Völkerwanderungszeit
Mödling und Leobersdorf schlafen nicht miteinander: Was die Gräber der Awaren verraten
In Niederösterreich lebten vor 1300 Jahren Nachfahren der rätselhaften Reiterkrieger. Neue DNA-Analysen bringen verblüffende Erkenntnisse über ihre Partnerwahl ans Licht
Die Awaren waren ursprünglich ein Volk von Reiterkriegern aus der mongolischen Steppe. Im Wiener Becken und der pannonischen Tiefebene herrschten sie zur Zeit der Völkerwanderung für hunderte Jahre (hier die Darstellung eines Steppenkriegers aus der Nördlichen Wei-Dynastie Nordchinas).
Guillaume Jacquet
Seite an Seite leben passt – aber miteinander Kinder kriegen? Nein, danke. So sah man die Sache offenbar vor 1300 Jahren in Mödling und Leobersdorf. In den beiden niederösterreichischen Gemeinden unweit von Wien, zwischen denen etwa 25 Kilometer liegen, enthüllten Gräber der Awarenzeit Familienverhältnisse, die bislang völlig unbekannt waren. Die Analyse im Fachjournal Nature zeigt, dass dort zwei Gemeinschaften trotz ihrer sehr ähnlichen Kultur fast keine Familien miteinander gründeten. Ohne Gentests an den Skeletten hätte man dies nicht herausfinden können, sagt der leitend beteiligte Historiker Walter Pohl, der an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Universität Wien forscht.
Die Awaren sind eine der mysteriösesten Gruppen der Völkerwanderungszeit. Ursprünglich ein Reitervolk aus der mongolischen Steppe, dominierten sie zwischen den Jahren 560 und 800 weite Teile Zentral- und Osteuropas. Erkennen kann man das an den vielen Awarenfriedhöfen im heutigen Österreich und Ungarn. Die Knochen, Waffen und Schmuckstücke in ihren Gräbern erzählen die Geschichte dieser Gemeinschaft – aber mit großem Interpretationsspielraum. Selbst hat sie keine Schriften hinterlassen, man kennt sie aus Beschreibungen ihrer Nachbarn und Feinde.
Waren frühere Grabbeigaben teils aus Gold und Silber, bestattete man die Awaren später ohne Edelmetalle, aber etwa mit diesem Gürtelbeschlag.
ÖAW/Daniel Hinterramskogler
Krieg und Frieden im Wiener Becken
Als Awaren bezeichnet man dabei keine ethnisch homogene Gruppe, sondern die damals herrschende Elite. Im 6. Jahrhundert kamen sie ins Karpatenbecken und wurden durch Kriege und Plünderungen auf der Balkanhalbinsel bekannt. Zu ihren Erfolgen zählte die große Belagerung von Konstantinopel 626 für zehn Tage. "Das hat sonst niemand während der Völkerwanderungszeit geschafft, nicht einmal die Hunnen, die viel bekannter sind als die Awaren", betont Pohl im STANDARD-Gespräch. Die gut organisierte Belagerung habe "den Byzantinern einen solchen Schrecken eingejagt, dass noch heute in der orthodoxen Kirche der sogenannte Hymnos Akathistos gesungen wird". Geschrieben wurde er als Dank an die Gottesmutter "für die wunderbare Rettung der Stadt vor der Awarengefahr".
The Akathist Hymn || O Ἀκάθιστος Ὕμνος
Religious Chants
Mit der Zeit gingen die Awaren vom Nomadenleben zu dörflichen Siedlungen über. In und um Wien recycelten sie teils die römischen Hinterlassenschaften und wurden kulturell homogener. Im Gegensatz zum Klischee der "wilden Awaren" steht, dass sie ab dem späteren 7. Jahrhundert über mehr als hundert Jahre "in einer der friedlichsten Zeiten in der gesamten Geschichte des Wiener Beckens lebten", sagt der Historiker. Bis Karl der Große mit den Feldzügen der Franken gegen sie triumphierte und das Ende ihrer Ära markierte.
Dank Geldern des Europäischen Forschungsrats (ERC) entstand das Projekt Histogenes, das Licht in die Lebenswelt der Awaren bringt. Dabei zeichnen Pohl und sein Team ein komplexes Bild. Zwar gab es Vermischungen zwischen Personen, deren Vorfahren aus Zentralasien nach Europa migrierten, und den hier ansässigen Menschen. In Mödling und Leobersdorf blieben allerdings zwei Gruppen genetisch weitgehend voneinander getrennt – auch wenn sie sich kulturell und wohl auch gesellschaftlich stark ähnelten.
Die roten Punkte markieren Gräberfelder aus der Awarenzeit. Je größer der Punkt, desto mehr Gräber wurden an dieser Fundstätte entdeckt.
Bendeguz Tobias, BEV Creative Commons CC BY 4.0
Keine Parallelgesellschaft
Die Grabbeigaben sind oft quasi identisch, von Reitgarnituren bis zu Halsketten und Ohrringen. "Jeder Mann, der seinen Status beweisen wollte, hat bronzene Gürtelbeschläge gebraucht", sagt der Historiker. Diese Beschläge sehen im ganzen Karpatenbecken fast gleich aus, oft sind darauf Greifen dargestellt. Viele Beigaben waren übrigens bei Personen zu finden, die im Alter von 20 bis 30 Jahren starben – sie dürften für die Gemeinschaft besonders wichtig gewesen sein. Die ähnlichen Gräber weisen jedenfalls nicht auf eine Parallelgesellschaft hin, mit der man nicht kommuniziert, betont Pohl: "Wenn man mit den gleichen Statussymbolen herumgelaufen ist, vermuten wir, dass man sich nicht als Gruppen voneinander abheben wollte." Er geht davon aus, dass sich beide als Awaren betrachteten.
Dieser Greif zierte im 8. Jahrhundert den Gürtel eines Awaren.
ÖAW/Daniel Hinterramskogler
Gleichzeitig wies das Team nun erstmals nach, dass die damaligen "Leobersdorfer" aus 150 Gräbern vorwiegend eine typisch ostasiatische DNA-Kombination hatten, während die etwa 500 getesteten "Mödlinger" genetisch gemischter europäischer Herkunft waren. Der große genetische Unterschied war für die Fachleute eine Überraschung. "Man kann tatsächlich sagen: Mödling und Leobersdorf, die heiraten nicht untereinander", bringt es der Experte auf den Punkt. Verwandtschaften gab es nur vereinzelt. Damit habe man weltweit erstmals für solch große Gemeinschaften nachgewiesen, dass kulturelle, ethnische und genetische Integration nicht Hand in Hand gingen. Man kann die Beigaben also nicht an eine bestimmte Herkunft knüpfen. "Das wurde bereits vermutet, durch die Genetik können wir es aber beweisen."
Partnersuche beim Begräbnis
Das beantwortet zudem eine grundsätzliche Frage: Waren die ersten Awaren, die als Reiternomaden in die Region kamen, eine rein männliche Gruppe, oder zogen sie gemeinsam mit Frauen in den Westen? Die Genomstudien legen Letzteres nahe. Die Herkunft spielte offenbar für die Verpartnerung eine Rolle, die genetisch recht homogene Gemeinschaft wäre sonst nicht möglich gewesen. Trotzdem konnte man Inzucht vermeiden.
Auf das 8. Jahrhundert ist dieses Skelett eines achtjährigen Mädchens zu datieren, das in Mödling gefunden wurde.
ÖAW/Daniel Hinterramskogler
Wie sich bei den Awaren ostasiatischer Herkunft Paare über die weit entfernt lebenden Gemeinschaften hinweg fanden, dazu gibt es Hinweise in historischen Texten aus China über zentralasiatische Nomaden. Demnach kommen bei großen Festen viele Menschen aus der weiten Umgebung zusammen. "Auch Begräbnisse hochgestellter Persönlichkeiten waren eine Gelegenheit, zusammenzukommen – und für unverheiratete Männer und Frauen, auf Partnersuche zu gehen", sagt Pohl. Dann konnte über eine Heirat verhandelt werden. Diese Tradition dürfte mit nach Europa gekommen sein. "Man musste natürlich Boten mit der Einladung in die jeweiligen Siedlungen schicken. Offensichtlich ging dieser Bote dann nur nach Leobersdorf und nicht nach Mödling – weil das immer schon so war."
Fünf Meter Stammbaum
Besonders faszinierend findet der Archäologe Bendeguz Tobias, dass durch die DNA-Analysen familiäre Beziehungen zwischen Personen deutlich werden, die auf Grundlage der Artefakte unsichtbar geblieben wären. "Die Genetik enthüllt die Beziehungen der Individuen zueinander", sagt der Wissenschafter und Erstautor neben der Anthropologin Doris Pany-Kucera vom Naturhistorischen Museum Wien und der Archäogenetikerin Ke Wang vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. "Wir sehen: Das war der Partner, die Partnerin, das waren die Kinder." Dafür fertigte das Team riesige Stammbäume über sechs Generationen an. Auf Papier ausgedruckt war das Beziehungsgeflecht fünf Meter breit und bewahrte die Forscherinnen und Forscher davor, den Überblick vor lauter Scrollen am Bildschirm zu verlieren.
Der ausgedruckte Stammbaum der Toten von Mödling half den Fachleuten, die Familienverhältnisse zu begreifen.
Walter Pohl
Dass es sich um eine friedliche Episode der Geschichte handelte, zeigen die Skelette selbst. An ihnen finden sich keine Spuren von Kämpfen und generell kaum Mangelerscheinungen, erklärt Pany-Kucera. Dies legt zudem nahe, dass es sich um eine gut mit Nahrung versorgte Bevölkerung handelte. In beiden Gräberfeldern stieß man auf wenige Waffenbeigaben. Es gab nicht weniger Männer als Frauen, was ebenfalls für eine Zeit weniger Kämpfe spricht, da sonst vor allem ausgerückte Männer fehlen würden. Das Team prüfte auch, ob es Indizien für brutale Gewalt gegen Frauen gab, konnte aber keine finden.
Die reichste Frau
Für eine relativ egalitäre Gesellschaft sprechen die wenigen Unterschiede zwischen den Grabbeigaben und die Tatsache, dass fast allen Toten etwas mitgegeben wurde. Prächtige Objekte aus Gold und anderen Edelmetallen wurden in der frühen Awarenzeit mit ins Grab gelegt und später kaum mehr. Ungewöhnlich war ein Mödlinger Frauengrab aus späterer Zeit mit reicher Ausstattung, zu der Metallschmuck zum Schließen von Mänteln gehörte. Diese Frau muss von hohem sozialem Status gewesen sein, sagt Pohl: "Sie war eine der reichsten weit und breit und wurde inmitten einer Gruppe von Männern mit ebenfalls prestigeträchtigen Beigaben bestattet."
Auf dieser Mödlinger Mantelschließe aus dem 8. Jahrhundert wurden Bogenschützen dargestellt.
Benedict Seidl, Landesmuseum NÖ
Kleinkinder wurden hingegen wenige bestattet. Jedenfalls ist unklar, ob man sie woanders beerdigte oder so dicht an der Erdoberfläche, dass die Gräber eher gestört wurden. Auch Siedlungsreste neben den Friedhöfen fand man bisher keine. Die Gräberfelder wurden vor einigen Jahrzehnten entdeckt: In Leobersdorf stieß man in den 1950er-Jahren auf dem Gelände eines Ziegelwerks auf das erste Grab, in Mödling in den 70er-Jahren beim Bau einer Wohnanlage. Im 8. Jahrhundert war diese Randzone des Awarenreichs relativ dicht besiedelt. Davon zeugt auch eines der größten Awaren-Gräberfelder mit mehr als 700 Bestattungen, das im elften Wiener Gemeindebezirk in der Csokorgasse gefunden wurde. Manche der Simmeringer Toten waren offenbar mit einer in Mödling bestatteten Gruppe verwandt.
In einem der Mödlinger Gräber befand sich diese Glasperlenkette.
Benedict Seidl
Mobile Frauen, keine Inzucht
Die Demografie der Gruppe ist besser bekannt als bei vielen anderen Friedhöfen dieser Zeit. Ein Mödlinger Mann hatte mit zehn Kindern aus drei Beziehungen und eine Frau mit neun Kindern aus zwei Beziehungen hatten die höchste nachgewiesene Kinderzahl. "Ganz neu ist, dass wir das Geschlecht der Kinder feststellen können", sagt Pany-Kucera. An kindlichen Skeletten gibt es abgesehen von DNA-Analysen keine Anhaltspunkte, um Buben und Mädchen zu unterscheiden. Interessanterweise waren in beiden Gräberfeldern mehr Burschen als Mädchen bestattet. Das spricht dafür, dass Letztere Partner in andere Dorfgemeinschaften suchten.
Diese goldene Zopfspange stammt aus einem Awarengrab des 7. Jahrhunderts und wurde in der Gemeinde Achau gefunden.
Jasmin Özyurt
Bereits in früheren Studien des Teams hat sich herausgestellt, dass die Awaren patrilokal lebten. Das heißt, Männer blieben normalerweise in den Gemeinschaften, aus denen schon ihre Vorfahren kamen. Frauen waren mobiler und verließen ihre Familien, um andernorts bei der Gemeinschaft ihres Partners zu leben. Das sieht man auch in Mödling und Leobersdorf: Kaum eine Mutter hat Vorfahren auf dem Friedhof. Der Unterschied zwischen den beiden Gruppen ist, woher die zugezogenen Frauen stammen.
Die Frauen in Leobersdorf kamen zum Teil aus dem ungarischen Zentralraum, aber kaum aus Mödling. Bei den Mödlinger Frauen lassen sich dagegen kaum weiträumige Verwandtschaften nachweisen, aber enge Beziehungen zur heutigen Fundstätte Wien-Csokorgasse. Dabei vermieden die Gemeinschaften erfolgreich Inzucht, wie das Forschungsteam feststellte. "Das Wissen der Leute über die Gemeinschaft muss enorm gewesen sein", sagt Tobias. Immerhin waren sie in der Lage, über sechs Generationen auszuschließen, dass entfernte Tanten und Cousinen in dieselbe Familie einheiraten. Um so Inzucht auszuschließen, müsse man mehrere Hundert Menschen kennen.
In Leobersdorf stießen die Fachleute auf die Riemenzunge einer vielteiligen Gürtelgarnitur aus dem 8. Jahrhundert. Auf der Vorderseite wurde eine Tierkampfszene dargestellt, um die Tiere leichter zu unterscheiden, wurden sie links verschieden eingefärbt.
Benedict Seidl, Landesmuseum NÖ
Das Ende einer Ära
Kein Problem war hingegen eine Verbindung mit Brüdern eines vermutlich verstorbenen Ehemanns, die sogenannte Leviratsehe. Sie kam in Mödling seltener vor als bei den in Ungarn untersuchten Awarendörfern, wurde aber nachgewiesen. Auffällig waren auch der Befund einer Frau, die ein Kind mit ihrem Stiefsohn hatte, sowie der eines Mannes, der mit einer Frau seines Großvaters Nachwuchs bekam.
Wie das Ende dieser Gemeinschaften um das Jahr 800 aussah, ist noch weitgehend unklar und soll im Projekt weiter erforscht werden. Die genetische Spur der Menschen ostasiatischer Abstammung verliert sich, die jüngsten Gräber bestehen vor allem aus Kindern und wenigen Erwachsenen. Über die Feldzüge Karls des Großen in diese Regionen wurde überliefert, dass seine Truppen am Wienerwald auf aufgegebene Verschanzungen stießen, in den Berichten steht nichts über Kämpfe. Womöglich wurden Erwachsene versklavt und mitgenommen oder sind geflohen, vermutet der Historiker Pohl, "und ein paar sehr alte und sehr junge Leute blieben zurück, die sich noch gegenseitig begraben konnten". Unter den Pferden der Franken breitete sich an der Raab eine Seuche aus, die auch die Awaren geschwächt haben müsste. Womöglich können moderne Analysen helfen, der Lösung dieses Rätsels näherzukommen.
(Julia Sica, 15.1.2025)
Mödling und Leobersdorf schlafen nicht miteinander: Was die Gräber der Awaren verraten
Mödling und Leobersdorf schlafen nicht miteinander: Was die Gräber der Awaren verraten
In Niederösterreich lebten vor 1300 Jahren Nachfahren der rätselhaften Reiterkrieger. Neue DNA-Analysen bringen verblüffende Erkenntnisse über ihre Partnerwahl ans Licht

Die Awaren waren ursprünglich ein Volk von Reiterkriegern aus der mongolischen Steppe. Im Wiener Becken und der pannonischen Tiefebene herrschten sie zur Zeit der Völkerwanderung für hunderte Jahre (hier die Darstellung eines Steppenkriegers aus der Nördlichen Wei-Dynastie Nordchinas).
Guillaume Jacquet
Seite an Seite leben passt – aber miteinander Kinder kriegen? Nein, danke. So sah man die Sache offenbar vor 1300 Jahren in Mödling und Leobersdorf. In den beiden niederösterreichischen Gemeinden unweit von Wien, zwischen denen etwa 25 Kilometer liegen, enthüllten Gräber der Awarenzeit Familienverhältnisse, die bislang völlig unbekannt waren. Die Analyse im Fachjournal Nature zeigt, dass dort zwei Gemeinschaften trotz ihrer sehr ähnlichen Kultur fast keine Familien miteinander gründeten. Ohne Gentests an den Skeletten hätte man dies nicht herausfinden können, sagt der leitend beteiligte Historiker Walter Pohl, der an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Universität Wien forscht.
Die Awaren sind eine der mysteriösesten Gruppen der Völkerwanderungszeit. Ursprünglich ein Reitervolk aus der mongolischen Steppe, dominierten sie zwischen den Jahren 560 und 800 weite Teile Zentral- und Osteuropas. Erkennen kann man das an den vielen Awarenfriedhöfen im heutigen Österreich und Ungarn. Die Knochen, Waffen und Schmuckstücke in ihren Gräbern erzählen die Geschichte dieser Gemeinschaft – aber mit großem Interpretationsspielraum. Selbst hat sie keine Schriften hinterlassen, man kennt sie aus Beschreibungen ihrer Nachbarn und Feinde.

Waren frühere Grabbeigaben teils aus Gold und Silber, bestattete man die Awaren später ohne Edelmetalle, aber etwa mit diesem Gürtelbeschlag.
ÖAW/Daniel Hinterramskogler
Krieg und Frieden im Wiener Becken
Als Awaren bezeichnet man dabei keine ethnisch homogene Gruppe, sondern die damals herrschende Elite. Im 6. Jahrhundert kamen sie ins Karpatenbecken und wurden durch Kriege und Plünderungen auf der Balkanhalbinsel bekannt. Zu ihren Erfolgen zählte die große Belagerung von Konstantinopel 626 für zehn Tage. "Das hat sonst niemand während der Völkerwanderungszeit geschafft, nicht einmal die Hunnen, die viel bekannter sind als die Awaren", betont Pohl im STANDARD-Gespräch. Die gut organisierte Belagerung habe "den Byzantinern einen solchen Schrecken eingejagt, dass noch heute in der orthodoxen Kirche der sogenannte Hymnos Akathistos gesungen wird". Geschrieben wurde er als Dank an die Gottesmutter "für die wunderbare Rettung der Stadt vor der Awarengefahr".
Religious Chants
Mit der Zeit gingen die Awaren vom Nomadenleben zu dörflichen Siedlungen über. In und um Wien recycelten sie teils die römischen Hinterlassenschaften und wurden kulturell homogener. Im Gegensatz zum Klischee der "wilden Awaren" steht, dass sie ab dem späteren 7. Jahrhundert über mehr als hundert Jahre "in einer der friedlichsten Zeiten in der gesamten Geschichte des Wiener Beckens lebten", sagt der Historiker. Bis Karl der Große mit den Feldzügen der Franken gegen sie triumphierte und das Ende ihrer Ära markierte.
Dank Geldern des Europäischen Forschungsrats (ERC) entstand das Projekt Histogenes, das Licht in die Lebenswelt der Awaren bringt. Dabei zeichnen Pohl und sein Team ein komplexes Bild. Zwar gab es Vermischungen zwischen Personen, deren Vorfahren aus Zentralasien nach Europa migrierten, und den hier ansässigen Menschen. In Mödling und Leobersdorf blieben allerdings zwei Gruppen genetisch weitgehend voneinander getrennt – auch wenn sie sich kulturell und wohl auch gesellschaftlich stark ähnelten.

Die roten Punkte markieren Gräberfelder aus der Awarenzeit. Je größer der Punkt, desto mehr Gräber wurden an dieser Fundstätte entdeckt.
Bendeguz Tobias, BEV Creative Commons CC BY 4.0
Keine Parallelgesellschaft
Die Grabbeigaben sind oft quasi identisch, von Reitgarnituren bis zu Halsketten und Ohrringen. "Jeder Mann, der seinen Status beweisen wollte, hat bronzene Gürtelbeschläge gebraucht", sagt der Historiker. Diese Beschläge sehen im ganzen Karpatenbecken fast gleich aus, oft sind darauf Greifen dargestellt. Viele Beigaben waren übrigens bei Personen zu finden, die im Alter von 20 bis 30 Jahren starben – sie dürften für die Gemeinschaft besonders wichtig gewesen sein. Die ähnlichen Gräber weisen jedenfalls nicht auf eine Parallelgesellschaft hin, mit der man nicht kommuniziert, betont Pohl: "Wenn man mit den gleichen Statussymbolen herumgelaufen ist, vermuten wir, dass man sich nicht als Gruppen voneinander abheben wollte." Er geht davon aus, dass sich beide als Awaren betrachteten.

Dieser Greif zierte im 8. Jahrhundert den Gürtel eines Awaren.
ÖAW/Daniel Hinterramskogler
Gleichzeitig wies das Team nun erstmals nach, dass die damaligen "Leobersdorfer" aus 150 Gräbern vorwiegend eine typisch ostasiatische DNA-Kombination hatten, während die etwa 500 getesteten "Mödlinger" genetisch gemischter europäischer Herkunft waren. Der große genetische Unterschied war für die Fachleute eine Überraschung. "Man kann tatsächlich sagen: Mödling und Leobersdorf, die heiraten nicht untereinander", bringt es der Experte auf den Punkt. Verwandtschaften gab es nur vereinzelt. Damit habe man weltweit erstmals für solch große Gemeinschaften nachgewiesen, dass kulturelle, ethnische und genetische Integration nicht Hand in Hand gingen. Man kann die Beigaben also nicht an eine bestimmte Herkunft knüpfen. "Das wurde bereits vermutet, durch die Genetik können wir es aber beweisen."
Partnersuche beim Begräbnis
Das beantwortet zudem eine grundsätzliche Frage: Waren die ersten Awaren, die als Reiternomaden in die Region kamen, eine rein männliche Gruppe, oder zogen sie gemeinsam mit Frauen in den Westen? Die Genomstudien legen Letzteres nahe. Die Herkunft spielte offenbar für die Verpartnerung eine Rolle, die genetisch recht homogene Gemeinschaft wäre sonst nicht möglich gewesen. Trotzdem konnte man Inzucht vermeiden.

Auf das 8. Jahrhundert ist dieses Skelett eines achtjährigen Mädchens zu datieren, das in Mödling gefunden wurde.
ÖAW/Daniel Hinterramskogler
Wie sich bei den Awaren ostasiatischer Herkunft Paare über die weit entfernt lebenden Gemeinschaften hinweg fanden, dazu gibt es Hinweise in historischen Texten aus China über zentralasiatische Nomaden. Demnach kommen bei großen Festen viele Menschen aus der weiten Umgebung zusammen. "Auch Begräbnisse hochgestellter Persönlichkeiten waren eine Gelegenheit, zusammenzukommen – und für unverheiratete Männer und Frauen, auf Partnersuche zu gehen", sagt Pohl. Dann konnte über eine Heirat verhandelt werden. Diese Tradition dürfte mit nach Europa gekommen sein. "Man musste natürlich Boten mit der Einladung in die jeweiligen Siedlungen schicken. Offensichtlich ging dieser Bote dann nur nach Leobersdorf und nicht nach Mödling – weil das immer schon so war."
Fünf Meter Stammbaum
Besonders faszinierend findet der Archäologe Bendeguz Tobias, dass durch die DNA-Analysen familiäre Beziehungen zwischen Personen deutlich werden, die auf Grundlage der Artefakte unsichtbar geblieben wären. "Die Genetik enthüllt die Beziehungen der Individuen zueinander", sagt der Wissenschafter und Erstautor neben der Anthropologin Doris Pany-Kucera vom Naturhistorischen Museum Wien und der Archäogenetikerin Ke Wang vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. "Wir sehen: Das war der Partner, die Partnerin, das waren die Kinder." Dafür fertigte das Team riesige Stammbäume über sechs Generationen an. Auf Papier ausgedruckt war das Beziehungsgeflecht fünf Meter breit und bewahrte die Forscherinnen und Forscher davor, den Überblick vor lauter Scrollen am Bildschirm zu verlieren.

Der ausgedruckte Stammbaum der Toten von Mödling half den Fachleuten, die Familienverhältnisse zu begreifen.
Walter Pohl
Dass es sich um eine friedliche Episode der Geschichte handelte, zeigen die Skelette selbst. An ihnen finden sich keine Spuren von Kämpfen und generell kaum Mangelerscheinungen, erklärt Pany-Kucera. Dies legt zudem nahe, dass es sich um eine gut mit Nahrung versorgte Bevölkerung handelte. In beiden Gräberfeldern stieß man auf wenige Waffenbeigaben. Es gab nicht weniger Männer als Frauen, was ebenfalls für eine Zeit weniger Kämpfe spricht, da sonst vor allem ausgerückte Männer fehlen würden. Das Team prüfte auch, ob es Indizien für brutale Gewalt gegen Frauen gab, konnte aber keine finden.
Die reichste Frau
Für eine relativ egalitäre Gesellschaft sprechen die wenigen Unterschiede zwischen den Grabbeigaben und die Tatsache, dass fast allen Toten etwas mitgegeben wurde. Prächtige Objekte aus Gold und anderen Edelmetallen wurden in der frühen Awarenzeit mit ins Grab gelegt und später kaum mehr. Ungewöhnlich war ein Mödlinger Frauengrab aus späterer Zeit mit reicher Ausstattung, zu der Metallschmuck zum Schließen von Mänteln gehörte. Diese Frau muss von hohem sozialem Status gewesen sein, sagt Pohl: "Sie war eine der reichsten weit und breit und wurde inmitten einer Gruppe von Männern mit ebenfalls prestigeträchtigen Beigaben bestattet."

Auf dieser Mödlinger Mantelschließe aus dem 8. Jahrhundert wurden Bogenschützen dargestellt.
Benedict Seidl, Landesmuseum NÖ
Kleinkinder wurden hingegen wenige bestattet. Jedenfalls ist unklar, ob man sie woanders beerdigte oder so dicht an der Erdoberfläche, dass die Gräber eher gestört wurden. Auch Siedlungsreste neben den Friedhöfen fand man bisher keine. Die Gräberfelder wurden vor einigen Jahrzehnten entdeckt: In Leobersdorf stieß man in den 1950er-Jahren auf dem Gelände eines Ziegelwerks auf das erste Grab, in Mödling in den 70er-Jahren beim Bau einer Wohnanlage. Im 8. Jahrhundert war diese Randzone des Awarenreichs relativ dicht besiedelt. Davon zeugt auch eines der größten Awaren-Gräberfelder mit mehr als 700 Bestattungen, das im elften Wiener Gemeindebezirk in der Csokorgasse gefunden wurde. Manche der Simmeringer Toten waren offenbar mit einer in Mödling bestatteten Gruppe verwandt.

In einem der Mödlinger Gräber befand sich diese Glasperlenkette.
Benedict Seidl
Mobile Frauen, keine Inzucht
Die Demografie der Gruppe ist besser bekannt als bei vielen anderen Friedhöfen dieser Zeit. Ein Mödlinger Mann hatte mit zehn Kindern aus drei Beziehungen und eine Frau mit neun Kindern aus zwei Beziehungen hatten die höchste nachgewiesene Kinderzahl. "Ganz neu ist, dass wir das Geschlecht der Kinder feststellen können", sagt Pany-Kucera. An kindlichen Skeletten gibt es abgesehen von DNA-Analysen keine Anhaltspunkte, um Buben und Mädchen zu unterscheiden. Interessanterweise waren in beiden Gräberfeldern mehr Burschen als Mädchen bestattet. Das spricht dafür, dass Letztere Partner in andere Dorfgemeinschaften suchten.

Diese goldene Zopfspange stammt aus einem Awarengrab des 7. Jahrhunderts und wurde in der Gemeinde Achau gefunden.
Jasmin Özyurt
Bereits in früheren Studien des Teams hat sich herausgestellt, dass die Awaren patrilokal lebten. Das heißt, Männer blieben normalerweise in den Gemeinschaften, aus denen schon ihre Vorfahren kamen. Frauen waren mobiler und verließen ihre Familien, um andernorts bei der Gemeinschaft ihres Partners zu leben. Das sieht man auch in Mödling und Leobersdorf: Kaum eine Mutter hat Vorfahren auf dem Friedhof. Der Unterschied zwischen den beiden Gruppen ist, woher die zugezogenen Frauen stammen.
Die Frauen in Leobersdorf kamen zum Teil aus dem ungarischen Zentralraum, aber kaum aus Mödling. Bei den Mödlinger Frauen lassen sich dagegen kaum weiträumige Verwandtschaften nachweisen, aber enge Beziehungen zur heutigen Fundstätte Wien-Csokorgasse. Dabei vermieden die Gemeinschaften erfolgreich Inzucht, wie das Forschungsteam feststellte. "Das Wissen der Leute über die Gemeinschaft muss enorm gewesen sein", sagt Tobias. Immerhin waren sie in der Lage, über sechs Generationen auszuschließen, dass entfernte Tanten und Cousinen in dieselbe Familie einheiraten. Um so Inzucht auszuschließen, müsse man mehrere Hundert Menschen kennen.

In Leobersdorf stießen die Fachleute auf die Riemenzunge einer vielteiligen Gürtelgarnitur aus dem 8. Jahrhundert. Auf der Vorderseite wurde eine Tierkampfszene dargestellt, um die Tiere leichter zu unterscheiden, wurden sie links verschieden eingefärbt.
Benedict Seidl, Landesmuseum NÖ
Das Ende einer Ära
Kein Problem war hingegen eine Verbindung mit Brüdern eines vermutlich verstorbenen Ehemanns, die sogenannte Leviratsehe. Sie kam in Mödling seltener vor als bei den in Ungarn untersuchten Awarendörfern, wurde aber nachgewiesen. Auffällig waren auch der Befund einer Frau, die ein Kind mit ihrem Stiefsohn hatte, sowie der eines Mannes, der mit einer Frau seines Großvaters Nachwuchs bekam.
Wie das Ende dieser Gemeinschaften um das Jahr 800 aussah, ist noch weitgehend unklar und soll im Projekt weiter erforscht werden. Die genetische Spur der Menschen ostasiatischer Abstammung verliert sich, die jüngsten Gräber bestehen vor allem aus Kindern und wenigen Erwachsenen. Über die Feldzüge Karls des Großen in diese Regionen wurde überliefert, dass seine Truppen am Wienerwald auf aufgegebene Verschanzungen stießen, in den Berichten steht nichts über Kämpfe. Womöglich wurden Erwachsene versklavt und mitgenommen oder sind geflohen, vermutet der Historiker Pohl, "und ein paar sehr alte und sehr junge Leute blieben zurück, die sich noch gegenseitig begraben konnten". Unter den Pferden der Franken breitete sich an der Raab eine Seuche aus, die auch die Awaren geschwächt haben müsste. Womöglich können moderne Analysen helfen, der Lösung dieses Rätsels näherzukommen.
(Julia Sica, 15.1.2025)