österreichische Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen führte eine Inspektion der Produktionsstätte durch und das Material wurde vernichtet. Auch dazu will man sich in Orth heute nicht mehr äußern. „Die Ereignisse betreffen ein Vorgängerunternehmen. Nach dem Ereignis wurden auf globaler Ebene umfassende Sicherheitsmaßnahmen eingeführt.“

450 Mitarbeiter verlieren Jobs
Mitte der 2010er Jahre folgte für den Standort ein herber Schlag. Nachdem der irische Pharmakonzern Shire Baxter bzw. Baxalta übernahm, wurde in Orth drastisch eingespart, 450 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verloren ihren Job. Bereits 2014 wurde auch die Impfstoffproduktion an Pfizer verkauft. „Damit ist viel Know-how und die Fähigkeit, Impfstoffe zu produzieren, verloren gegangen“, sagte der heutige Standortleiter Marian Bendik.

Allerdings wurden damals schon die Weichen für die Entwicklung von Gentherapie gelegt, eine Veränderung, die nur langfristig möglich sei, wie Bendik betont. Heute gehört der Pharmastandort zum globalen biopharmazeutischen Unternehmen Takeda – einer japanischen Pharmafirma, die 2019 wiederum Shire übernahm, und sich auf Produkte gegen seltene bzw. komplexe Erkrankungen konzentriert.

Neue Pharmastrategie
In Orth an der Donau liegt der Fokus deshalb auf der Herstellung von Gen- und Zelltherapieprodukten und Biologika, was eine Vielzahl der modernsten pharmazeutischen Anwendungen umfasst, erzählt Bendik: „Innovation liegt in unseren Genen. Mit unserer Gen- und Zelltherapieplattform haben wir eine Spitzentechnologie zur Verfügung und sind stolz auf unsere Innovationskraft."
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Takeda/Jürgen Hammerschmid
Bei Takeda konzentriert man sich heute in Orth auf die Herstellung von Gen- und Zelltherapieprodukten und Biologika

Ziel sei es damit, „eine potenzielle Heilung der Patienten“ zu erreichen, sagt Bendik. Derzeit müssen etwa Patientinnen und Patienten zweimal pro Woche Medikamente einnehmen, mit der Gentherapie soll künftig eine einzige Verabreichung bzw. viel weniger ausreichen, erzählt der Pharmaexperte, der den Patienten damit „potenziell geheilt“ sieht. Derzeit durchlaufen mehrere Medikamente klinische Testungen.

Orth ist im Takeda-Konzern auch der Standort, an dem das für die Gentherapie nötige Material auch gleich produziert wird. Zudem werden hier etwa 30 kommerzielle Produkte, nämlich Biologika, plasmabasierte Produkte und Gentherapien, die weltweit hergestellt werden, auf deren Qualität kontrolliert und bekommen letztlich die Freigabe für den Markt oder nicht.

Ein Standort mit Zukunft
„Takeda ist von unserer Expertise sehr abhängig“, sagt Bendik. Deshalb sieht er den Standort in Orth auch gut abgesichert, ebenso wegen den „Know-hows der Mitarbeiter, das ist einzigartig“, und das würde sich in einer für die Branche langen Betriebszugehörigkeit widerspiegeln. Das sei auch notwendig, immerhin dauert die Entwicklung von solchen Medikamenten viele Jahre und bedeutet für den Konzern immer auch ein hohes Risiko.

Takeda/Anna Rauchenberger
Das Forschungszentrum in Orth sieht man bei Takeda für die Zukunft gut abgesichert

Neben Takeda sind am Standort in Orth auch Pfizer und das deutsche Pharmaunternehmen Evotec tätig. Und trotz der großen Bedeutung des Standortes auch in der Vergangenheit würde er von vielen – selbst in der Branche – nach wie vor unterschätzt, sagt Bendik: „Wenn man nach Orth auf Google Maps sucht, sieht man einen kleinen Standort, verglichen mit Wien oder Boston, aber wenn sie einmal hier sind, sind sie immer sehr positiv überrascht.“

Davon erzählt auch Bürgermeister Johann Mayer, der mit der Übernahme von Takeda vor zwei Jahren „jetzt wieder einen Aufschwung“ bzw. „ein stetiges Wachstum“ erkennt, was eine Bestätigung für den Standort sei. Immerhin sei bei der Gründung „niemand auch nur annähernd auf die Idee gekommen, dass dieser Standort einmal zu einem international tätigen Pharmakonzern gehören wird und dadurch weltweit bekannt und anerkannt ist“.
06.08.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at

Link:
Bericht zum ehemaligen Sägewerk Orth

Versteckter Impfstoff für die ganze Welt
 

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Giftfässer in Deponie verseuchen Grundwasser
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Der Umweltskandal um die Fischer-Deponie in Theresienfeld (Bezirk Wiener Neustadt) gilt als einer der größten im Land. Das Grundwasser in einem der größten Wasserspeicher Mitteleuropas war akut gefährdet. Ein Rechtsstreit verhinderte rasche Maßnahmen.
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Ein Todesfall in einer Wiener Neustädter Chemiefabrik brachte den Umweltskandal ins Rollen. In einem Brunnenschacht war Mitte August 1981 ein Arbeiter verunglückt. Die Obduktion ergab, dass der Mann an Dämpfen, die eine zu hohe Konzentration an chlorierten Kohlenwasserstoffen enthielten, gestorben war. Bei den Behörden löste das Alarmsignale aus.

Unmittelbar hatte dieses Erkenntnis keine Folgen – erst im April 1982 als im Gemeindebrunnen von Bad Fischau-Brunn ebenfalls größere Mengen Kohlenwasserstoffe nachgewiesen wurden, „die dort das Grundwasser kontaminierten“, erzählt der niederösterreichische Umweltanwalt Thomas Hansmann. Der Brunnen wurde gesperrt, weitere Untersuchungen führten zu Sperren in der ganzen Region.

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1982 stellte man erstmals fest, dass giftige Chemikalien aus der Fischer-Deponie das Grundwasser kontaminieren

Grundwassersee für zehntausende Menschen
Die Region liegt inmitten der Mitterndorfer Senke, „einem der wesentlichsten Grundwasserkörper Mitteleuropas“, betont Hansmann. Der Bereich verläuft vom Raum Neunkirchen und dem Steinfeld über Ebreichsdorf (Bezirk Baden) und Mitterndorf (Bezirk Baden) bis Fischamend (Bezirk Bruck an der Leitha). Die Wasseroberfläche der etwa 40 Kilometer langen Senke ist in weiten Teilen nahe an der Oberfläche. Der Wasserzufluss erfolgt großteils über Schmelzwasser aus dem Schneeberggebiet.

Zahlreiche Gemeinden bezogen aus dem riesigen Grundwassersee auch ihr Trinkwasser. In Ebreichsdorf bangten hunderte Haushalte um die Qualität ihres Trinkwassers. Im Ort wurden eigene Entnahmestellen eingerichtet, die kontrolliertes Wasser beinhalteten. Doch viele Bewohner blieben skeptisch und nutzten fortan nur noch Mineralwasser – zum Kochen, für den Kaffee oder zum Zähne putzen – teilweise auch noch Jahre später.

Über die Verursacher dieser Verseuchungen gibt es damals nur wage Vermutungen: Die Industrie im Raum Wiener Neustadt und Ternitz (Bezirk Neunkirchen) sowie die zahlreichen wilden Mülldeponien in aufgelassenen Schottergruben. Eine davon war die Fischer-Deponie bei Theresienfeld (Bezirk Wiener Neustadt), die seit 1972 als Abfallstätte von Industrie- und Gewerbemüll genutzt wurde, sagt Hansmann: „Wo sehr viel eingebracht wurde, und man hat nicht genau gewusst, was das überhaupt ist.“

Gesetzeswidrige Deponie
Deshalb warnten Experten von Beginn an eindringlich vor möglichen Risiken für die Umwelt, vor allem wegen des hoch durchlässigen Schotterbodens. Denn obwohl die Sohle der Grube im Bereich der Grundwasserschwankungen lag, wurden keine technischen Vorkehrungen zum Grundwasserschutz getroffen, die Deponie wurde von der Behörde ohne Auflagen bewilligt. „Das hätte aber damals nach dem Wasserrecht nicht passieren dürfen“, betont der Umweltexperte.

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Laut Umweltanwalt Thomas Hansmann hätte die Fischer-Deponie so nicht bewilligt werden dürfen

Auch in mehreren Gutachten wurde immer wieder auf die Risiken hingewiesen. „Die Warnsignale gab es sehr wohl“, sagt Hansmann gegenüber noe.ORF.at. Warum diese bei der Bewilligung nicht entsprechend berücksichtigt wurden? Diese Frage habe sich nie herausfinden lassen. „Böswillig war es sicher nicht“, meint Hansmann, „aus heutiger Sicht war es nachlässig.“

Unklare Verantwortung
Den Betreibern war das egal. Ab 1972 wurden in der aufgelassenen Schottergrube Fässer abgelagert – zunächst von der Firma Waxina, später vom namensgebenden Pächter Johann Fischer. Ob unter seiner Verantwortung und mit seinem Wissen auch Giftfässer deponiert wurden, konnte nie abschließend geklärt werden. Jedenfalls wurde weit mehr deponiert als bewilligt war, darunter auch mit Öl kontaminierter Erdaushub und Hausmüll.
Ein Jahrzehnt nach der Inbetriebnahme rächte sich das. 1982 stellte man erstmals fest, dass giftige Chemikalien, vor allem chlorierte Kohlenwasserstoffe, aus der Fischer-Deponie das Grundwasser kontaminieren. Die zuständige Behörde in Wiener Neustadt stellt in weiterer Folge immer wieder Missstände fest und leitete zahlreiche Verfahren ein. Zwischen Behörde und Deponiebetreiber entbrannte ein Rechtsstreit.

Hansmann verweist in diesem Zusammenhang auf einen Konflikt zwischen dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrecht auf Eigentum und dem Umweltrecht, dass sich „spießen“ könne. Die Behörde dürfe nicht einfach ein Grundstück betreten und messen. „Das ist sehr, sehr schwierig. Und insbesondere zur damaligen Zeit war es sehr schwierig.“ Ohne Zustimmung des Eigentümers seien Untersuchungen damals, wie übrigens auch noch heute, schwer durchzuführen.

500 illegale Giftfässer
1985 wurden mehr als 500 illegal gelagerte Fässer mit hochgiftigen Farb- und Lackrückständen entdeckt, die zum Teil 20 Meter tief in der Erde vergraben waren. Die Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt ließ als Sofortmaßnahme die Fässer bergen, viele waren allerdings verrostet und undicht, ein Teil des giftigen Inhalts war bereits ins Erdreich gelangt.

„Die Fischer-Deponie war eine der größten Umweltsünden und eine der größten Gefahren für das Grundwasser in der Geschichte Niederösterreichs“, sagt der Umweltanwalt des Landes rückblickend. Und trotzdem konnte der Betreiber weitere Fässer in die Deponie einbringen – vor allem weil Fischer bereits bestehende Räumungsfristen immer wieder aufheben ließ.

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Schematische Darstellung der Grundwasserreinigung im Zusammenhang mit der Sanierung der Fischer-Deponie
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Betriebsgebäude für die Grundwasserreinigung im Zuge der Sanierung der Fischer-Deponie

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Aktivkohlefilter zur Reinigung des Grundwassers im Bereich der Fischer-Deponie

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Erst im Jahr 1987 – nachdem sich der Namensgeber und Besitzer der Deponie samt Müll-Millionen rechtzeitig Richtung Karibik abgesetzt hatte – gelang es der Behörde diese zu schließen. Umso schneller begannen erste Sofortmaßnahmen. So wurde etwa rund um die Deponie eine Sperrbrunnenreihe errichtet, „damit aus dem Bereich wirklich nichts mehr hinaus kommt“. Bis die Grundwasserwerte wieder einen Normalbereich erreicht hatten, sollte es bis in die 1990er Jahre dauern.

„Ein ungeregelter Bereich“
Für die damalige Zeit waren solche Formen der Deponie keine Seltenheit, weiß der Umweltexperte. In vielen Regionen und Gemeinden gab es „wilde“ Deponien, Vieles wurde aber auch einfach verbrannt bzw. in den Wäldern oder in Flüssen entsorgt. „Es war wirklich ein ungeregelter Bereich.“ Ein Umweltbewusstsein gab es in der heutigen Form einfach nicht.

Generell sei der Begriff Umwelt erst ab Mitte der 1970er Jahre Thema geworden, auch in den Gesetzen. Maßgeblich dafür war zunächst die Diskussion um das Atomkraftwerk Zwentendorf (Bezirk Tulln), ebenso die Angst vor dem Waldsterben bzw. dem Sauren Regen bis zur Besetzung der Hainburger Au (Bezirk Bruck an der Leitha) – im Kampf gegen das geplante Donaukraftwerk. „Es war eigentlich eine gesellschaftspolitische Erkenntnis, dass Umweltschutz und die Umwelt wichtig sind.“

Umwelt gewinnt an Bedeutung
Das erste Müllbeseitungsgesetzt wurde in Niederösterreich 1972 beschlossen. Damals war aber nur der Bereich der Müllabfuhr geregelt, betont Hansmann. Zwei Jahre später wurde die NÖ Umweltschutzanstalt gegründet und ein Umweltschutzgesetz beschlossen, in dem erstmals Maßnahmen zur Entsorgung und Verwertung von Müll und Abfallstoffen an geeignetten Standorten und mit geeigneten Methoden vorgeschrieben wurden.
Damit wurde das Thema Abfall erstmals dem Umweltbereich zugeordnet, davor war der Handel zuständig. „Damit war Niederösterreich ganz weit vorne.“ Die erste Deponie wurde Mitte der 1970er Jahre in Lilienfeld gebaut. In den folgenden Jahren wurden zudem überregionale Verbände geschaffen, sodass man auch dort „relativ schnell“ einige Deponien errichten konnte, die dem Stand der Technik entsprachen.
Die wirtschaftliche Verwertung von Abfällen – also das Thema Abfallwirtschaft – folgte erst 1989. Im gleichen Jahr wurde auch das Altlastensanierungsgesetzt beschlossen, „wo man sich mit der rechtlichen Grundlage für die Sanierung von Deponien beschäftigt hat“. Und mit dem ebenfalls beschlossenen Altlasten-Sanierungsbeitrag sei auch eine finanzielle Hilfe bei der Sanierung eingeführt worden, etwa bei der Fischer-Deponie.

Thomas Heigl
Die wirtschaftliche Verwertung von Deponie-Abfällen begann in Österreich erst Ende der 1980er Jahre

Eine der wichtigsten Etappen beim Thema Umweltschutz war schließlich der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union: Angefangen bei den Natura-2000-Gebieten, Vogelschutz-Richtlinien, Artenschutz, die Wasserrahmenrichtlinie, beim Thema Abfall aber auch die Vorgabe von heute selbstverständlichen Umweltverträglichkeitsprüfungen. „Da wurde der Umwelt-Gedanke einfach größer gedacht.“

Lobbyisten der Umwelt
Mitte der 1980er Jahre wurde übrigens auch erst die Umweltanwaltschaft in Niederösterreich gegründet. Infolge der Proteste in Hainburg stellte man fest, dass „die Interessen von Natur und Umwelt in den Behördenverfahren zu wenig Berücksichtigung finden“ und man deshalb „eine unabhängige und leistungsfähigere Einrichtung“ braucht – mit dem einzigen Ziel, die Interessen der Umwelt zu vertreten, „weil sie sich ja nicht selbst vertreten kann.“

In diesem Zusammenhang war man schließlich auch in die aufwändige Räumung und Sanierung der „Altlast N1“, wie die Fischer-Deponie genannt wurde, involviert, die sich über Jahrzehnte hinziehen sollte und damals das größte Altlastensanierungsprojekt Europas war. Viele Anrainerinnen und Anrainer sowie Umweltschützerinnen und -schützer kritisieren die lange Dauer der Sanierung.

Beginn einer Mammutaufgabe
Allerdings mussten bei der Räumung der 760 Meter langen, 80 Meter breiten und im Schnitt 18 Meter tiefen Deponie mehr als 930.000 Tonnen teils giftige Abfälle entfernt werden. Darunter befanden sich auch 14.875 Fässer und Fassfragmente, die mit Hilfe von Metalldetektoren aufgespürt worden waren. Deren Inhalt: Lösungsmittel, Öle, Teere und teils hoch toxische Chemikalien. Während der Arbeiten stießen Techniker auch auf kontaminierte Flächen, deren Existenz zuvor unbekannt gewesen war.

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Erst Anfang der 2000er Jahre beginnt die Sanierung der Fischer-Deponie
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Die Arbeiten ziehen sich über drei Jahre

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Fast eine Million Tonnen teils giftiger Abfall müssen entsorgt werden

„Wir arbeiten uns in Fünf-Meter-Schichten durch den Schotter bis die Giftkonzentrationen nachlassen“, schilderte damals Techniker Michael Haslehner von der Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt. Bis zu 30 Leute arbeiteten in etwa zwanzig Meter Tiefe inmitten von Schotter, der an vielen Stellen in verschiedensten Farben schillert. Vielfach benötigt das Personal immer noch Schutzanzüge und Gesichtsmasken.

„Gefühl, direkt in einer Lackdose zu sitzen“
Die eingesetzten Bagger waren allesamt mit Druckkabinen ausgerüstet, damit keine Gase hineindringen können. Dabei sei die Schadstoffbelastung in der kalten Jahreszeit eigentlich noch vergleichsweise harmlos, berichtete Roman Rusy, Pressesprecher der Arge Räumung Fischer-Deponie, damals. Im Sommer indes, so Rusy, habe man in der Grube an manchen Stellen das Gefühl, direkt in einer Lackdose zu sitzen.

In der zweiten Räumungsphase mussten abschließend noch weitere knapp 700.000 Tonnen verunreinigtes Erdreich und Schotter entsorgt werden, „bis man endlich wieder auf normale Werte im Grundwasser gekommen war, die eben nicht gesundheitsgefährdend sind“, sagt Hansmann.

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Aus Kostengründen wurde die Fischer-Deponie nicht mehr aufgefüllt, sondern der Natur überlassen

Die gefährlichen Abfälle wurden in 20 moderne Deponien gebracht oder verbrannt. An Spitzentagen habe man mehr als 6.000 Tonnen Abfälle entsorgt. Das war auch eine gigantische logistische Herausforderung. Drei Jahre lang werden täglich 160 Lkw-Ladungen Deponiematerial abtransportiert.

Der letzte Lkw verlässt Theresienfeld
Erst im Jahr 2005 – 21 Jahre nach Auffinden der ersten Giftspuren im Trinkwasser – wurde eines der wichtigsten Kapitel im Umweltskandal rund um die Mitterndorfer Senke geschlossen: Die letzte Lkw-Ladung mit verunreinigtem Erdreich verließ Theresienfeld, die Sanierung der Fischer-Deponie war abgeschlossen. Damit ging „eine lange Geschichte zu Ende“, sagte damals Umweltlandesrat Josef Plank.

Die Räumung galt als die bisher größte in Österreich durchgeführte Verwaltungsexekution. Die Gesamtkosten für die Räumung betragen 130 Millionen Euro – und mussten vom Steuerzahler übernommen werden. Aus Kostengründen entschied man sich auch gegen eine Auffüllung der Deponie, stattdessen wurde sie nur begrünt.

Dutzende Altlasten vor Sanierung
Im Laufe der folgenden Jahre wurden in Niederösterreich zahlreiche weitere Altlasten entdeckt. Laut Umweltbundesamt sind es fast 100 Flächen, die nach und nach mit Millionenaufwand saniert werden mussten. Das betraf etwa die Angerler-Grube, wo Fischer Pächter war. Die Hälfte dieser Altlasten muss in Niederösterreich noch saniert werden, darunter mehrere Deponien als auch ehemaligen Industrie- und Gewerbebetriebe (siehe Link unten).

Auch deshalb seien laut Hansmann viele Bewohnerinnen und Bewohner von Theresienfeld „sehr, sehr vorsichtig“, wenn es heute um neue Deponiepläne geht. Der Umweltskandal habe die Menschen nachhaltig geprägt und sei damit „mehr oder weniger auch eine mentale Altlast“.
08.08.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at

Link:
Giftfässer in Deponie verseuchen Grundwasser
 
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