Geist

Worte im Dunkel
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#1
Wie bereits in einem älteren Beitrag beschrieben, gingen im Herbst 1943 etwa 600.000 italienische Soldaten, die nicht länger an der Seite Deutschlands den Krieg fortsetzen wollten, in deutsche Gefangenschaft. Der Status als Kriegsgefangene wurde ihnen aberkannt, da sie für die NS-Machthaber als abtrünnige Angehörige eines ehemals verbündeten Partners galten und Italien und Deutschland sich zum Zeitpunkt der Internierung nicht im Krieg gegeneinander befanden. Aus diesem Grunde durfte auch in ihrer offiziellen Bezeichnung der Begriff „Kriegsgefangene“ nicht vorkommen, was zu dem Ausdruck „Italienische Militärinternierte“ (IMI) führte.

Anhand einer berührenden Botschaft im Beton eines Luftschutzbauwerks beschreibe ich die Maßnahmen, die ergriffen wurden, um diesen Soldaten, die von den Deutschen als Verräter verunglimpft und in der Hierarchie der Häftlinge und Zwangsarbeiter ähnlich schlecht wie russische Kriegsgefangene gestellt waren, seelische Betreuung und Fürsorge zu geben.

Die ersten Monate der IMI


Für die Betreuung der IMI war die neu errichtete Sozialrepublik Italien unter Benito Mussolini verantwortlich, da das offizielle Italien Deutschland im Oktober 1943 den Krieg erklärt hatte. Als in der Gunst Deutschlands gesunkenes Bündnisanhängsel hatte Mussolinis Sozialrepublik allerdings nicht die Macht, viel für die IMI zu tun. Andere Institutionen, die sich theoretisch für sie einsetzen konnten, waren das „Internationale Komitee vom Roten Kreuz“ (IKRK) und die Kirche.

Doch vor allem in den Monaten bis in die erste Jahreshälfte 1944 hinein konnten weder Sozialrepublik noch IKRK oder Kirche viel ausrichten. Da die IMI nicht wie Kriegsgefangene dem Regulativ der Genfer Konvention – siehe Zitat unterhalb – unterlagen, hatte auch das IKRK als neutrale Schutzmacht des „Abkommens über die Behandlung von Kriegsgefangenen“ von 1929 keine Handhabe. Es musste sich auf die Übermittlung von Nachrichten der IMI an Verwandte in Süditalien beschränken. Sie war also nur für Nachrichten an die Angehörigen zuständig, die im offiziellen Italien lebten, nicht aber für jene, die in Mussolinis Sozialrepublik lebten.

Artikel 2. Die Kriegsgefangenen unterstehen der Gewalt der feindlichen Macht, aber nicht der Gewalt der Personen oder Truppenteile, die sie gefangengenommen haben.
Sie müssen jederzeit mit Menschlichkeit behandelt und insbesondere gegen Gewalttätigkeiten, Beleidigungen und öffentliche Neugier geschützt werden.
Vergeltungsmaßnahmen an ihnen auszuüben ist verboten.

Artikel 3. Die Kriegsgefangenen haben Anspruch auf Achtung ihrer Person und ihrer Ehre. Frauen sind mit aller ihrem Geschlecht geschuldeten Rücksicht zu behandeln.
Die Gefangenen behalten ihre volle bürgerliche Rechtsfähigkeit.

Artikel 4. Der Staat, in dessen Gewalt sich die Kriegsgefangenen befinden (Gewahrsamsstaat), ist verpflichtet, für ihren Unterhalt zu sorgen.
Unterschiede in der Behandlung der Kriegsgefangenen sind nur insoweit zulässig, als es sich um Vergünstigungen handelt, die auf dem militärischen Dienstgrad, dem körperlichen oder seelischen Gesundheitszustand, der beruflichen Eignung oder dem Geschlecht beruhen.[1]​
Das letzte Wort bezüglich der Betreuung der IMI sprach ohnehin das Deutsche Reich und diesem lag nicht viel am Wohlergehen der Italiener. Erst als sich die materielle Versorgung der Militärinternierten in der ersten Jahreshälfte 1944 immer schwieriger gestaltete, öffnete man sich für die Hilfe durch neutrale Dritte.​

Betreuung durch die katholische Kirche


Schon im Oktober 1943, also kurz nach Anlauf der Internierungen, trat der apostolische Nuntius in Berlin Monsignore Cesare Orsenigo in Kontakt mit der deutschen Führung und bat um zwei Dinge:
Einerseits beabsichtigte er – vor allem auch in Hinsicht auf das nahende Weihnachtsfest – Gottesdienste und seelischen Beistand für die IMI zu organisieren und andererseits wollte er Nachrichten der Militärinternierten an ihre Verwandten überbringen dürfen.

Mitte Oktober bot er weiters an, Geistliche für die Betreuung der IMI zur Verfügung zu stellen, was jedoch deutscherseits mit dem Hinweis auf ausreichend viele Seelsorger der Wehrmacht abgelehnt wurde. Erlaubt wurde dem Nuntius, selbst Gottesdienste in den Lagern abzuhalten. Ende Oktober erreichte Orsenigo die entscheidende Antwort Hitlers, der die Gottesdienste, geistliche Betreuung und gelegentliche Sachhilfeleistungen erlaubte, die Nachrichtenübermittlung an Verwandte jedoch nicht, denn diese wären Sache deutscher Dienststellen und für Angehörige in Süditalien übernähme ohnehin das IKRK diese Aufgabe.

Trotz der bereits Ende Oktober 1943 erhaltenen Zusage, Gottesdienste für die IMI abhalten zu dürfen, musste Orsenigo bis Februar 1944 warten, ehe er erstmals Militärinternierte in einem Lager in Küstrin besuchen durfte. Der Zuspruch der gefangenen Italiener an den geistlichen Besuch war groß: Als er im Juni das Offizierslager (Oflag) 83 in Wietzendorf besuchte, spendete er über 2.000 von 2.500 internierten Offizieren und deren Ordonnanzen die Heilige Kommunion.

Der „Servizio Assistenza Internati“


Im Jänner 1944 wurde seitens der Sozialrepublik Italien der „Servizio Assistenza Internati“ (SAI) unter der Leitung des Majors Marcello Vaccari gegründet, hauptsächlich um die Verbindung zwischen den IMI und ihren Angehörigen in Italien aufrechtzuerhalten und sie nicht nur auf geistiger, sondern auch auf materieller Ebene durch die Sammlung von Kleidung, Nahrungsmitteln und Medikamenten zu unterstützen. Der Sitz des SAI befand sich in der italienischen Botschaft in Berlin – Büros gab es in Hamburg, München, Leipzig, Wien und Belgrad. Im deutschen Sprachgebrauch lief diese Einrichtung unter dem Namen „Betreuungsdienststelle für die italienischen Militär- und Zivil-Internierten“.

Zum Einen wollte Mussolini der italienischen Zivilbevölkerung mittels des SAI das Gefühl vermitteln, die italienischen Soldaten stünden unter italienischer und nicht deutscher Betreuung. Zum Anderen wollte die Führung der faschistischen Sozialrepublik auf diese Weise die Möglichkeit erlangen, unter den IMI Anhänger für ihre Politik zu rekrutieren. Da man dieses Ziel auch durch propagandistisch gefärbte Predigten für die IMI in den Lagern erreichen wollte, wurden nur jene Priester und Seelsorger dafür ausgewählt, die nicht der traditionell antifaschistischen Haltung der katholischen Kirche entsprachen.

Vaccaris Aufgaben bestanden nun in der bereits angeführten Kommunikation zwischen IMI und deren Angehörigen, aber ebenso in der Erhebung der Todesfälle unter den Internierten und der dazugehörigen Nachlaßregelung. Ein weiterer Punkt, der für die Moral der IMI sehr wichtig war, bestand in der Organisation des sogenannten „Liebesgabendienstes“, in dessen Rahmen Bekleidung und Nahrung für die IMI gesammelt und verteilt wurde.
Die Bediensteten des SAI durften die IMI in den Lagern besuchen, allerdings nur mit Genehmigung der Wehrmacht und im Beisein eines deutschen Offiziers. Gespräche unter vier Augen mit den Militärinternierten waren aber erlaubt.

Das Seelenheil der IMI


„Italiani (Dio ci salvera)“, auf deutsch „Italiener (Gott wird uns retten)“ eingeritzt im Beton einer Luftschutzanlage

Dennoch waren und blieben die Lebensumstände der IMI schlecht. Im März 1944 verfasste Vaccari ein Schreiben, in dem er seine Ideen zur Besserstellung der Internierten niederschrieb. Gemäß dieses Schreibens waren es vor allem vier Punkte, die den Internierten das Leben erschwerten: „Mangel an richtiger Kost, fehlende Kleidung, gesundheitliche Gefährdung und falscher Arbeitseinsatz“[2]. Die Herstellung der Menschenwürdigkeit für die IMI war sein höchster Wunsch.

Auch die seelische Stimmung unter den Militärinternierten blieb bis Kriegsende angespannt. Die Bemühungen des SAI waren zwar auf die richtigen Ziele ausgerichtet, entwickelten jedoch nie ein gut funktionierendes Niveau. Die Gründe dafür lagen etwa in den knappen Transportkapazitäten, die Hilfslieferungen von Italien ins Deutsche Reich erschwerten und in Unterschlagungen, denen die Lebensmittel und Gewandlieferungen zum Opfer fielen.

Die IMI wurden also nur mangelhaft verpflegt und versorgt, die Postsendungen funktionierten nicht so gut wie bei Kriegsgefangenen der Westalliierten, Heimweh, Perspektivenlosigkeit und ein angstvoller Blick in die Zukunft der eigenen Person und der Familie in Italien ließen viele IMI in Depressionen schlittern. Dazu kamen Misshandlungen durch die Wehrmacht und die Schutzlosigkeit bei Bombenangriffen, da sie Luftschutzbauwerke zwar betonieren mussten, sie aber nicht benutzen durften.

Als ein Beauftragter des OKW auf einer Kontrollreise IMI in Lagern besuchte, stellte er fest, eine regelmäßige Betreuung durch einen Geistlichen würde sich positiv auf die Arbeitsleistungen der Internierten auswirken. In der NS-typischen Sichtweise stand die Arbeitsleistung über dem Seelenheil. Weiters notierte er, das „religiöse Bedürfnis ist in einer uns unverständlichen Weise groß“[3].

Detail (Dio ci salvera)

Nachdem die IMI zuerst auf freiwilliger Basis, dann gemäß Verordnung ab Sommer/Herbst 1944 in den Status von „Zivilarbeitern“ überführt wurden, verlor der SAI die Zuständigkeit für deren Betreuung und das IKRK übernahm diese Aufgaben. Dennoch, so schreibt Gerhard Schreiber, endete „trotz der Erleichterungen, die sich in dem einen oder anderen Lager durchsetzen ließen, und unbeschadet der gutgemeinten, allerdings letztlich ineffizienten Betreuungsansätze […] im Frühjahr 1945 für die meisten der noch immer internierten und der ehemals gefangenen Italiener eine infernalische Phase in ihrem Leben.“[4]

Die Statistik ihrer Todesfälle spricht eine deutliche Gewaltsprache:
  • 500 bis 600 wurden bei Massakern im März und April 1945 ermordet
  • 20.000 sind nach deutschen Angaben in den verschiedenen Lagern verstorben
  • 5.400 blieben nach ihrer Verwendung als „Militärsklaven“ im östlichen Operationsgebiet des deutschen Heeres vermisst oder wurden getötet
  • 13.300 sind „auf See geblieben“
  • 6.300 wurden zu Opfern verbrecherischer Befehle[5]
Diese Opferzahlen spiegeln die Zahlen von 1992 wider. Aktuell geht die Forschung von der etwas höheren Zahl von 50.000 IMI aus, die die Phase ihrer Internierung nicht überlebten. Der Wunsch des unbekannten Verfassers „Dio ci salvera“ im heute gezeigten Graffiti erfüllte sich für sie nicht.

Fußnoten:

[1] Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen vom 27. Juli 1929, online unter: ALEX Historische Rechts- und Gesetzestexte online,
ÖNB-ALEX - Bundesgesetzblatt 1934-1938 (3. Juli 2020)

[2] Gerhard Schreiber, Militärinternierte – italienische Kriegsgefangene in Deutschland. In: Rudolf Lill (Hg.), Deutschland – Italien 1943–1945, Aspekte einer Entzweiung (Reihe der Villa Vigoni Bd. 3, Tübingen 1992), S. 129, online unter:
Deutschland – Italien 1943–1945 (6. Juli 2020)

[3] Gabriele Hammermann (Hg.), Zeugnisse der Gefangenschaft. Aus Tagebüchern und Erinnerungen italienischer Militärinternierter in Deutschland 1943–1945 (Berlin/München/Boston 2014), online unter:
Zeugnisse der Gefangenschaft (6. Juli 2020)

[4]+[5] Schreiber, Militärinternierte, S. 138.

Links und Literatur, die dem Text als Grundlage dienen:

Gerhard Schreiber, Die italienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich 1943–1945. Verraten–Verachtet–Vergessen (Beiträge zur Militärgeschichte Bd. 28, München 1990), online unter:
Die italienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich 1943-1945 (6. Juli 2020)

Georg Sedlbauer, Die italienischen Militärinternierten in den Alpen- und Donaureichsgauen 1943–1945, Diplomarbeit (Wien 2009), online unter:
https://core.ac.uk/download/pdf/11586295.pdf (6. Juli 2020)

Interne Links:

Mehr zu den Jahren von 1939 bis Kriegsende:
1939 bis Kriegsende – Worte im Dunkel

Mehr zu den italienischen Militärinternierten:
1945 – Termine della prigionia del IMI – Worte im Dunkel

Link zum Originalbeitrag: 1943 bis 1945 – Gott wird uns retten – Worte im Dunkel
 
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