Der britische Journalist Fred Pearce deckt viele vertuschte Schauplätze großer Atomkatastrophen in Ost und West auf

josef

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GEHEIMHALTUNG UND VERTUSCHUNG
Wie die Atomindustrie das Vertrauen der Menschheit verspielte
Der britische Journalist Fred Pearce hat die Schauplätze großer Atomkatastrophen besucht. Dass viele davon kaum bekannt sind, ist kein Zufall

Tschernobyl (im Bild der ehemalige Kontrollraum des zerstörten Reaktorblocks 4) wurde zum Symbol für die Gefahren der Atomkraft. Militär und Industrie haben faktenbasierte und ehrliche Debatten zu den Vor- und Nachteilen der Kernkraft verunmöglicht, meint Fred Pearce.
Foto: Imago

Hiroshima, Tschernobyl, Fukushima – diese Orte haben sich als mahnende Beispiele für das katastrophale Potenzial der Atomkraft ins Menschheitsgedächtnis eingebrannt. Viele Namen auf der Liste verheerender Nuklearunfälle sind weitaus weniger bekannt. Und das hat seit Anbeginn des Atomzeitalters System, schreibt der britische Journalist Fred Pearce in seinem Buch "Fallout". "Überall herrschen seit jeher dieselbe zwanghafte Geheimhaltung, Hinterhältigkeit und Verantwortungslosigkeit, und sie überdauern selbst den Wandel von einer militärischen zu einer zivil genutzten Technologie."

Für Pearce ist es eine Kultur der Vertuschung, die ehrliche und faktenbasierte gesellschaftliche Debatten über die Nutzung von Atomenergie bis heute unmöglich macht. Das untermauert er mit einer Reportagereise, die ihn zu den strahlenden Schauplätzen des Anthropozäns führt. Pearce hat mit Bewohnern verseuchter Landstriche gesprochen, mit Zeitzeugen, Wissenschaftern und Aktivisten. Er hat Fakten zu Orten zusammengetragen, an denen Atomwaffen detonierten, Kernreaktoren explodierten und verstrahlter Schutt vergraben liegt.

Wie ein von Ideologien und politischen Systemen unabhängiger roter Faden zieht sich dabei die toxische Heimlichtuerei durch die Landschaft. Geradezu beispielhaft dafür steht das Jahr 1957, in dem es zu gleich drei schweren kerntechnischen Unfällen kam: in der Sowjetunion, den USA und in Großbritannien. Auch wenn sich Hintergründe und Ausmaße der Unfälle unterscheiden, hatten sie doch eines gemein. Auf Transparenz und rechtzeitige Warnungen an die Bevölkerung wurde allerorts verzichtet.

Der Kalte Krieg, ein Zeitalter der Katastrophen
Den Anfang machte die kerntechnische Anlage Rocky Flats im US-Bundesstaat Colorado, wo während des Kalten Krieges massenhaft Plutoniumkerne für das nukleare Waffenarsenal der USA hergestellt wurden. Am 11. September 1957 kam es in einem Gebäude zur Plutoniumverarbeitung zu einem Brand, der sich durch eklatante Sicherheitsmängel rasch ausbreitete. Als die Werksfeuerwehr eintraf, wurden sämtliche Sicherheitsvorschriften missachtet, der Brand wurde trotz aller Warnungen mit Wasser gelöscht. Das Ergebnis war eine verheerende Explosion, durch die große Mengen Plutoniums in die Luft und die Kanalisation gelangten.
Die Bewohner der nur 30 Kilometer entfernt gelegenen Stadt Denver wurden nicht gewarnt – wovor auch. Ihren Informationen zufolge wurden in Rocky Flats schließlich nur Haushaltschemikalien hergestellt. Doch auch beim Militär interessierte sich niemand für eine Untersuchung des Ausmaßes der Kontamination oder für den genauen Unfallhergang: "Unmittelbar nach dem Brand lag das Hauptaugenmerk der Verantwortlichen darauf, die Produktion wieder anlaufen zu lassen", heißt es in einem Bericht der Gesundheitsbehörde von Colorado, den Pearce zitiert. Dass es dann auch in den 1960er-Jahren mehrfach zu Zwischenfällen in Rocky Flats kam, ist wenig überraschend.

Nur knapp zwei Wochen nach dem Unfall in Rocky Flats ereignete sich dann im gegnerischen Lager die bis dahin größte Atomkatastrophe der Geschichte: In der kerntechnischen Anlage Majak im Südural, in der Plutonium für das sowjetische Atomwaffenprogramm hergestellt wurde, explodierte ein Tank mit flüssigen Abfällen aus der Plutoniumaufbereitung. Enorme Mengen radioaktiven Materials gelangten in die Umgebung und erzwangen, mit Verspätung, das erste Sperrgebiet der Menschheitsgeschichte.

Unfall abgestritten
Die Öffentlichkeit wurde über den Unfall in der streng geheimen Anlage Majak nicht unterrichtet, bis heute gilt er als unzureichend untersucht. Klar ist: Auch hier hatten völlig verantwortungslose Entscheidungen und fahrlässige Arbeitsbedingungen zur Katastrophe geführt, auch hier lag das Hauptaugenmerk im Anschluss nicht auf einer Verbesserung der Produktion, sondern nur auf ihrer raschen Wiederaufnahme. Es war der schwerste, aber bei weitem nicht der letzte Unfall in der Nuklearanlage. Der jüngste Zwischenfall liegt gerade einmal drei Jahre zurück: Wie Wissenschafter nachweisen konnten, wurde in Majak 2017 bei der Wiederaufbereitung abgebrannter Brennstäbe aus Atomkraftwerken Ruthenium-106 freigesetzt und gelangte bis nach Europa. Russland dementierte.

Auch im britischen Windscale, späteraus PR-Gründen in Sellafield umbenannt, kam es im Herbst 1957 zu einem verheerenden Brand in einer Plutoniumfabrik, bei dem eine radioaktive Wolke über Großbritannien und Europa hinwegzog. Die Anlage, die der britischen Atomwaffenproduktion diente, stand sogar kurz vor einer Explosion, deren Folgen womöglich mit denen der Tschernobyl-Katastrophe vergleichbar gewesen wären. Gewarnt wurde niemand – stattdessen wurde versucht, die Angelegenheit unter den Teppich zu kehren, schreibt Pearce, der im Südosten Englands aufgewachsen ist und damals als Kind wohl selbst unter der Wolke spielte. Als herauskam, dass in Windscale etwas passiert war, folgten Beschwichtigung und umfangreiche Vertuschungsversuche.

Leben in der Sperrzone
Es ist eine Geschichte von technisch-ethischem Versagen ungeheuren Ausmaßes, die Pearce erzählt – und die sich bis heute fortsetzt. Der renommierte Umweltjournalist betätigt sich aber nicht etwa aktivistisch, er versucht, das Thema sachlich anzugehen und Fakten zu präsentieren. Dabei räumt er auch mit unhaltbaren Behauptungen so mancher Anti-Atomkraft-Aktivisten auf. Im Fokus stehen aber die Machenschaften einer Atomindustrie, die das Vertrauen der Bevölkerung verspielt habe: "Die Betreiber von Kernkraftwerken, deren Eigentümer sowie Regierungen und Aufsichtsbehörden haben häufig Dinge vertuscht, das Ausmaß ihrer Fehler zu verschleiern versucht, falsch über Unfälle informiert, in Notlagen das Weite gesucht und die wahren Sanierungskosten verschwiegen."

Am Ende bleibt die Frage, ob das Atomzeitalter nicht seinem (aufgrund der radioaktiven Hinterlassenschaften sehr langsamen) Ende entgegenblickt. Hoffnung macht indes die Bestandsaufnahme der Artenvielfalt in den Sperrzonen, von Tschernobyl bis Majak: Für die Tier- und Pflanzenwelt scheint die Abwesenheit des Menschen die Folgen erhöhter Strahlenwerte bei weitem aufzuwiegen.

(David Rennert, 26.12.2020)

Buch dazu:
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Fred Pearce, "Fallout: Das Atomzeitalter". € 25,70 / 342 Seiten. Verlag Antje Kunstmann, München 2020
Cover: Kunstmann
Wie die Atomindustrie das Vertrauen der Menschheit verspielte - derStandard.at
 
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