Allgemeines, historische Hintergründe usw. zur Ukraine

josef

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#1
DAS VAKUUM 1989–91
Russlands Projektionen und die Ukraine
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„Was die einen als unerhörte Freiheit empfanden, erschien den anderen als gefährliches Vakuum.“ Der Historiker und Osteuropa-Experte Karl Schlögel bringt auf den Punkt, warum die Jahre 1989 bis 1991 für Russland und die Ukraine zwei unterschiedliche Erfahrungen brachten. Die einen sahen den Zerfall des Imperiums, die anderen die Chance auf historische Rückbestimmung. Bis in die jüngere Gegenwart habe die russische Wahrnehmung der Ukraine aus einigen Fehlwahrnehmungen bestanden, betonen Experten wie etwa der Politologe Ivan Krastev.
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„Eines der verhängnisvollsten Dinge in der Politik ist immer, wenn man das Opfer seiner eigenen Propaganda wird: Putins Russland hat sich vorgestellt, in der Ukraine als Befreier empfunden zu werden, stattdessen wurden sie als Besatzer empfangen.“ So analysierte der bulgarische Politologe Krastev die Fehlwahrnehmung des russischen Präsidenten wenige Tage nach Start des Überfalls in der ZIB2.

Putin selbst habe letzten Juli einen Essay geschrieben, in dem er zum Schluss kommt, die Russen und die Ukrainer seien ein und dasselbe Volk, so Krastev. Und er habe daran erinnert, dass das historische Russland auf Teilen der heutigen Ukraine und des heutigen Belarus lag. „In diesem Sinn sah er sich als Vereiner eines historischen Russlands. In seinem Kopf, der ja 1989 nicht in der Sowjetunion, sondern in Ostdeutschland erlebt hat, war die Ukraine ein Land, das nur darauf gewartet hat, mit Russland wiedervereint zu werden“, so Krastev.

Sehnsucht nach einem vereinheitlichenden Russland-Bild
Dass man für diese Projektion einiges an Mystagogie benötigt, ist auch für den Politologen Philipp Ther nicht ungewöhnlich: Die russische Geschichtsschreibung bis hinein in die Zarenzeit habe ja ausgeblendet, wie sehr sie immer schon ein Russland-Bild vereinheitlichen wollte. Als sich die Polen gegen den Zaren erhoben hätten, so Ther, habe man die ukrainische Sprache im Zarenreich auch gleich verboten. Das Ausblenden der Ukraine ist auch der jüngeren Geschichtsschreibung nicht fern. Selbstkritisch räumte der UdSSR-Kenner Karl Schlögel 2015 ein, dass er sich zwar eingehend mit der russischen Geschichte und der der Sowjetunion beschäftigt habe, die ukrainische Geschichte aber immer ausgeblendet habe.

Schlögel schrieb das im Schatten der Krim-Annexion während eines Forschungsaufenthaltes in Wien, wo man ja seit dem Zusammenbruch des Kommunismus die Wiederentdeckung der Bukowina, der Kultur der Orte Lemberg (Lviv) und Czernowitz zelebrierte, dem einstigen Ost-Ende des Habsburger Reiches. Getrieben waren diese Vorstellungen von einer Mitteleuropa-Ideologie, die selbst nie genau ihren inneren Antrieb abseits einer gewissen konservativen Sentimentalität definierte und bald, gerade um die Vielfalt der Identitäten des Raumes miteinzubeziehen, auf Betreiben des Kulturwissenschaftspioniers Moritz Csaky vom Begriff „Zentraleuropa“ abgelöst wurde.

Eine notwendige Vertiefung des Ukraine-Bildes gab es in Österreich, sosehr man nach der untergegangenen jüdischen Kultur, den Ursprüngen von Paul Celan oder Rose Ausländer suchte, nicht zwangsläufig. Wohl hat Österreich stark zur Forschungsförderung im Raum der Ukraine, auch mit Austauschprogrammen, beigetragen.

Frances D’Emilio / AP / picturedesk.com
Sehnsuchtsort Czernowitz in Österreich. Man suchte auch Hintergründe jener Geschichte, die viel mit Österreich zu tun hatte, aber weniger die Ukraine dahinter.

Konsequentes Wegschauen nach 2014
Dennoch war eigentlich erst die Annexion der Krim Anlass für manche, wie auch Schlögel einräumte, ihren Blick auf die Ukraine zu schärfen. Für den Politologen und Historiker Gerald Knaus wurde seit den Ereignissen auf dem Kiewer Maidan und der Annexion der Krim in den politischen Eliten Europas, speziell im Herzen der EU und gerade auch in Österreich, bewusst weggeschaut bei dem, was sich in der Ukraine zutrug.

Bis zur Annexion der Krim, so resümiert Schlögel im Buch „Entscheidung in Kiew“, „existierte die Ukraine in den Köpfen der Intelligenzija nicht als eigene Nation mit einer eigenen Staatlichkeit, sondern als eine Landschaft mit einem irgendwie besonderen Dialekt. Darüber hinaus gab es so etwas wie einen Generalverdacht, dass jedes Bestehen auf einer ukrainischen Identität von Übel sei.“

Joseph Brodsky, der 1972 aus der UdSSR ausgewiesen wurde und als eine der zentralen Stimmen der US-Moderne in der Literatur gilt, quittierte die Unabhängigkeit der Ukraine mit einem Gedicht, das sich liest, als hätte es Putin als Triebmittel für alle seine Reden herangezogen. In einem der Verse heißt es im englischen Original:
„It’s over now. Now hurry back to your huts
To be gang-banged by Krauts and Polacks right in your guts.
It’s been fun hanging together from the same gallows loop,
But when you’re alone, you can eat all that sweet beetroot soup.“
Heike Huslage-KochCC BY-SA 4.0
Russland-Experte Schlögel räumt ein, dass die Ukraine lange ein blinder Fleck bei vielen Experten und der russischen Intelligenz gewesen sei.

Russische Sehnsuchtsorte
Die Krim, so erinnert Schlögel, sei einer der zentralen Sehnsuchtsorte der russischen Kultur gewesen. Eine unabhängige Ukraine passte da nicht ins Bild. Andererseits weiß die russische Literatur: In Sehnsuchtsorten und -regionen ist die eigene Identität gerne bedroht. Zwar mag man in Odessa heimisch sein und schwelgen, spätestens am Kaukasus ging der russische Held, wie etwa bei Lermontow, unter.

„Putin glaubt wirklich, dass die Ukraine von einer vom Westen gesteuerten Elite angeführt wird und die Westorientierung eine Lüge ist, der Rest der einfachen Bevölkerung wartet, von der russischen Armee befreit zu werden“, erinnert Krastev, der schon jetzt meint, Putin habe nicht nur den Krieg, sondern vor allem sein Verständnis davon, was die Ukraine ist, verloren.

Die Ukraine und das Langzeitgedächtnis gegenüber Moskau
Für die Ukraine bleiben im Langzeitgedächtnis dieses Landes wiederum viele Eingriffe, gerade aus der Zeit der Sowjetunion und der Kollektivierungen, die mit Erfahrungen von Identitätsauslöschung verbunden sind, so als würden sich Maßnahmen des zaristischen Russland unter verschärften Vorzeichen wiederholen. Der US-Historiker Timothy Snyder erinnert in seinem Buch „Bloodlands“ an die Hungersnöte der frühen 1930er Jahre im Zusammenhang mit Stalins Kollektivierungspolitik, unter denen die Ukraine besonders zu leiden hatte. „Mehr noch in Sowjetrussland, wo es eine Tradition des gemeinschaftlichen Ackerbaus gab, waren die Bauern in der sowjetischen Ukraine über den Verlust ihres Bodens verzweifelt“, so Snyder.

Snyder erinnert auch daran, dass die ländliche Bevölkerung der Ukraine ganz im Gegensatz zum staatlichen Atheismus überwiegend religiös war. Tausende Bauern flüchteten damals nach Polen und brachten erst die Nachricht von den Hungersnöten in der Sowjetunion in die Welt. Für Stalin und das Politbüro sei das zur internationalen Peinlichkeit geworden, hätten die polnischen Behörden, die gerade eine Annäherung an die ukrainische Minderheit suchten, nun die Folgen von Stalins Kollektivierungspolitik mitbekommen.


Roger Viollet / picturedesk.com
Unpopuläre Kollektivierung der Landwirtschaft in der Ukraine, 1930. Hier die Kolchose „Stalin“ in der Nähe von Charkiw.

Stalins damalige Reaktion auf die Hungersnot und Probleme der Kollektivierung mögen sehr an die Gegenwart erinnern. Stalins „erster Impuls und seine bleibende Tendenz war es ", so Snyder, den Hunger der ukrainischen Bauern als Verrat von ukrainischen KP-Mitgliedern zu sehen. Er konnte nicht die Möglichkeit zugestehen, dass seine Kollektivierungspolitik schuld war.“ 1932 bezeichnete Stalin die Hungersnot in der Ukraine als „ein Märchen“, als eine von Feinden verbreitete Verleumdung. Mehr noch, so Snyder: „Stalin hatte eine interessante Theorie entwickelt: Der Widerstand gegen den Sozialismus wächst, je größer seine Erfolge werden, weil seine Feinde ihm mit immer größerer Verzweiflung Widerstand leisten, wenn sie ihre endgültige Niederlage schon vor sich sehen.“ Historische Entwicklung und politische Narrative standen sich auch damals schon unversöhnlich gegenüber. Und die Menschen blieben daneben auf der Strecke: 1932/33 starben rund 3,3 Millionen Menschen in der Ukraine an Hunger und Folgekrankheiten. Solche Erfahrungen rissen jedenfalls auch tiefe Gräben in das Verhältnis zwischen Randrepubliken und einer Zentrale, die hinter der sowjetischen Politik eine russiche Politik betrieb, auch wenn im Zentrum wie im Fall von Stalin ein gebürtiger Georgier stand.

Sindeyev Vladimir / Tass / picturedesk.com
Der Maidan in Kiew als Zentralort des Ausdrucks des Protests: Hier 2007 gegen die Auflösung des Parlaments

„Wer klaren Kopf bewahrt hat, stellt sich zum hundertsten Mal dieselben quälenden Fragen: Was ist nur mit uns passiert? Wie können gebildete, kultivierte Menschen voller Euphorie ‚Die Krim gehört uns!‘ rufen“, zitiert Schlögel in seinem Ukraine-Buch die russische Verlegerin Irina Prochorowa. „Wie konnten wir zulassen, dass zwei befreundete Völker zu Todfeinden wurden?“

Das bedrohliche Vakuum zwischen 1989 und 1991, schreibt Schlögel in seinem 2017 erschienenen Tausendseitenwerk „Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt“, habe eher den Republiken am Rand des Sowjetreiches geholfen – und das russische Selbstverständnis erschüttert: „Dieses Vakuum aufzufüllen schien in den nichtrussischen Republiken leichter, da sich dort die wieder errungene Geschichte als Ersatz für eine von außen – namentlich von ‚den‘ Russen – verhängte Geschichte anbot, der alle Fehlentwicklungen und Tragödien zugeschrieben werden konnten, während die Russen mit ihrer sowjetischen Erbschaft alleine zurückblieben.“
Das Ende der Sowjetunion sei mehr als ein Dekorationswechsel, schreibt Schlögel in seinem älteren Buch „Grenzland Europa“ (Hanser, 2003), „nicht nur das Ende von politischen Institutionen und administrativen Strukturen, sondern die Auflösung einer Lebensform“.
08.03.2022, Gerald Heidegger, ORF.at

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#2
Die alte Grenze prägt bis heute
Der Westen der Ukraine gehörte bis zum Ersten Weltkrieg den Habsburgern. Von deren Toleranz profitierten die Kultur – und der Nationalismus.

Lemberg heute: eine Mischung aus Tradition und Moderne.
Bild: dpa
LEMBERG taz | Die alte Grenze liegt kurz hinter Brody, etwa 100 Kilometer nordöstlich von Lemberg an der Straße nach Kiew. Der genaue Ort ist schwer zu finden. Ein Tankwart kann schließlich Auskunft geben. Er verweist auf einen alten Schuppen, an dessen Mauer noch der Name einer längst geschlossenen Schenke steht: „An der Grenze“. Bis zu diesem Ort in der heutigen Westukraine reichte einst das Gebiet der k. u. k. Monarchie Österreich-Ungarn. Dahinter begann dass Russische Reich.

1772, bei der ersten Teilung Polens, war Galizien an Österreich gefallen. Das zum Grenzort gewordene Brody profitierte zunächst, es lag in einer Freihandelszone und florierte als Handelsstadt. Aber nicht lange. Schon hundert Jahre später war es nur noch ein Provinzkaff mit Garnison, die letzte Stadt vor der russischen Grenze.

Auch heute geht es dem Städtchen mit rund 20.000 Einwohnern nicht gerade gut. Der abbröckelnde Putz an den wenigen erhaltenen Häusern aus der Gründerzeit erinnert an den Untergang der k. u. k. Monarchie und die schäbigen Fassaden der Plattenbauten an den Untergang der Sowjetunion.

Immerhin wird der alte jüdischen Friedhof, einer der größten Osteuropas, seit einigen Jahren von einem internationalen Team saniert. Ein weiterer jüdischer Friedhof hatte nicht so viel Glück. Heute weiß vor Ort kaum jemand mehr, dass es ihn überhaupt gab, auf dem Gelände nur wenige Meter neben dem Gymnasium wurde in der Sowjetzeit ein Sportplatz gebaut. Heute spielt hier ein Fußballverein.

Beinahe komplett von der Oberfläche verschwunden
Der Zweite Weltkrieg hat das jüdische Leben in Brody ausgelöscht – und die anschließende Sowjetzeit auch die Erinnerung daran. Das Städtchen war im Zweiten Weltkrieg nach der Kesselschlacht von Brody im Sommer 1944 beinahe komplett von der Oberfläche verschwunden.

Doch des einen Unglück ist des anderen Glück. Weil die Schlacht bei Brody die Entscheidung herbeiführte, konnte das nahe liegende Lemberg den Krieg fast unbeschadet überstehen. Dort prägen noch immer die fantasievoll verzierten Häuser aus der Gründerzeit das Bild der Altstadt und weiterer Stadtteile. In der etwa 750.000 Einwohner zählenden galizischen Metropole hat auch die Kultur der Kaffeehäuser überlebt, nicht einmal die Sowjetzeit konnte ihr etwas anhaben.

In Lemberg erinnert man sich besonders gern an die alte und gute k. u. k. Zeit. Geschichte verbindet, besonders wenn es keine lebenden Zeitzeugen mehr gibt. Dann wird Geschichte zum Mythos. Und dafür stellt man gern Denkmäler auf. In Lemberg hat man eine Zeit lang ernsthaft über ein Monument für Franz-Joseph nachgedacht, den 1916 verstorbenen Kaiser von Österreich-Ungarn. Letztlich hat man es bei einem Masoch-Café belassen, schließlich stammt der österreichische Schriftsteller Leopold von Sacher-Masoch von hier.

In Czernowitz, rund 250 Kilometer südöstlich von Lemberg, ging man weiter. Hier wurde der Kaiser vor einigen Jahren mit einem kleinen bescheidenen Denkmal geehrt. Auch an den Lyriker Paul Celan erinnert seit 1992 eine Statue. Man hat sogar sein Geburtshaus renoviert. Allerdings das falsche, wie sich später herausgestellt hat.

Die Tatsache, dass Galizien im 19. Jahrhundert auch im Habsburger Reich ein Armenhaus war, wird bei der Erinnerung nicht selten ausgeklammert. Im Vordergrund steht die Bedeutung der k. u. k. Zeit für die Entwicklung der ukrainischen Sprache und Kultur. Durch das Ende des 18. Jahrhunderts erlassene Josephinische Toleranzedikt bekamen die griechisch-katholischen Priester aus der Ukraine Zugang zu den Priesterseminaren in Wien und somit zur besseren Bildung. Lange Zeit galten die Ruthenen, wie die Ukrainer in Österreich genannt wurden, als besonders kaisertreu. Dafür haben sie sogar den Namen „Tiroler des Ostens“ bekommen.

Von der toleranten Habsburger Monarchie profitierte auch die ukrainische Literatursprache. Zwar entstand sie auf Basis der Dialekte aus der Zentralukraine. Doch die lag im Russischen Reich. Und Zar Alexander II. hatte alle Publikationen und Theateraufführungen auf Ukrainisch verboten. Die Ukrainer galten hier nicht als eigene Nation, sondern als Kleinrussen, ihre Sprache wurde lediglich als minderwertiger Dialekt des Russischen betrachtet.

So wurde Lemberg zum Zufluchtsort für Schriftsteller, Wissenschaftler und Kulturschaffende aus der Zentralukraine. Auch politische Beteiligung war hier für nationale Minderheiten möglich – etwas, was im Russischen Reich absolut unvorstellbar wäre.

Dort galten die Ukrainer und deren nationale Idee lange Zeit als die „österreichische Erfindung“, die nur ein Ziel hatte: die Schwächung des Zaren. So war das tiefe Misstrauen im russischen Teil der Ukraine gegenüber Galizien vorprogrammiert, zumal dort die Städte nicht ukrainisch, sondern russisch-jüdisch geprägt waren.

Massiver Widerstand
In der kommunistischen Zeit wurden diese Gräben zunächst noch tiefer. Der massive Widerstand gegen die Sowjets und die Zusammenarbeit von einem Teil der ukrainischen Nationalisten mit den Deutschen im Zweiten Weltkrieg wurden als Hochverrat der ganzen Region verteufelt.

Die Einwohner Galiziens wurden einst von der sowjetischen und werden heute von der russischen Propaganda als „Banderowzy“ beschimpft – als Anhänger des militanten ukrainischen Nationalismus der 1930er und 1940er Jahre. Stepan Bandera, der damals den radikalen Flügel der Organisation der Ukrainischen Nationalisten (OUN) anführte, wird vor allem in der Westukraine als Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine verehrt.

Ausgeblendet wird dabei völlig unkritisch die andere Seite der Medaille – insbesondere die Vernichtung der polnischen Bevölkerung durch die ukrainische Aufstandsarmee, dem militärischen Arm der OUN, in Wolhynien und Ostgalizien im Zweiten Weltkrieg, aber auch die Rolle der OUN bei den jüdischen Pogromen und deren zeitweise Kollaboration mit Nazideutschland.

Obwohl die Ideologie des ukrainischen Nationalismus der 1930er Jahre nur von einem kleinen Teil der Gesellschaft akzeptiert wird, leben die Feindbilder aus der Sowjetzeit weiter. Besonders die Krim ist dafür ein dankbares Pflaster. Bei der Annexion der Halbinsel stand die Warnung vor den imaginierten „Banderowzy“ im Zentrum der russischen Propaganda.

„Freie Stadt für freie Bürger“
Paradoxerweise hindert diese Hysterie die russischen Touristen nicht daran, das wieder aufgeblühte Flair der Wiener Kaffeehäuser in Lemberg und dessen gastfreundliche Atmosphäre zu genießen.

Lemberg präsentiert sich heute gern als eine weltoffene Stadt, die ihre Kraft nicht nur aus der Vergangenheit schöpft, sondern eine elektrisierende Mischung aus Tradition und Moderne bietet. „Freie Stadt für freie Bürger“ stand auf einem Plakat am Rathaus im EU-Blau während der ukrainischen Revolution in diesem Winter. Dadurch werden keine Bilder aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wach, eher die von 1848.
Erster Weltkrieg und die Ukraine: Die alte Grenze prägt bis heute
 

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#4
HOLODOMOR
Wendepunkt für ukrainische Geschichte
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Vor 90 Jahren sind auf dem Gebiet der heutigen Ukraine aufgrund der Politik des Sowjetdiktators Josef Stalin Millionen Menschen ums Leben gekommen. Die Schrecken jener Zeit beschäftigen das Land noch heute: So lässt nicht zuletzt der von Russlands Präsident Wladimir Putin geführte Krieg Erinnerungen daran wach werden. Für die Ukraine stelle die „Vernichtungserfahrung“ Anfang der 1930er zugleich ein „einigendes Element“ im Streben nach Unabhängigkeit dar, sagen Fachleute zu ORF.at.
26. März 2022, 23.09 Uhr
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Auf einer Anhöhe über dem Fluss Dnjepr in Kiew erinnert heute noch die Statue eines kleinen, ausgemergelten Mädchens mit trauriger Miene an die Hungersnot 1932 und 1933 – auch Holodomor (Tötung durch Hunger, Anm.) genannt. In den Händen hält sie fünf Ähren. Diese stehen symbolisch für ein damals gültiges Gesetz, das besagte, dass jeder und jede, die fünf Ähren von einem Feld pflückte, zu über zehn Jahren Haft oder gar zum Tode verurteilt werden konnte. Kinder waren davon nicht ausgenommen.

Das Ausmaß der Katastrophe lässt sich anhand der Figur des Mädchens, aber auch anhand der spärlichen Berichte aus jenen Jahren nur erahnen. Der ungarische Reporter Arthur Koestler, der als einer der wenigen westlichen Journalisten in die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik einreisen durfte, berichtete etwa von Bahnhöfen, die „von bettelnden Bauern mit geschwollenen Händen und Füßen“ gesäumt waren. Die Frauen hielten „verhungernde Säuglinge mit stockartigen Gliedmaßen, riesigen, wackelnden Köpfen und geschwollenen Bäuchen an die Waggonfenster“.

picturedesk.com/Tass/Sindeyev Vladimir
„Mann in Charkow an Hunger gestorben 1933“: Dieses Bild wurde in Kiew bei der Ausstellung „Deklassiertes Gedächtnis“ gezeigt

Hungersnot als ukrainische „Vernichtungserfahrungen“
Die Menschen fielen Berichten zufolge auf den Feldern, auf den Straßen, auf dem Land wie auch in der Stadt aufgrund des Hungers tot um. In den Leichenhäusern sammelten sich unzählige leblose Körper. Vereinzelt wurde gar über Fälle von Kannibalismus berichtet. Drei bis vier Millionen Opfer brachte die Hungersnot allein in der damals rund 30 Millionen Einwohner umfassenden Ukraine, schätzen Fachleute. Wenngleich die Ukraine in absoluten Zahlen die meisten Toten zu beklagen hatte, so fielen der Hungersnot auch in anderen Teilen der Sowjetunion Hunderttausende Menschen zum Opfer.

Der Holodomor sei „fester Bestandteil der Vernichtungserfahrungen, die die Ukrainer und Ukrainerinnen im Laufe der Zeit im Kontakt mit Imperien beziehungsweise im Kontakt mit ausländischen Invasoren wie dem sowjetischen Imperium, davor dem russländischen Imperium und jetzt jenem von Wladimir Putin machen mussten“, sagt die Historikerin Kerstin Susanne Jobst von der Universität Wien zu ORF.at. „Es ist ein Stück Geschichte, und die Ukrainer erinnern sich daran als einen Versuch, sie auszulöschen“, wird die US-Historikerin Anne Applebaum in der „Washington Post“ zitiert. Das Bewusstsein, dass sie „vielleicht ausgelöscht werden könnten“, sei ein „Grund dafür, warum sie jetzt kämpfen“.
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Zwangskollektivierung und Entkulakisierung
Die Hungerkatastrophe in dem stark landwirtschaftlich geprägten Gebiet war vor allem Produkt fehlgeleiteter sowjetischer Politik in den Monaten und Jahren zuvor: Nachdem in Teilen der heutigen Ukraine für kurze Zeit infolge der Oktoberrevolution 1917 eine eigene Ukrainische Volksrepublik errichtet worden war, wurde diese 1920 als Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik in das von den Bolschewiken regierte Sowjetrussland eingegliedert. Dabei kam es auch in den 1920ern zu Hungerkrisen.
Doch die Lage verschlechterte sich mit dem Wechsel der Regierenden nochmals drastisch: Hatte Revolutionsführer Wladimir Lenin den Bauern mit seiner Politik noch Freiheiten gelassen, so sollte sich das mit der Herrschaft von Stalin ab 1928 umfassend ändern. Unter Stalin wurde erst eine freiwillige Kollektivierung der Landwirtschaft und später aufgrund geringen Zuspruchs die Zwangskollektivierung (also die Eingliederung der Bauern in staatliche Wirtschaftsstrukturen) und Entkulakisierung beschlossen. Als Kulaken wurden damals wohlhabende Bauern bezeichnet, die Stalin ein Dorn im Auge waren.
picturedesk.com/Mary Evans/Marx Memorial Libra
Stalin ordnete die Zwangskollektivierung an, die Bauern zwang, ihre Höfe aufzugeben und sich Großbetrieben anzuschließen

Hartes Vorgehen gegen bäuerlichen Widerstand
Vonseiten der Bauern sei aber erheblicher Widerstand gekommen, sagt der Historiker Kurt Scharr von der Universität Innsbruck gegenüber ORF.at. Manche schlachteten aus Ärger ihr Vieh oder zerstörten landwirtschaftliche Ausrüstung. Auf den Protest reagierte Stalin mit Deportationen, Exekutionen, Verhaftungen und Enteignungen.

„Gleichzeitig lanciert Stalin eine Politik der Industrialisierung“, erklärt der Historiker weiter. „Das muss er finanzieren. Und wie? Da gibt es ein altes Rezept – durch agrarische Exporte.“ Während landwirtschaftliche Erträge also ins Ausland und in die wachsenden Städte wanderten, blieb für die ländliche Bevölkerung immer weniger übrig.

Stalins „Mantel des Schweigens“
Das gipfelte in den 30ern schließlich im Holodomor. Die Hungersnöte wurden damals „sehr wohl in Kauf“ genommen, „weil man damit letztendlich diese soziale Schicht der bäuerlichen Bevölkerung, die Widerstand leisten könnte oder sich diesem System nicht einordnen ließ, mit einem Schlag ausschalten kann“, hält Scharr fest. Dass die breite Öffentlichkeit davon erfährt, war aber nicht gewünscht.
„Stalin hat zu der Zeit versucht, den Mantel des Schweigens über die Hungersnot zu legen“, sagt Jobst. Statistiken wurden geschönt. Die Bevölkerung wurde zudem daran gehindert, die Ukraine in Richtung Westen zu verlassen – zugleich sollte die ländliche Bevölkerung im Sinne der Aufrechterhaltung der Propaganda daran gehindert werden, in Städte wie Charkiw zu gehen. An der misslichen Lage war auch der Westen nicht unbeteiligt: „Die Weltöffentlichkeit hatte Kenntnis von diesen Ereignissen. Es gab aber auch Interessen seitens des Westens, diese Hungersnot nicht allzu sehr publik zu machen“, so Jobst mit Verweis auf sowjetische Getreideexporte ins Ausland.

Durst nach geheimer Geschichte
Tatsächlich blieb das Wissen über die verheerende Hungerkrise jahrzehntelang im Dunkeln. Das änderte sich erst unter der Regierung von Michail Gorbatschow Mitte der 80er Jahre. Dessen Transparenz- und Umbaupolitik habe den „Hunger der Leute nach einer Vergangenheit, die ihnen nicht zugänglich war“, befeuert, so Scharr: „Da kommt auch die Idee der ukrainischen Nation wieder auf.“
Wer von „heute auf morgen einen eigenen Staat errichten“ wolle, müsse den Menschen, die „auf diesem Territorium leben, etwas liefern“, erklärt der Historiker weiter. Neben abstrakten Staatsgrenzen seien das im Fall der Ukraine etwa eine lange Zeit unterdrückte Sprache und eine nicht immer homogene Geschichte – immerhin gehörten die unterschiedlichen Regionen der heutigen Ukraine über die Jahrhunderte auch zu unterschiedlichen Imperien.
Reuters/Valentyn Ogirenko
Denkmal für die Opfer der Hungersnot in Kiew

Ukraine fordert Anerkennung als Genozid
Da kommt die tragische Hungersnot in den 30ern ins Spiel. „Wenn ich den Holodomor hernehme und sage, dass dieser damals gezielt gegen die ukrainische Bevölkerung gerichtet war, dann liefert das ein einigendes Element in einem jungen Nationalstaat“, erklärt der Historiker in Anspielung auf die insbesondere in den 1990ern und den frühen 2000ern aufkeimende Genozid-Debatte.

Ein Völkermord oder Genozid ist ein Straftatbestand im Völkerstrafrecht. Nach der Definition der Vereinten Nationen (UNO) liegt ein Genozid etwa vor, wenn „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe in Teilen oder ganz zerstört“ wird. Bei der Bewertung, ob es sich um einen Genozid handelte, scheiden sich bis heute die Geister.

„Die ukrainische offizielle Meinung ist, dass es ein Hungergenozid gewesen ist“, hält die Historikerin Jobst fest. Bis heute fordert die Ukraine auch die internationale Anerkennung als Genozid. „Der offizielle russische Standpunkt ist, dass es keine gezielte Hungersnot gegen die Ukrainer war, weil auch viele Russen und andere gestorben sind. Es war anfänglich primär eine Folge der unglücklich gelaufenen Kollektivierung, und es sind auch viele Nichtukrainer gestorben“, erläutert die Expertin die russische Sicht. Zudem waren damals auch ukrainische Parteisekretäre für die Lage mitverantwortlich.

Fachleute uneins
Auch Fachleute sind sich in der Bewertung uneins. Die US-Historikerin Applebaum bezeichnet die Hungersnot etwa als einen geplanten und gezielten Massenmord, der US-Historiker Timothy Snyder sieht die Kriterien für eine Einstufung als Genozid gegeben. Laut Scharr ist Stalins Politik gegen eine soziale Schicht gerichtet gewesen, nicht aber per se gegen das ukrainische Volk. Jobst nimmt nach eigenen Worten hingegen „eine mittlere Position ein“.

„Ursprünglich war es für Stalin und seine Gruppe nicht als gezielte Aktion gegen Ukrainer und Ukrainerinnen geplant“, das habe sich im Laufe der Zeit gedreht, fügt Jobst hinzu: „Die antiukrainische Stoßrichtung der Aktion insgesamt hat sich im Laufe der Zeit im Kreml durchgesetzt“, sagt sie. Nicht zuletzt wurden in den 30ern auch zahlreiche ukrainische Intellektuelle deportiert.


picturedesk.com/EPA/Sergey Dolzhenko
Der ehemalige Präsident Viktor Juschtschenko sah den Holodomor als Ereignis, mit dem sich alle Ukrainer identifizieren sollten

„Orange Revolution“ bringt neue Bedeutung
Die Hungersnot sei in den 1990ern und 2000ern im Zuge des „Nation-Building“ „politisch instrumentalisiert“ worden, sagt Scharr – vor allem auch durch Viktor Juschtschenko, der infolge der „Orange Revolution“ von 2005 bis 2010 Präsident war. Die ukrainische Historikerin Tatiana Schurschenko (Zhurzhenko) schrieb in einem Paper diesbezüglich: „Es war nach der Orange Revolution, dass der Holodomor Herzstück einer neuen Identitätspolitik wurde, die die ukrainische Nation als ‚postgenozidale‘ Gemeinschaft, als kollektives Opfer eines kommunistischen Regimes konzeptualisierte.“

Dabei habe jene offizielle Meinung auch innerhalb der Ukraine gemischte Reaktionen hervorgerufen, schreibt die Forscherin in dem Artikel aus dem Jahr 2011. „Dieses Ereignis steht wie kein zweites als Metapher für das ukrainische Leid unter dem sowjetischen Regime.
Die kollektive Erinnerung an den Holodomor spielte eine wichtige Rolle für die Protestierenden in der Ukraine in den Jahren 2013 und 2014“, meint der Historiker Serhij Plochy im „Spiegel“-Interview zur Bedeutung des Holodomor im 21. Jahrhundert.

Die Lüge lebt weiter
Dieser Tage wird einerseits wegen der kriegsbedingten prekären humanitären Lage in Teilen der Ukraine Alarm geschlagen, andererseits wird seitens UNO-Generalsekretär Antonio Guterres, aber auch aufgrund einer mit dem Krieg einhergehenden drohenden globalen Hungerkrise vor einem „Hurrikan des Hungers“ gewarnt. Vergleiche mit dem aktuellen russischen Angriffskrieg lehnen Scharr und Jobst aber ab.

AP/Sputnik/Mikhail Klimentyev
Auch Putin beherrsche die Werkzeuge des „Täuschens und Tarnens“ perfekt, sagen Fachleute

Wenn, müsse der Vergleich auf einer Metaebene angesiedelt sein, sagt Scharr. „Das heißt: Was fließt in Putin zusammen?“, fragt der Historiker und liefert sogleich die Antwort darauf: „das Sowjetsystem, das per se verlogen war“, und die Strukturen, die dort mit den Vorgängerorganisationen des KGB geschaffen wurden, „deren Aufgabe es war, die Bevölkerung zu terrorisieren, kontrollieren und unterminieren“. Die Werkzeuge, wie man Leute manipuliert und kontrolliert, beherrsche Putin „perfekt“, betont Scharr.

So wie Putin seine Bevölkerung heute über die Invasion in der Ukraine belüge, so lebe auch die Lüge, die Stalin über die Hungersnot erzählte, weiter, schrieb die US-Historikerin Applebaum dazu. 2015 wurde auf der kremlnahen Website Sputnik News etwa ein Artikel mit dem Titel „Holodomor Hoax“ (Holodomor-Falschmeldung, Anm.) auf Englisch veröffentlicht. Die Hungersnot, heißt es da, sei „einer der berühmtesten Mythen und eines der giftigsten Werke von antisowjetischer Propaganda“.
27.03.2022, Katja Lehner, ORF.at

Links:

Buchhinweise
Kerstin S. Jobst: Geschichte der Ukraine. Reclam, 276 Seiten, 7,60 Euro.
Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. C. H. Beck, 523 Seiten, 29,95 Euro.
Anne Applebaum: Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine. Siedler, 544 Seiten, 37,10 Euro
Holodomor: Wendepunkt für ukrainische Geschichte
 
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