Griechenland: Wann die antiken Griechen lernten, ihre Städte durch Mauern zu schützen

josef

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Wann die antiken Griechen lernten, ihre Städte durch Mauern zu schützen
Erst existenzielle Bedrohungen führten zu einem flächendeckenden Schutz griechischer Siedlungen
"Nachdem Europa und Amerika das friedlichste halbe Jahrhundert ihrer Geschichte erlebt und kriegerische Konflikte fast nur aus sicherer Distanz in 'Zweiten' und 'Dritten' Welten wahrgenommen haben, rücken Kriege wieder in den Bereich der Möglichkeit – und wir haben weniger als je eine Vorstellung davon, welche Formen sie bei uns annehmen könnten: Grund genug, in der Geschichte nach Erfahrungen des Krieges zu fragen." So schreibt einer der bekanntesten deutschen Archäologen, Tonio Hölscher, in der Einleitung zu seinem jüngsten Buch "Krieg und Kunst im antiken Griechenland und Rom". Die Intention des folgenden Blogbeitrags ist dieselbe. Aber nicht die antiken Darstellungen von Krieg und Gewalt sollen wie bei Hölscher betrachtet werden, sondern die Reaktion der frühen Griechen auf kriegerische Bedrohungen mit dem Bau von Verteidigungsanlagen.


Schwerbewaffnete Griechen im Kampf auf der sogenannten Chigi-Kanne (um 640 v. Chr., Museum Villa Giulia, Rom).
Foto: Wikimedia Commons/Sailko, CC BY-SA 4.0 (Creative Commons — Attribution-ShareAlike 4.0 International — CC BY-SA 4.0)

Eine unklare Forschungslage
Der Nachweis früher griechischer Befestigungen aus der Zeit von circa 900 bis 480 v. Chr. ist bisher nur selten gelungen, und es ist umstritten, ob dieser weitgehende Negativbefund nur auf deren Zerstörung, Überlagerung oder einen mangelhaften Forschungsstand zurückzuführen ist. Einige Wehrmauern des 8. oder 7. Jahrhunderts v. Chr. hat man jedenfalls auf den Inseln der Ägäis festgestellt. Sie wirken eher bescheiden und dürften vorrangig zum Schutz vor gelegentlichen Raub- beziehungsweise Piratenüberfällen als vor großen organisierten Heeren gebaut worden sein. In Kleinasien, wo griechische Städte Kolonien auf fremdem Terrain gegründet hatten, sah die Situation hingegen schon etwas anders aus. Hier trafen die Griechen auf einheimische Völkerschaften wie Karer, Phryger und Lyder, zu denen das Verhältnis von kriegerischen Auseinandersetzungen bis hin zu friedlicher Koexistenz reichte – um nicht zu vergessen, dass man sich bisweilen auch selbst untereinander bekämpfte.

Rekonstruktion der archaischen Stadtmauer von Smyrna (Grafik bearbeitet).
Foto: R. V. Nicholls, Old Smyrna: The Iron Age Fortifications, BSA 53/54, 1958/1959, Abb. 7

In Smyrna, dem heutigen Izmir, begegnen uns schon ab dem 9. Jahrhundert v. Chr. die frühesten und monumentalsten griechischen Befestigungen. Sie waren fast fünf Meter stark, bestanden aus Lehmziegeln und waren offensichtlich von phrygischen und lydischen Verteidigungsanlagen inspiriert. Smyrna scheint mit seinen Befestigungen aber eher die Ausnahme unter den griechischen Städten gewesen zu sein. Das zeigt sich im 6. Jahrhundert v. Chr., in dessen Mitte sich die militärische Lage in Kleinasien dramatisch zuspitzte. Im Osten erschien mit den Persern eine neue Großmacht, die zunächst das zentrale Kleinasien und das dortige von König Kroisos geführte Lyderreich überrollte, um sich im Anschluss gegen die griechischen Küstenstädte zu wenden. Für einige von diesen scheint der Angriff überraschend gekommen zu sein. Zumindest berichtet der antike Geschichtsschreiber Herodot davon, dass an einigen Orten erst unter dem Druck der persischen Bedrohung damit begonnen worden ist, Mauern zu errichten, über die sie zuvor also im Gegensatz zu Smyrna nicht verfügt haben. Die Bewohner von Knidos sollen sogar versucht haben, ihre Stadt durch Ausheben eines Grabens in eine Insel zu verwandeln.

Der Glücksfall Phokaia
Phokaia soll die erste griechische Stadt gewesen, die von den Persern angegriffen wurde, und alle weiteren folgten. Die persische Vorgehensweise bei der Belagerung scheint dabei stets dieselbe gewesen zu sein, wie Herodot berichtet: "Als er [der persische General Harpagos] nach Ionien kam, eroberte er die ionischen Städte mit Hilfe von Dämmen. Wenn er die Feinde in den Mauern eingeschlossen hatte, schüttete er darauf an den Mauern Erdwälle auf und zerstörte sie." Im Fall von Phokaia lässt uns der antike Historiker aber in der Form einer unterhaltsamen Anekdote an einigen Besonderheiten und Details teilhaben.

So seien die Phokaier die ersten Seefahrer gewesen, die Fahrten ins westliche Mittelmeergebiet und sogar über die Meerenge von Gibraltar hinaus unternommen hätten. Dort seien sie bis in das für seinen sagenhaften Metallreichtum bekannte Königreich Tartessos gelangt, mit dessen König Arganthonios sie Freundschaft geschlossen hätten. Dessen Zuneigung sei sogar so groß gewesen, dass er die Phokaier aufgefordert habe, ihre Heimat zu verlassen und nach Tartessos überzusiedeln. Weil diese sein Angebot jedoch ablehnten, habe Arganthonios, dem die wachsende Macht der Perser zu Ohren gekommen war, den Phokaiern stattdessen Gold für den Bau einer Wehrmauer für ihre Heimatstadt geschenkt. Noch zwei weitere Details überliefert Herodot in diesem Zusammenhang: So sei der Umfang der auf diese Art und Weise von den Phokaiern dann tatsächlich errichteten Mauern beträchtlich gewesen, und außerdem hätten diese durchwegs aus großen, wohlgefugten Steinen bestanden.


Ausgegrabener Abschnitt der spätarchaischen Stadtmauer von Phokaia.
Foto: O. Hülden

Schenkt man Herodot Glauben, dann verfügte Phokaia aufgrund der beschriebenen glücklichen Fügung und fremden Hilfe also über eine nicht nur besonders lange, sondern auch besonders schöne Stadtmauer. Vor einigen Jahren scheinen türkische Archäologen nun tatsächlich Hinweise auf die Existenz eines besonders großen Mauerrings in Phokaia gefunden zu haben. Außerdem legten sie einen kurzen, aber gut erhaltenen Abschnitt mitsamt einer Toranlage frei. Funde aus einer Brandschicht erlaubten eine Datierung um die Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr., also genau in jene Zeit, in der die persischen Truppen vor Phokaia gestanden sein müssen. Und als wäre das nicht schon genug, entspricht das Erscheinungsbild der Mauer auch noch genau demjenigen, das Herodot beschrieben hat. Die literarische Überlieferung scheint demnach voll und ganz durch die archäologischen Ausgrabungen eine Bestätigung erhalten zu haben.

Es bleiben dennoch Zweifel
Einige Widersprüche bleiben jedoch bestehen. Die Fortsetzung der Geschichte der Belagerung von Phokaia bei Herodot ist nämlich deutlich schwieriger mit dem archäologischen Befund am Ort in Einklang zu bringen. So soll Harpagos die Stadt eingeschlossen und vor dem Angriff zunächst ein Friedensangebot unterbreitet haben: Um der drohenden Vernichtung zu entgehen, hätten die Phokaier nur einen einzigen Turm einreißen und ein einziges öffentliches Gebäude übergeben müssen. Weil sie dazu nicht Willens waren, zugleich aber ihre Chancenlosigkeit gegen die persische Übermacht erkannten, hätten sie sich Bedenkzeit erbeten. Diese hätten sie dazu genutzt, um mit ihrer gesamten Habe und den Götterbildern der Stadt auf ihren Schiffen zur nahe gelegenen Insel Chios und anschließend sogar noch weiter bis nach Unteritalien zu fliehen, wo sie Hyele, das heutige Velia, gründeten. So hätten die Perser schließlich eine menschenleere Stadt besetzt.

Stimmt dieser Teil der Überlieferung des Herodot, dann ist es niemals zum Angriff auf Phokaia und damit zu Kampfhandlungen gekommen. Die zur Datierung des ausgegrabenen Mauerabschnitts herangezogene Brandschicht könnte demnach gar nicht mit den Persern in Verbindung stehen, sondern müsste anderweitig erklärt werden. Solche Zweifel werden zusätzlich durch den Umstand genährt, dass bei der Ausgrabung der Brandschicht ein kugelrunder Stein angetroffen wurde, bei dem es sich kaum um etwas anderes handeln kann als um einen Katapultstein. Das Katapult ist allerdings erst um 400 v. Chr. im von Griechen besiedelten Syrakus auf Sizilien erfunden worden. Irgendetwas stimmt hier also nicht, wobei sich diese Unklarheit bisher nicht auflösen lässt.

An dieser Stelle erscheint es daher angebracht, sich nicht auf Spekulationen im Hinblick auf die Interpretation archäologischer Funde und Befunde sowie den Wahrheitsgehalt der von Herodot überlieferten Anekdote und der darin enthaltenen Details einzulassen. Stattdessen sind jene Teile der Überlieferung des antiken Geschichtsschreibers in den Blick zu nehmen, die tatsächlich der antiken Realität entsprochen haben müssen. Dazu zählen vor allem einige Umstände, die von übergeordneter Bedeutung sind. Zum einen hätte Herodot sicherlich kaum davon gesprochen, dass einige der griechischen Siedlungen unbefestigt waren, wenn dies tatsächlich nicht der Fall gewesen ist. Er hätte wohl auch kaum jene möglicherweise fiktive Anekdote über die Fremdfinanzierung der Mauern von Phokaia erzählt, wenn jede griechische Stadt ohne weiteres in der Lage gewesen wäre, selbst die Ressourcen für den Bau von Verteidigungsanlagen aufzubringen. Und schließlich scheint es für die damalige Leserschaft nicht ungewöhnlich gewesen zu sein, dass man nicht unbedingt auf den Schutz von Befestigungen vertraute, sondern im Zweifelsfall der Flucht den Vorzug gab.

Eine vielfältige und langsame Entwicklung
Welche allgemeinen Erkenntnisse lassen sich am Ende daraus ziehen? Obgleich sie mehr oder weniger denselben kriegerischen Bedrohungen ausgesetzt waren, reagierten die griechischen Städte in Kleinasien offensichtlich unterschiedlich darauf. Während die Phokaier und andere ihre Städte schon früh und vorausschauend mit Wehrmauern umgaben, unterblieb dies andernorts. Die Gründe dafür kennen wir gewöhnlich nicht, aber sie dürften in mangelnden Ressourcen, einer höheren Risikobereitschaft oder einem Vertrauen auf die Fähigkeiten des eigenen Heeres zu finden sein. Infolge dessen erfolgte in diesen anderen Fällen die Reaktion auf die Bedrohung durch den Feind erst, als dieser schon fast vor der Haustür stand.


Bislang ohne Nachweis einer archaischen Mauer: vormals archaisch und jetzt spätklassisch datierte Mauerreste in Ephesos.
Foto: ÖAW-ÖAI/Niki Gail

Das Phänomen einer solchen unterschiedlichen Vorgehensweise ist nicht auf die kleinasiatischen Griechenstädte beschränkt. Vielmehr zeigt sich ein ähnliches Muster, als die Perser Jahrzehnte später im frühen 5. Jahrhundert v. Chr. das griechische Festland angriffen und dort neben gut gesicherten Orten wie Eretria auf zahlreiche unbefestigte oder nur mit einer Burg ausgestattete Städte, darunter wohl Athen, trafen. Das mag im Übrigen durchaus eine Rolle dabei gespielt haben, dass die gegen den persischen Feind vereinigten Griechen die Entscheidung in Land- und Seeschlachten und nicht in der Verteidigung von Stadtmauern suchten.

Befestigungsmauern scheinen also tatsächlich nicht zum durchgängigen Repertoire griechischer Städte in der archaischen Zeit gehört zu haben. Vielmehr gab der persische Angriff auf Griechenland offensichtlich den entscheidenden Impuls für eine Entwicklung, einem gesteigerten Schutzbedürfnis durch den Bau von Mauern Rechnung zu tragen. Der deutsche Politikwissenschafter Herfried Münkler hat einmal das Sicherheitsbedürfnis als eine der stärksten Triebfedern für die Vergemeinschaftung von Menschen ausgemacht. Die archaische Epoche stellt jene Phase in der griechischen Geschichte dar, in der sich die Polis als Gemeinschaft der Bürger formierte und etablierte. Dabei spielten Bedrohungen von außen eine zunehmende Rolle, die zuletzt mit der persischen Expansion ein für Griechenland existenzielles Ausmaß annahmen. Das flächendeckende Ergreifen von Schutzmaßnahmen wie dem Bau von Wehrmauern erfolgte aber erst sukzessive nach den Perserkriegen.


Symbol von Autonomie und Freiheit: die hellenistische Befestigungsmauer von Herakleia am Latmos.
Foto: O. Hülden

Im Zusammenhang mit einer fortschreitenden Professionalisierung der Kriegsführung und militärtechnischen Entwicklungen war es schließlich kaum einer griechischen Stadt ab dem frühen 3. Jahrhundert v. Chr. noch möglich, ohne Verteidigungsanlagen auszukommen. Die Wehrmauern waren tatsächlich zu einem unabdingbaren Element griechischer Städte geworden und damit gleichermaßen zu einem Symbol ihrer Autonomie und Freiheit. (Oliver Hülden, 13.11.2020)

Oliver Hülden ist Stellvertretender Direktor am Österreichischen Archäologischen Institut an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. In diesem Jahr ist seine Habilitationsschrift zum griechischen Befestigungswesen der archaischen Zeit erschienen.

Wann die antiken Griechen lernten, ihre Städte durch Mauern zu schützen - derStandard.at
 
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