Jänner 1918: Großer Streik - Forderungen sofortige Beendigung des Krieges und Brot für alle

josef

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Vor 100 Jahren - Echo der Oktoberrevolution in Österreich
Landläufig heißt es, in Österreich sei noch nie gerne gestreikt worden. Doch vor genau 100 Jahren, ein knappes Jahr vor dem Ende des Ersten Weltkriegs, brachte eine riesige Streikbewegung die Kriegsmaschinerie der Donaumonarchie wenigstens kurzfristig zum Erliegen. Die Massenerhebungen nahmen in Wiener Neustadt ihren Ausgang und waren von zwei wichtigen Forderungen getragen: sofortige Beendigung des Krieges und Brot für alle. Historiker gehen davon aus, dass von 14. bis 22. Jänner 1918 im gesamten Habsburgerreich fast eine Million Menschen streikten.

Massenmobilisierung - gegen den Krieg
Vor hundert Jahren ist der Erste Weltkrieg in sein viertes Jahr gegangen. In diesem besonders harten Winter verschärfte sich die Versorgungslage auch in der österreichischen Heimat dramatisch – viele litten an Hunger und den despotischen Arbeitsbedingungen in der kriegsrelevanten Industrie. Am 14. Jänner gelang es den Arbeitern und Arbeiterinnen, die Kriegsmaschinerie für mehr als eine Woche ins Stocken zu bringen.

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„Arbeitendes Volk! Dreieinhalb Jahre dauert dieser menschenmordende Krieg und trotz der Friedensverhandlungen ist kein Ende dieser Metzeleien abzusehen.“ Mit diesen Worten beginnt das geschichtsträchtige Flugblatt, das am Abend des 12. Jänner 1918 in der Wiener Währinger Straße von der Polizei entdeckt wurde und das in den darauffolgenden Tagen einen Flächenbrand auslösen sollte. Verfasst wurde es von Franz Koritschoner und Leo Rothziegel, zwei jungen Kriegsgegnern.

Sie kritisierten scharf, dass sich die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk immer mehr in die Länge zogen. Die Regierung war äußerst nervös: K. u. k. Außenminister Ottokar Graf Czernin, der die Verhandlungen seitens der Donaumonarchie leitete, telegraphierte am 13. Jänner nach Wien, die Zeitungen sollten streng zensuriert werden, weil Meldungen über den Stand der Verhandlungen Unruhen erzeugen könnten. Die sozialdemokratische Führung verhielt sich in dieser Situation verhältnismäßig ruhig. Ein Umstand, der Koritschoner und Rothziegel sowie viele Arbeiterinnen und Arbeiter dazu bewegte, das Heft selbst in die Hand zu nehmen.


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An vielen Orten in Europa wurde gestreikt - die Presse berichtete ausführlich; hier: „Die Neue Zeitung“

Streiks waren streng verboten – Agitatoren wurden hart bestraft, viele kriegsrelevante Betriebe unterstanden dem Kriegsleistungsgesetz und somit militärischer Disziplinargewalt. Die verschiedenen Friedenskundgebungen, die die Sozialdemokratische Partei am 13. Jänner in Wien und Niederösterreich abhielt, wurden von vielen als zu zögerlich empfunden – es kam zu Protesten gegen die offiziellen Redner.

Massenerhebungen ohne Zustimmung der Sozialdemokratie
Am 14. Jänner, einem Montag, gab die Regierung die Kürzung der Mehlration um 50 Prozent bekannt. Diese Nachricht brachte das Fass zum Überlaufen: Der Startschuss für den wohl bedeutendsten Massenstreik in der österreichischen Geschichte erfolgte um 7.30 Uhr in den Daimler-Motorenwerken in Wiener Neustadt. Kurz darauf schlossen sich die Arbeiter und Arbeiterinnen der Siegl’schen Lokomotivfabrik, der Flugzeugfabrik, der Radiatorenwerke und der Munitionsfabrik G. Rath dem Streik an. Rund 10.000 Menschen versammelten sich vor dem Wiener Neustädter Rathaus.

An vielen Orten der Stadt zirkulierte das berühmte Flugblatt von Koritschoner und Rothziegel. Nun breitete sich der Streik wie ein Lauffeuer aus: Am 15. Jänner legten die rund 15.000 größtenteils weiblichen Beschäftigten der Munitionsfabrik Wöllersdorf die Arbeit nieder. Gestreikt wurde auch im steirischen Industriegebiet, in Linz, in Böhmen und Mähren, in Budapest und natürlich in Wien. Am 19. Jänner erreichte die Bewegung ihren Höhepunkt – an diesem Tag streikten in Wien 113.000 Personen, im übrigen Niederösterreich 154.000.

Diese rasanten Entwicklungen brachten die Sozialdemokratie in Zugzwang. Sie stellte in der Nacht von 16. auf 17. Jänner ein Forderungsprogramm auf, welches unter anderem beinhaltete, von territorialen Forderungen gegenüber Russland abzusehen und die Militarisierung der Betriebe zu beenden. Nach einem Treffen zwischen der sozialdemokratischen Führung und der Regierung, die ihrerseits Zugeständnisse signalisierte, rief die Partei am 19. Jänner zur Beendigung des Streiks auf.

Kein Ende des Krieges
Doch die Streikbewegung war nicht sofort zu Ende. In manchen Quellen wird sogar der 20. Jänner als der Tag mit der stärksten Beteiligung angegeben. Zwar stimmte der Wiener Arbeiterrat bei seiner Sitzung im Arbeiterheim Margareten, die über neun Stunden dauerte, mit großer Mehrheit dem Verhandlungsergebnis mit der Regierung zu. Dennoch kam es bei einigen Versammlungen in Gaststätten, auf Straßen und Plätzen zu Zusammenstößen zwischen Parteireferenten und radikalen Kriegsgegnern.

Die zögerliche und ambivalente Haltung der Sozialdemokratie zog sich durch verschiedene Phasen des Weltkriegs und war in Deutschland noch offensichtlicher. Auch dort war die Sozialdemokratische Partei im Jahr 1914 der patriotischen Kriegsbegeisterung anheimgefallen – sie stimmte im August des Jahres im Reichstag den Kriegskrediten zu. Nach der Beendigung des Jännerstreiks zog sich der Erste Weltkrieg an der Südfront sowie an der Westfront noch fast ein weiteres Jahr hin.


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Die „Arbeiter Zeitung“: „Die ganze große Bewegung endet ohne jeden sichtbaren Erfolg.“

Die Anliegen der „Massen“
In der sozialdemokratischen Geschichtsschreibung wurde die Rolle der Parteileitung legitimiert – sie habe die Anliegen der „Massen“ vernünftig aufgegriffen und dadurch Blutvergießen verhindert. Doch diese Interpretation hat ihre Schattenseiten. Denn die Fortdauer des Krieges kostete nicht nur an der Front zahllose Menschenleben: Im September 1918 ereignete sich in der bereits erwähnten Munitionsfabrik Wöllersdorf, in der im Jänner so viele Arbeiterinnen für Frieden gestreikt hatten, ein furchtbares Unglück. Durch den Brand einer Baracke, in der Munition hergestellt wurde, kam es zu einer Explosion: Mehr als 250 Menschen, die meisten von ihnen Frauen und Mädchen, starben, über hundert wurden schwer verletzt.

Trotz des bitteren Nachgeschmacks der unmittelbaren Wirkungslosigkeit war der Jännerstreik der Vorbote für zahlreiche Sozial-, Gesundheits- und Bildungsreformen. Die Hanusch-Gesetzgebung, die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Frauen, die Gründung der Arbeiterkammer und der Betriebsräte gehen auf diese bewegten Zeiten zurück.

Was wäre gewesen, wenn?
Ein spannendes Feld der Geschichtswissenschaften ist das der „counterfactual history“ - der Erforschung der nicht realisierten Möglichkeiten eines historischen Moments; der Frage also: „Was wäre gewesen, wenn ...“ So geht der Historiker Hans Hautmann davon aus, dass die österreichische Sozialdemokratie sich im Jänner 1918 auch dafür hätte entscheiden können, offensiver vorzugehen und ein strategisches Bündnis zwischen der Arbeiterklasse und jenen Teilen des bürgerlichen Lagers zu suchen, die an der Beseitigung des feudalen Obrigkeitsstaates Interesse haben mussten.

Wäre es also möglich gewesen, dass eine demokratische Regierung in Österreich bereits im Jänner 1918 den Krieg an allen Fronten beendet hätte? Hätte der Jännerstreik 1918, der einige Wochen vor den großen Streiks in Deutschland ausbrach, möglicherweise der Ausgangspunkt für eine langfristige friedliche Entwicklung in Europa sein können? Man wird es nie wissen. Was jedoch mit Sicherheit gesagt werden kann, ist, dass der Jännerstreik eine der eindrucksvollsten Bewegungen gegen Krieg und Ausbeutung war, die es in der Geschichte des 20. Jahrhunderts gab.

Link:
Alexander Behr, für ORF.at - Publiziert am 16.01.2018
http://orf.at/stories/2422054/2422055/
 
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