Im heutigen Beitrag widme ich mich einer Phase der österreichischen Geschichte, die im Vergleich zu heute ungeheuer gewalttätig war: der Ersten Republik und dem austrofaschistischen Ständestaat. Die Probleme, die Österreich nach dem Ersten Weltkrieg bewältigen musste, verlangten den Politikern alles ab, sorgten in der Bevölkerung für Frust und Ausweglosigkeit und boten dadurch extremen Sichtweisen einen fruchtbaren Nährboden. Gewalt war an der Tagesordnung.
Arbeitslosigkeit, Putschversuche, Wirtschaftskrise, Parteiarmeen, Geldentwertung, Schießereien, massive innenpolitische Spannungen zwischen den Parteien, Hetzpropaganda, Gewaltsprache, Attentate, Schattendorf und Justizpalastbrand, Straßenschlachten, aufkeimender Nationalsozialismus und dessen Terroranschläge, Bürgerkrieg, Diktatur, Faschismus – die Jahre von 1918 bis 1938 waren ein konstanter Strudel der Gewalt, der im Nationalsozialismus vollständig eskalierte.
Am Beispiel zweier bekannter Politiker – Ignaz Seipel und Engelbert Dollfuß – zeige ich mit diesem Artikel, welch gefährliches Leben in der Öffentlichkeit stehende Menschen damals führten.
Die Texte, die nun folgen, sind Zitate aus Leopold Kunschaks Buch „Österreich 1918–1934“, das er 1935 herausgebracht hat. Kunschak war ein demokratisch denkender christlichsozialer Nationalratsabgeordneter und somit Parteikollege von Seipel und Dollfuß. Letzterem stand er jedoch spätestens nach dessen diktatorischer Machtentfaltung ab 1933/1934 reserviert gegenüber.
In seinen Ansichten war Kunschak stark antisemitisch. Aus heutiger Sicht erscheint er deshalb als schwer greifbarer Politiker, der einerseits versuchte, diktatorischen Bestrebungen entgegenzuwirken und andererseits durch antijüdische Rhetorik dem Rassenhass Tür und Tor öffnete. Aus der Gewalt der Sprache entstand die Gewalt der Tat.
Aus seinen Texten geht hervor, dass keine Partei der damaligen Zeit allzu zimperlich mit den Werkzeugen Sprache und Beeinflussung umging. Findet man heute Hetze und Antiausländerpropaganda vor allem im rechten bzw. konservativen Spektrum der politischen Landschaft, so bedienten sich damals auch die Sozialdemokraten dieser abzulehnenden Vorgehensweise.
Ignaz Seipel
Von 1922 bis 1924 dauerte Ignaz Seipels erste Amtszeit als österreichischer Bundeskanzler. Sein Hauptverdienst in diesem Zeitraum stellte die erfolgreiche Bitte um Anleihen des Völkerbunds dar, mit deren Hilfe die österreichische Wirtschaft angekurbelt werden sollte, nachdem sein Vorgänger Johann Schober in dieser Frage nur Teilerfolge erzielen konnte. Seine zweite Amtszeit währte von 1926 bis 1929. 1932 starb er an den Folgen einer Krankheit.
Im Kapitel „Mordhetze gegen Dr. Seipel“ beschreibt Kunschak die Agitation des politischen Mitbewerbs, die sich gegen den Bundeskanzler richtete:
„Mißgestimmt durch den schweren Mißerfolg bei den Wahlen des Jahres 1923 entfalteten die Sozialdemokraten nunmehr eine beispiellose persönliche Hetze gegen Dr. Seipel. Ihren Gipfelpunkt erreichte diese Hetze wohl in dem abscheulichen Haßgesang, den die jugendlichen Sozialdemokraten auf allen Straßen nach der Melodie „Was kommt dort von der Höh'“ brüllten:
Und an die Gaslatern,
Und an die Gaslatern,
Da hängen wir die hohen Herrn.
Ja, ja, die hohen Herrn,
An eine Gaslatern!
Wer wird der erste sein?
Wer wird der erste sein?
Das wird der Herr von Seipel sein.
Ja, ja, der Seipel sein,
Das wird Herr Seipel sein!
Nur zu bald und zu gräßlich hatte diese Hetze blutige Frucht gezeitigt. Am 1. Juni 1924 kehrte Dr. Seipel von einer Reichsbundkundgebung aus dem Burgenland heim, als ihm am Südbahnhof ein Fanatiker den Weg vertrat und mehrere Revolverschüsse gegen seine Brust abfeuerte. Schwer verwundet wurde der Kanzler in das nahegelegene Wiedner Krankenhaus gebracht, woselbst er durch einige Tage zwischen Leben und Tod schwebte. Am 3. Juli konnte er das Spital verlassen, doch erst am 29. September war er so weit hergestellt, um wieder seine Arbeit als Bundeskanzler voll aufnehmen zu können.“*
Erinnerungstafel an Ignaz Seipel. Über seinem Bild ist das Kruckenkreuz als Symbol der „Vaterländischen Front“ zu sehen, die die Einheitspartei im Ständestaat darstellte. Eine Besonderheit ist der Hinweis auf das Datum eines Schussattentats.
1927 entging Seipel nur knapp einem weiteren Attentat, wie wir im Kapitel „Seipel, der Mann mit den eisernen Nerven!“ bei Kunschak lesen können:
„Zur Zeit der heftigsten Kämpfe, als der Feuerschein des brennenden Justizpalastes in den Fenstern des Bundeskanzleramtes sich spiegelte, sprachen die Herren Seitz [Karl Seitz, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und Bürgermeister von Wien], Bauer [Otto Bauer, sozialdemokratischer Nationalratsabgeordneter und stellvertretender Parteichef der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei] und Danneberg [Robert Danneberg, sozialdemokratischer Präsident des Wiener Landtages] bei Bundeskanzler Dr. Seipel vor, um ihm zu sagen, daß eine Katastrophe für Österreich nur noch durch seinen Rücktritt vermieden werden könnte. Dr. Seipel antwortete diesen Herren fest und ruhig:
‚Wenn irgend jemand abzutreten hat, dann sind Sie es, meine Herren!‘
Ohne noch eines weiteren Wortes gewürdigt zu werden, mußten die Herrschaften abziehen.
In den Nachmittagsstunden bis gegen neun Uhr abends weilte ich im Büro des Kanzlers, das er um diese Zeit verließ. Ich riet dem Kanzler dringend an, die Nacht im Kanzleramte zu verbringen, er lehnte entschiedenst ab. Ich bat ihn, er möge doch wenigstens die weite Fahrt durch die revoltierenden Außenbezirke nach Hütteldorf unterlassen und sich in seine ständige Wohnung im dritten Bezirk begeben, auch das lehnte er ab und fuhr unbehelligt nach Hütteldorf.
Am Morgen des anderen Tages auf der Fahrt in das Kanzleramt wäre es ihm bald sehr schlimm ergangen. Bei der ehemaligen Mariahilferlinie mußte der Wagen wegen der Menschenansammlungen das Tempo mäßigen, dies benützte ein Fanatiker zu einem Sprung auf das Trittbrett des Autos mit der unverkennbaren Absicht eines Attentates. Der geistesgegenwärtige Kriminalbeamte, der Dr. Seipel begleitete, stieß den Mann vom Trittbrett hinunter, der Chauffeur schaltete auf das schnellste Tempo um und so entkam Dr. Seipel der Gefahr.
Die Revolte war schließlich zu Ende gegangen in einer Weise, die der Ordnungsgewalt des Staates vollste Geltung verschafft hatte. Leider kostete die Niederringung der Revolte das Leben von fünf Angehörigen der Polizei und 77 Angehöriger des Zivilstandes, darunter vieler völlig unbeteiligter Personen.“**
Engelbert Dollfuß
Ab 1927 trat Dollfuß in leitenden Positionen in Erscheinung. In diesem Jahr wurde er zum Direktor der niederösterreichischen Landeslandwirtschaftskammer. 1931 übte er das Amt des Bundesministers für Land- und Forstwirtschaft aus, ab Mai 1932 das des Bundeskanzlers.
Schon am 3. Oktober 1933 erfolgte ein Attentat auf Engelbert Dollfuß. Im Kapitel „Mordattentat auf den Bundeskanzler“ lesen wir:
„Ein der Zugehörigkeit zur Nationalsozialistischen Partei überwiesener junger Mann lauerte an diesem Tage dem Bundeskanzler durch Stunden hindurch im Eingangsraume zum Christlichsozialen Klub auf, nachdem er vorher schon vergeblich versucht hatte, an den Kanzler in dessen Wohnung und im Bundeskanzleramt heranzukommen.
Als der Bundeskanzler um 2 Uhr nachmittags den Christlichsozialen Klub verließ, trat der Mann in raschem Schritt auf den Bundeskanzler zu und feuerte gegen dessen Brust zwei Schüsse ab, von denen der erste den Körper des Kanzlers in der Herzgegend, der andere in den Arm traf. Durch ein Wunder – eine andere Auslegung gibt es nicht – versagte die Durchschlagskraft der ersten Kugel und erzeugte nur eine Prellung mit Blutunterlaufung auf der Brust, die zweite Kugel durchbohrte den Arm.
Der Kanzler, der während des ganzen Vorfalles eisige Ruhe bewahrte, begab sich sofort auf die Klinik, woselbst die Verwundungen untersucht und die entsprechenden Verbände angelegt wurden, worauf sich der Kanzler in häusliche Pflege begeben konnte. Alle gutgesinnten Oesterreicher atmeten erleichtert auf ob dieser wunderbaren Errettung aus eminenter Todesgefahr und dankten Gott in zahllosen kirchlichen Feiern.“***
Erinnerungstafel an Engelbert Dollfuß. Auch hier ist das Kruckenkreuz zu sehen. Ebenso wie bei der obigen Tafel für Ignaz Seipel findet sich hier der ungewöhnliche Hinweis auf ein Attentat.
Am 25. Juli 1934 wurde Dollfuß im Zuge eines nationalsozialistischen Putschversuchs ermordet. Die Christlichsozialen zimmerten daraus die Legende des Bundeskanzlers, der sein Leben im Kampf gegen die Errichtung einer nationalsozialistischen Diktatur opferte – für sie galt er ab nun als „Märtyrerkanzler“.
Der Tod Dollfuß‘ war jedoch nicht das Ende des Austrofaschismus. An seine Stelle trat Kurt Schuschnigg, der aber nie die Beliebtheit seines Vorgängers erreichte. Im Zuge der Ereignisse, die am 12. bzw. 13. März 1938 zum „Anschluss“ Österreichs an Deutschland führten, trat er am 11. März zurück. Damit endete die Phase des Ständestaats, die Gewalt des Nationalsozialismus setzte sich noch sieben Jahre fort.
* Leopold Kunschak, Österreich 1918–1934 (Wien 1935), Seite 81.
** Ebenda, Seite 91/92.
*** Ebenda, Seite 201/202.
Mehr zu den Jahren von 1918 bis zum „Anschluss“:
1918 bis zum „Anschluss“ – Worte im Dunkel
Zum Weiterlesen:
Walter Goldinger, Dieter A. Binder, Geschichte der Republik Österreich 1918–1938 (Wien 1992)
Leopold Kunschak, Österreich 1918–1934 (Wien 1935)
Wilhelm J. Wagner, Bildatlas der österreichischen Zeitgeschichte 1918–1938 (Wien 1992)
Wien Geschichte Wiki, Engelbert Dollfuß, online unter:
Engelbert Dollfuß – Wien Geschichte Wiki (8. März 2020)
Wien Geschichte Wiki, Ignaz Seipel, online unter:
Ignaz Seipel – Wien Geschichte Wiki (8. März 2020)
Link zum Originalbeitrag: 1924 bis 1934 – Angeschossen und ermordet – Worte im Dunkel
Arbeitslosigkeit, Putschversuche, Wirtschaftskrise, Parteiarmeen, Geldentwertung, Schießereien, massive innenpolitische Spannungen zwischen den Parteien, Hetzpropaganda, Gewaltsprache, Attentate, Schattendorf und Justizpalastbrand, Straßenschlachten, aufkeimender Nationalsozialismus und dessen Terroranschläge, Bürgerkrieg, Diktatur, Faschismus – die Jahre von 1918 bis 1938 waren ein konstanter Strudel der Gewalt, der im Nationalsozialismus vollständig eskalierte.
Am Beispiel zweier bekannter Politiker – Ignaz Seipel und Engelbert Dollfuß – zeige ich mit diesem Artikel, welch gefährliches Leben in der Öffentlichkeit stehende Menschen damals führten.
Die Texte, die nun folgen, sind Zitate aus Leopold Kunschaks Buch „Österreich 1918–1934“, das er 1935 herausgebracht hat. Kunschak war ein demokratisch denkender christlichsozialer Nationalratsabgeordneter und somit Parteikollege von Seipel und Dollfuß. Letzterem stand er jedoch spätestens nach dessen diktatorischer Machtentfaltung ab 1933/1934 reserviert gegenüber.
In seinen Ansichten war Kunschak stark antisemitisch. Aus heutiger Sicht erscheint er deshalb als schwer greifbarer Politiker, der einerseits versuchte, diktatorischen Bestrebungen entgegenzuwirken und andererseits durch antijüdische Rhetorik dem Rassenhass Tür und Tor öffnete. Aus der Gewalt der Sprache entstand die Gewalt der Tat.
Aus seinen Texten geht hervor, dass keine Partei der damaligen Zeit allzu zimperlich mit den Werkzeugen Sprache und Beeinflussung umging. Findet man heute Hetze und Antiausländerpropaganda vor allem im rechten bzw. konservativen Spektrum der politischen Landschaft, so bedienten sich damals auch die Sozialdemokraten dieser abzulehnenden Vorgehensweise.
Ignaz Seipel
Von 1922 bis 1924 dauerte Ignaz Seipels erste Amtszeit als österreichischer Bundeskanzler. Sein Hauptverdienst in diesem Zeitraum stellte die erfolgreiche Bitte um Anleihen des Völkerbunds dar, mit deren Hilfe die österreichische Wirtschaft angekurbelt werden sollte, nachdem sein Vorgänger Johann Schober in dieser Frage nur Teilerfolge erzielen konnte. Seine zweite Amtszeit währte von 1926 bis 1929. 1932 starb er an den Folgen einer Krankheit.
Im Kapitel „Mordhetze gegen Dr. Seipel“ beschreibt Kunschak die Agitation des politischen Mitbewerbs, die sich gegen den Bundeskanzler richtete:
„Mißgestimmt durch den schweren Mißerfolg bei den Wahlen des Jahres 1923 entfalteten die Sozialdemokraten nunmehr eine beispiellose persönliche Hetze gegen Dr. Seipel. Ihren Gipfelpunkt erreichte diese Hetze wohl in dem abscheulichen Haßgesang, den die jugendlichen Sozialdemokraten auf allen Straßen nach der Melodie „Was kommt dort von der Höh'“ brüllten:
Und an die Gaslatern,
Und an die Gaslatern,
Da hängen wir die hohen Herrn.
Ja, ja, die hohen Herrn,
An eine Gaslatern!
Wer wird der erste sein?
Wer wird der erste sein?
Das wird der Herr von Seipel sein.
Ja, ja, der Seipel sein,
Das wird Herr Seipel sein!
Nur zu bald und zu gräßlich hatte diese Hetze blutige Frucht gezeitigt. Am 1. Juni 1924 kehrte Dr. Seipel von einer Reichsbundkundgebung aus dem Burgenland heim, als ihm am Südbahnhof ein Fanatiker den Weg vertrat und mehrere Revolverschüsse gegen seine Brust abfeuerte. Schwer verwundet wurde der Kanzler in das nahegelegene Wiedner Krankenhaus gebracht, woselbst er durch einige Tage zwischen Leben und Tod schwebte. Am 3. Juli konnte er das Spital verlassen, doch erst am 29. September war er so weit hergestellt, um wieder seine Arbeit als Bundeskanzler voll aufnehmen zu können.“*
Erinnerungstafel an Ignaz Seipel. Über seinem Bild ist das Kruckenkreuz als Symbol der „Vaterländischen Front“ zu sehen, die die Einheitspartei im Ständestaat darstellte. Eine Besonderheit ist der Hinweis auf das Datum eines Schussattentats.
1927 entging Seipel nur knapp einem weiteren Attentat, wie wir im Kapitel „Seipel, der Mann mit den eisernen Nerven!“ bei Kunschak lesen können:
„Zur Zeit der heftigsten Kämpfe, als der Feuerschein des brennenden Justizpalastes in den Fenstern des Bundeskanzleramtes sich spiegelte, sprachen die Herren Seitz [Karl Seitz, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und Bürgermeister von Wien], Bauer [Otto Bauer, sozialdemokratischer Nationalratsabgeordneter und stellvertretender Parteichef der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei] und Danneberg [Robert Danneberg, sozialdemokratischer Präsident des Wiener Landtages] bei Bundeskanzler Dr. Seipel vor, um ihm zu sagen, daß eine Katastrophe für Österreich nur noch durch seinen Rücktritt vermieden werden könnte. Dr. Seipel antwortete diesen Herren fest und ruhig:
‚Wenn irgend jemand abzutreten hat, dann sind Sie es, meine Herren!‘
Ohne noch eines weiteren Wortes gewürdigt zu werden, mußten die Herrschaften abziehen.
In den Nachmittagsstunden bis gegen neun Uhr abends weilte ich im Büro des Kanzlers, das er um diese Zeit verließ. Ich riet dem Kanzler dringend an, die Nacht im Kanzleramte zu verbringen, er lehnte entschiedenst ab. Ich bat ihn, er möge doch wenigstens die weite Fahrt durch die revoltierenden Außenbezirke nach Hütteldorf unterlassen und sich in seine ständige Wohnung im dritten Bezirk begeben, auch das lehnte er ab und fuhr unbehelligt nach Hütteldorf.
Am Morgen des anderen Tages auf der Fahrt in das Kanzleramt wäre es ihm bald sehr schlimm ergangen. Bei der ehemaligen Mariahilferlinie mußte der Wagen wegen der Menschenansammlungen das Tempo mäßigen, dies benützte ein Fanatiker zu einem Sprung auf das Trittbrett des Autos mit der unverkennbaren Absicht eines Attentates. Der geistesgegenwärtige Kriminalbeamte, der Dr. Seipel begleitete, stieß den Mann vom Trittbrett hinunter, der Chauffeur schaltete auf das schnellste Tempo um und so entkam Dr. Seipel der Gefahr.
Die Revolte war schließlich zu Ende gegangen in einer Weise, die der Ordnungsgewalt des Staates vollste Geltung verschafft hatte. Leider kostete die Niederringung der Revolte das Leben von fünf Angehörigen der Polizei und 77 Angehöriger des Zivilstandes, darunter vieler völlig unbeteiligter Personen.“**
Engelbert Dollfuß
Ab 1927 trat Dollfuß in leitenden Positionen in Erscheinung. In diesem Jahr wurde er zum Direktor der niederösterreichischen Landeslandwirtschaftskammer. 1931 übte er das Amt des Bundesministers für Land- und Forstwirtschaft aus, ab Mai 1932 das des Bundeskanzlers.
Schon am 3. Oktober 1933 erfolgte ein Attentat auf Engelbert Dollfuß. Im Kapitel „Mordattentat auf den Bundeskanzler“ lesen wir:
„Ein der Zugehörigkeit zur Nationalsozialistischen Partei überwiesener junger Mann lauerte an diesem Tage dem Bundeskanzler durch Stunden hindurch im Eingangsraume zum Christlichsozialen Klub auf, nachdem er vorher schon vergeblich versucht hatte, an den Kanzler in dessen Wohnung und im Bundeskanzleramt heranzukommen.
Als der Bundeskanzler um 2 Uhr nachmittags den Christlichsozialen Klub verließ, trat der Mann in raschem Schritt auf den Bundeskanzler zu und feuerte gegen dessen Brust zwei Schüsse ab, von denen der erste den Körper des Kanzlers in der Herzgegend, der andere in den Arm traf. Durch ein Wunder – eine andere Auslegung gibt es nicht – versagte die Durchschlagskraft der ersten Kugel und erzeugte nur eine Prellung mit Blutunterlaufung auf der Brust, die zweite Kugel durchbohrte den Arm.
Der Kanzler, der während des ganzen Vorfalles eisige Ruhe bewahrte, begab sich sofort auf die Klinik, woselbst die Verwundungen untersucht und die entsprechenden Verbände angelegt wurden, worauf sich der Kanzler in häusliche Pflege begeben konnte. Alle gutgesinnten Oesterreicher atmeten erleichtert auf ob dieser wunderbaren Errettung aus eminenter Todesgefahr und dankten Gott in zahllosen kirchlichen Feiern.“***
Erinnerungstafel an Engelbert Dollfuß. Auch hier ist das Kruckenkreuz zu sehen. Ebenso wie bei der obigen Tafel für Ignaz Seipel findet sich hier der ungewöhnliche Hinweis auf ein Attentat.
Am 25. Juli 1934 wurde Dollfuß im Zuge eines nationalsozialistischen Putschversuchs ermordet. Die Christlichsozialen zimmerten daraus die Legende des Bundeskanzlers, der sein Leben im Kampf gegen die Errichtung einer nationalsozialistischen Diktatur opferte – für sie galt er ab nun als „Märtyrerkanzler“.
Der Tod Dollfuß‘ war jedoch nicht das Ende des Austrofaschismus. An seine Stelle trat Kurt Schuschnigg, der aber nie die Beliebtheit seines Vorgängers erreichte. Im Zuge der Ereignisse, die am 12. bzw. 13. März 1938 zum „Anschluss“ Österreichs an Deutschland führten, trat er am 11. März zurück. Damit endete die Phase des Ständestaats, die Gewalt des Nationalsozialismus setzte sich noch sieben Jahre fort.
* Leopold Kunschak, Österreich 1918–1934 (Wien 1935), Seite 81.
** Ebenda, Seite 91/92.
*** Ebenda, Seite 201/202.
Mehr zu den Jahren von 1918 bis zum „Anschluss“:
1918 bis zum „Anschluss“ – Worte im Dunkel
Zum Weiterlesen:
Walter Goldinger, Dieter A. Binder, Geschichte der Republik Österreich 1918–1938 (Wien 1992)
Leopold Kunschak, Österreich 1918–1934 (Wien 1935)
Wilhelm J. Wagner, Bildatlas der österreichischen Zeitgeschichte 1918–1938 (Wien 1992)
Wien Geschichte Wiki, Engelbert Dollfuß, online unter:
Engelbert Dollfuß – Wien Geschichte Wiki (8. März 2020)
Wien Geschichte Wiki, Ignaz Seipel, online unter:
Ignaz Seipel – Wien Geschichte Wiki (8. März 2020)
Link zum Originalbeitrag: 1924 bis 1934 – Angeschossen und ermordet – Worte im Dunkel