Papyrussammlung der Österr. Nationalbibliothek gewährt Einblicke in das römische Soldatenleben

josef

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#1
Darlehen unter römischen Soldaten: Einer der ältesten lateinischen Verträge

Der lateinische Papyrus besticht durch eine stilisierte Schrift und einen exakt formulierten juristischen Sachverhalt
Als letztes der hellenistischen Königreiche wurde Ägypten im Jahre 30 v. Chr. dem Imperium Romanum angegliedert. Die letzte Herrscherin der Dynastie der Ptolemäer, Kleopatra VII., und ihr Verbündeter und Geliebter, der römische Machthaber Marcus Antonius, waren ihrem Widersacher Caius Octavianus, dem späteren Kaiser Augustus, in der Seeschlacht bei Actium 31 v. Chr. unterlegen und nahmen sich in aussichtsloser Situation das Leben. Am 1. August 30 v. Chr. marschierten die Truppen des Octavian in die ptolemäische Residenz Alexandria ein. Das Land am Nil wurde als römische Provinz eingerichtet. "Aegypto capta" (Ägypten erobert) verkündeten die Münzen des Siegers.

Wegen der reichen Getreideproduktion, die bald auch die Versorgung der Stadt Rom sicherstellte, galt der neuen Provinz Aegyptus die besondere Aufmerksamkeit des Kaisers. Römische Truppen wurden im Lande stationiert; Alexandria, die Metropole am Mittelmeer, wurde der Sitz des römischen Statthalters, im Vorort Nikopolis lag das Hauptquartier der römischen Garnison. Hier waren in der Zeit des Augustus eine Legion und drei Infanterieeinheiten (cohortes), vielleicht auch eine Reitereinheit (ala) der Hilfstruppen stationiert. Spätestens ab 23 n. Chr. waren sogar alle beide in Ägypten stehenden Legionen samt Hilfstruppen in Nikopolis zusammengezogen, insgesamt wohl an die 15.000 Mann. Aus diesem Milieu der bei Alexandria stationierten römischen Soldaten stammt die in lateinischer Sprache verfasste Urkunde, ein Schuldschein für ein Gelddarlehen.

Eine der ältesten, exakt datierten Vertragsurkunden in lateinischer Sprache
Wie bei juristischen Dokumenten erforderlich, sind der Errichtungsort (Alexandria) und das genaue Datum nach dem römischen Kalender und der Konsulsdatierung angegeben. Umgerechnet entspricht das Datum dem 25. August 27 n. Chr. Damit ist dieser Papyrus eine der ältesten exakt datierten Vertragsurkunden in lateinischer Sprache, die im Original erhalten sind. Nach dem lateinischen Text folgt in den beiden letzten Zeilen die griechische Erklärung des Darlehensnehmers, der den Empfang des Geldes bestätigt. Dabei wird auch das Datum in Griechisch wiederholt, diesmal jedoch nach Regierungsjahren des Kaisers und ägyptischem Kalender.

Früh-kaiserzeitliche Urkundenschrift und interpunctio
Das vollständig erhaltene, nur geringfügig beschädigte Dokument besticht gleichermaßen durch die ästhetisch anspruchsvolle, stilisierte Schrift sowie durch den knapp und exakt formulierten juristischen Sachverhalt. Paläographisch bietet der Papyrus ein wichtiges Beispiel für eine früh-kaiserzeitliche Urkundenschrift und die damals übliche interpunctio, die Trennung der Wörter durch einen Punkt auf der Mittellinie der Zeile. Der Text lautet in Übersetzung:

"Lucius Caecilius Secundus, Reiter der ala des Paullinus, turma des Dicacius, dem Caius Pompeius, Soldaten der cohors A...[.] des Habetius, centuria des Betitius, einen Gruß! Ich erkläre, dass ich Dir zweihundert kaiserliche und ptolemäische Drachmen schulde, welche ich Dir beim nächsten Sold einschließlich der Zinsen von 3 Assen pro 100 Drachmen für jeden Monat ohne einen Widerspruch zurückzahlen werde, zusätzlich zu den anderen 400 kaiserlichen und ptolemäischen Drachmen gegen Pfand eines versilberten Helmes und eines versilberten Abzeichens und einer silbernen Dolchscheide mit Elfenbeineinlage. Abgeschlossen in Alexandria bei Ägypten, am 8. Tage vor den Kalenden des Septembers unter den Konsuln Caius Sallustius Crispus und Lucius Lentulus Scipio. [Ich, N.N.] habe für sie geschrieben, weil sie die Schrift [zu kennen verneinen]."

(2. Hand): "Ich, Lukios Kaikilios Sekondos, Reiter, der oben Genannte, habe (die Summe) erhalten, wie geschrieben steht. Im 13. Jahr des Kaisers Tiberius Augustus, am 2. Schalttage."


Foto: Österreichische Nationalbibliothek
Ein Darlehen unter römischen Soldaten (Papyrus, Alexandria, 25. August 27 n. Chr.).

Drachmen und Sesterzen
Das Kreditgeschäft ist vollkommen klar dargelegt: Der Kavallerist Lucius Caecilius Secundus borgt sich von dem Infanteristen Caius Pompeius 200 Drachmen und verspricht, sie bei der nächsten Soldauszahlung samt den angelaufenen Zinsen zurückzuzahlen. Diese Summe ist die Aufstockung eines bereits früher erhaltenen Darlehens von 400 Drachmen, das Secundus gegen Pfand aufgenommen hatte. Die geliehene Summe von insgesamt 600 Drachmen ist nicht unbedeutend. Am Beginn der Kaiserzeit hat man die alexandrinische Drachme im Umrechnungskurs dem römischen Sesterz gleichgesetzt. Vermutlich waren zum Zeitpunkt des Darlehens immer noch die alten ptolemäischen Münzen im Umlauf; darauf dürfte die Bezeichnung "kaiserliche und ptolemäische Drachmen" anspielen. Um 27 n. Chr. betrug der Jahressold eines Reiters bei den Hilfstruppen 1.050 Sesterzen. Lucius Caecilius Secundus borgte sich also eine Summe, die fast 60 Prozent seines Jahresgehaltes entsprach. Hingegen erhielt Caius Pompeius als Infanterist der Hilfstruppen nur 750 Sesterzen Jahressold, deutlich weniger als sein Kamerad. Dennoch war er in der Lage, 600 Sesterzen zu verleihen.

Prunkwaffen als Pfand
Für die 200 Drachmen Aufstockung verrechnet Pompeius Zinsen: sechs Prozent oder, bei anderer Deutung der Währungsangaben, neun Prozent, was niedriger als der erlaubte Maximalzins von zwölf Prozent ist. Vermutlich galt derselbe Zinssatz auch schon für das ältere Darlehen von 400 Drachmen, für die Secundus seine versilberten Abzeichen, einen versilberten Helm und eine silberne Dolchscheide mit Elfenbeineinlagen als Pfand versetzt hatte. Diese Objekte gehörten gewiss nicht zur üblichen Standardausrüstung, sondern waren Prunkwaffen, die allenfalls für Paradezwecke getragen wurden. Aus der frühen Kaiserzeit sind solche Prunkwaffen an verschiedenen Fundplätzen im Römischen Reich archäologisch nachweisbar. Bei der etwas rätselhaften insigne, dem dritten Pfandobjekt, dürfte es sich um ein versilbertes Kennzeichen der Waffen oder ein Ehrenabzeichen in der Art von Tapferkeitsmedaillen (phalerae) handeln, wie sie sowohl aus Darstellungen als auch durch Fundobjekte gut bekannt sind.

Ein Stück römische Militärgeschichte
Neben rechts- und wirtschaftshistorischen, paläografischen und sprachlichen Aspekten bietet der Papyrus auch interessante Details für die römische Militärgeschichte. Die beiden Soldaten tragen lateinische Namen, doch sie dienen in Einheiten, die den Hilfstruppen (auxilia) angehören. Dort leisten Einwohner des Reiches, die noch kein römisches Bürgerrecht haben, ihren Militärdienst. Erst nach etwa 25 Jahren erhalten die Auxiliarsoldaten bei ihrer ehrenvollen Entlassung das Bürgerrecht verliehen. Trotz ihrer lateinischen Namen sind die beiden Vertragspartner demnach noch keine römischen Bürger. Doch die Rekruten erhielten oft schon beim Eintritt in die Armee neue, lateinische Namen, wie ein gleichfalls auf Papyrus erhaltener Brief eines jungen Mannes, der im 2. Jh. n. Chr. zur Flotte ging, deutlich macht: Am Beginn schreibt der aus Ägypten stammende Rekrut: "Apion an Epimachos, seinen Herrn Vater, herzliche Grüße …". Aber das Postskriptum am Ende desselben Briefes informiert den Vater: "Mein Name ist jetzt Antonius Maximus!" (BGU II 423).

Militärdienst in Ägypten mit Vor- und Nachteilen
Der Darlehensnehmer, Caecilius Secundus, gibt die Erklärung, dass er die Summe erhalten hat, am Ende der Urkunde in Griechisch ab. Vermutlich war dies seine Muttersprache, was wiederum darauf hindeutet, dass Secundus einer der vielen in Ägypten selbst rekrutierten Soldaten war. Das Phänomen der lokalen Rekrutierung trifft man seit etwa der Mitte des 1. Jh. n. Chr. in Ägypten sehr häufig; unser Darlehensvertrag ist jedoch ein recht frühes Beispiel dafür. Aus vielen anderen, zumeist aber späteren Papyri (2. Jh. n. Chr.) weiß man, dass junge Männer aus den griechisch-sprachigen Familien Ägyptens freiwillig in die römische Armee eintraten, um ein gesichertes Einkommen, soziales Prestige, Karrieremöglichkeiten und schließlich das Bürgerrecht zu erwerben. Unsere Urkunde zeigt, dass dieser Trend schon unter den ersten Kaisern begonnen hatte. Die Armee bot gute Aufstiegschancen, aber die Stationierung in der pulsierenden Großstadt Alexandria barg vielleicht auch die Gefahr, den hart verdienten Sold allzu rasch wieder loszuwerden.
(Bernhard Palme, 2.4.2019)

Bernhard Palme ist Direktor der Papyrussammlung und des Papyrusmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek und Professor für Alte Geschichte und Papyrologie an der Universität Wien.

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#2
Ein Papyrusfragment gewährt Einblicke in die antike Unterhaltungsindustrie:
Ein antikes Zirkusprogramm
Menschen, Tiere, Sensationen


Der Dichter Juvenal (ca. 60-130 n. Chr.) spottete, das römische Volk sei nur für panem et circenses (kostenlose Brotversorgung und Zirkusspiele) zu begeistern (Satiren 10,81), und der griechische Redner Dion von Prusa (ca. 60-120 n. Chr.) warf den Alexandrinerinnen und Alexandrinern eine ähnliche Einstellung vor (Rede an die Alexandriner 31). In der Kaiserzeit erfreuten sich Gladiatorenspiele und Tierkämpfe, Wagenrennen und Naumachien ("Seeschlachten" auf gefluteten Anlagen) in den Städten des Römischen Reiches bei allen Schichten der Bevölkerung großer Beliebtheit. Von Nordafrika bis in die Provinzen an Rhein und Donau bauten sogar Kleinstädte und Militärgarnisonen ein Amphitheater für die Kämpfe der Gladiatoren auf Leben und Tod. Größere Städte errichteten zudem einen kostspieligen circus, eine Bahn von etwa 500 Metern Länge für die Pferde- und Wagenrennen, eingefasst von Tribünen für die Zuschauer und Boxen für den Start.

In der Mittellinie sorgte eine spina, eine massive Trennmauer entlang der Längsachse, dafür, dass die Rennen über mehrere Runden in der vorgesehenen Bahn liefen. Zugleich stellten die beiden Nadelöhr-Kurven an den Enden der spina höchste Anforderungen an Wagenlenker und Gespann, denn vor allem an diesen 180-Grad-Wendepunkten bot sich Gelegenheit, einem Konkurrenten den Weg abzuschneiden oder durch waghalsige Überholmanöver zu punkten. Karambolagen und Unfälle – nicht selten mit letalem Ausgang – waren an der Tagesordnung und sorgten für knisternde Spannung. Hollywood hat den Schauwert von Gladiatorenkämpfen und Wagenrennen rasch erkannt. Filmklassiker wie Ben Hur (1959) oder Gladiator (2000) versuchen, die Atmosphäre solcher "Spiele" einzufangen, prägen dabei aber auch unsere eigene Vorstellung von deren Ablauf – freilich nicht immer nahe an den antiken Überlieferungen.


Mosaik aus Lyon
Foto: Lugdunum – musée et théâtres romains

Können wir ein authentischeres Bild dieser publikumswirksamen Veranstaltungen rekonstruieren? Die Zirkusspiele werden von vielen antiken Autoren erwähnt und Darstellungen auf Mosaiken, Wandmalereien oder Graffiti zeigen, welch wichtigen Platz diese Spektakel im Leben der großstädtischen Bevölkerung einnahmen. Wir sehen die kleinen und extrem wendigen Wagen, die wesentlich leichter waren als alle Rekonstruktionen in den modernen Filmen.

Neben Zweigespannen (bigae) gab es als Königsdisziplin die Viergespanne (quadrigae). Es braucht nicht viel Fantasie um sich vorzustellen, wie gefährlich diese schnellen Gefährte für den Wagenlenker (auriga) waren, zumal die Zügel nicht nur um die Unterarme, sondern um den Torso gebunden sein mussten, wollte man die vier Rennpferde einigermaßen lenken und zügeln. Jeder Wagenlenker hatte deshalb ein kleines, scharfes Messer bei sich, um die Zügel bei einem Unfall durchschneiden zu können, damit die rasenden Pferde ihn nicht zu Tode schleiften. Die erfolgreichen Wagenlenker waren gefeierte Helden der Arena, ähnlich populär wie heute Formel-1-Piloten.

Nur wenige Zirkusprogramme erhalten
Da der Zirkus ein höchst sensibler politischer Raum war, wo die Stimmung der Zuschauer gewissermaßen "das Volk" repräsentierte, wollte man nichts dem Zufall überlassen, sondern plante die Spiele bin ins Detail. Trotz der häufigen Erwähnung von Zirkusspielen in der römischen und spätantiken Literatur bleiben manche Einzelheiten über ihren Ablauf im Dunkeln, denn die antiken Autoren setzten dieses Wissen als gegeben voraus und geben uns kaum Erläuterungen. Willkommene neue Informationen über den Ablauf der Spiele kamen jedoch in einigen Papyri ans Licht, die originale Zirkusprogramme überliefern. Bislang konnten nur sieben dieser kulturgeschichtlich so bedeutenden Texte identifiziert werden. Eines davon bewahrt die Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek auf.


Papyrusfragment mit einem antiken Zirkusprogramm, 6. Jh. n. Chr.
Foto: Österreichische Nationalbibliothek

Zusammengesetzt aus fünf kleinen Bruchstücken
Die Entdeckungsgeschichte dieses Zirkusprogramms ist an sich bemerkenswert. Zunächst war in den späten 1980er Jahren Hermann Harrauer, damals Direktor der Papyrussammlung, auf ein Fragment mit ungewöhnlich großer Schrift und seltenen Wörtern aufmerksam geworden. Über zehn Jahre später hat Federico Morelli bei einer systematischen Sichtung der unpublizierten Bestände ein zweites Fragment finden können und schließlich drei weitere Bruchstücke – tausende Inventarnummern entfernt – identifiziert.

So wurde unser Zirkusprogramm aus bislang fünf kleinen Bruchstücken zusammengesetzt, die erst durch ihre Zusammenfügung klar zu erkennen geben, was der außergewöhnliche Inhalt ist. Dennoch ist das Dokument noch nicht vollständig: Auf der Höhe von Zeile acht fehlt ein Stück Papyrus vom linken Rand, unten ist das fragile Blatt abgebrochen. Es ist durchaus möglich, dass weitere kleine Fragmente noch in den circa 50.000 unpublizierten Papyri des griechischen Bestandes versteckt sind, aber eine systematische Suche ist angesichts der enormen Stückzahl praktisch unmöglich.

Zum Zeitpunkt seiner Entdeckung war unser Zirkusprogramm, mittlerweile von Morelli meisterhaft ediert (P.Harrauer 56), erst das dritte Dokument seiner Art, das überhaupt bekannt wurde. Ein erstes, vollständiges Dokument dieses Typus war als P.Oxy. XXXIV 2707 publiziert worden; ein zweites, sehr fragmentarisches als P.Bingen 128. Erst vor wenigen Jahren hat man schließlich vier weitere Zirkusprogramme veröffentlicht, die jedoch recht fragmentarisch sind (P.Oxy. LXXIX 5215–5218). Die kleine Gruppe lädt ein zum Vergleich, doch zuerst soll hier das Zirkusprogramm der Papyrussammlung vorgestellt werden.

Stilisierte Kanzleischrift
Der Text ist in großen, deutlichen Buchstaben übersichtlich auf einem Blatt platziert, das auch in seinem heutigen, unvollständigen Zustand noch 7,8 Zentimeter breit und 19 Zentimeter hoch ist. Die paläographisch bemerkenswerte Schrift entspricht der stilisierten Kanzleischrift, die römische und spätrömische Büros für offizielle Schriftstücke verwendet haben. Anhand der Schrift kann das Dokument in das 6. Jh. n. Chr. datiert werden. Damit fügt es sich bestens in die beschriebene Gruppe von Zirkusprogrammen, die alle dem späten 5. oder dem 6. Jh. n. Chr. angehören. Aus welcher Stadt Mittelägyptens das Blatt stammt, lässt sich nicht feststellen.

Der Text, bei dem jeder Eintrag in einer neuen Zeile geschrieben ist, lautet:

† Zum Guten Glück!
Sieg
Prozession
Stelzenläufer
Mimus
Tänzer auf dünnen Seilen
Stelzengeher
[ - - Text verloren - - ]
Seiltänzer
[ - - Text stark beschädigt - - ]
– – – – – – – –

Zum guten Glück!
Am Beginn steht, wie bei vielen Texten der christlichen Spätantike, ein Kreuz. Danach folgt die alte – und eigentlich pagane – Anrufung der Göttin Tyche als Personifizierung des Guten Glücks: ἀγαθῇ τύχῃ. Tyche war wechselhaft wie das Glück, deshalb beschwor man die "Gute Tyche". Während Anrufungen der Tyche in früheren Jahrhunderten sehr häufig waren, begegnen sie ab dem 5. Jahrhundert nur noch in den genannten Zirkusprogrammen. Dass altgläubige und christliche Elemente hier unmittelbar neben einander stehen können, gibt zu erkennen, wie man bei "Tyche" im 6. Jahrhundert nicht mehr an die göttliche Glücksbringerin dachte, sondern die Anrufung eher auf die Gefahren der Spiele bezog, für die man Glück benötigte. Alle vier Programme, bei denen der Anfang erhalten ist, beginnen mit dieser Anrufung, die vielleicht in Sprechchören akklamiert wurde: Sie gehörte zu dem traditionellen Ritual, mit dem die Spiele eröffnet wurden.

Der zweite Eintrag lautet lakonisch "Sieg", νίκη. Damit wird zunächst der Sieg in den kommenden Wettkämpfen angesprochen, doch da die Sieghaftigkeit ein wichtiger Aspekt der kaiserlichen Amtsgewalt war, schwingt diese propagandistische Konnotation auch beim Sieg in der Arena mit: der Sieg eines Wagenlenkers wird – in einer logisch nicht völlig konzisen Projektion – zum Symbol für den allzeit siegreichen Kaiser. Vielleicht hat man die Sieghaftigkeit wieder durch laute Akklamationen gefeiert, wahrscheinlicher ist es jedoch, dass eine Statue der Göttin des Sieges, Nike (= Victoria), durch die Laufbahn getragen und dem Publikum präsentiert wurde, wie es schon der Dichter Ovid (43 v. Chr. – 17 n. Chr.) für die augusteische Epoche beschreibt (Amores 3,2,45).

Dritter Programmpunkt
Als dritter Programmpunkt kommt eine Prozession (πομπή), in welcher unschwer die in literarischen Quellen beschriebene pompa circensis zu erkennen ist. Bevor die Rennen beginnen, umrunden die teilnehmenden Wagen in einem feierlichen Umzug die Rennbahn. Wagenlenker und Pferde werden dem Publikum vorgeführt, zugleich wirkungsvoll die Spannung gesteigert. Wiederum zeigen die vier Programme mit erhaltenem Anfang diese drei Programmpunkte übereinstimmend (wenn auch in abweichender Reihenfolge) zur Eröffnung der Veranstaltung. Offenbar hat diese Zeremonie über Jahrhunderte nahezu unverändert die Spiele eingeleitet, wie aus dem Vergleich mit literarischen Erwähnungen sichtbar wird.

Bei dem einzigen vollständig erhaltenen Programm (P.Oxy. XXXIV 2707) folgen dann die Wagenrennen in sechs Durchgängen, zwischen denen andere Schaustellungen gewissermaßen als Pausenfüller geboten werden. Diese hatten offenbar die Aufgabe, das Publikum zu unterhalten, bis die Rennbahn gesäubert und für den nächsten Durchgang vorbereitet war. Unser Programm aus der Papyrussammlung verzeichnet sieben solche Programmpunkte, jedoch (noch) kein Renndurchgang. Ähnlich ist es bei den fragmentarischen Programmen P.Oxy. LXXIX 5215, 5217 und 5218. Für diese Auffälligkeit gibt es drei mögliche Erklärungen: Zum einen könnten die Rennen noch in den verlorenen unteren Teilen dieser Papyrusblätter gekommen sein. Das würde bedeuten, dass zumindest unser Programm ein außergewöhnlich umfangreiches Rahmenprogramm vor den Wagenrennen geboten hätte. Zum anderen wäre es denkbar, dass diese Veranstaltungen eben nur verschiedene artistische Vorführungen boten und gar kein Rennen folgte. Dagegen ließe sich aber einwenden, dass die Eröffnungszeremonie mit einer Präsentation der Victoria und der pompa circensis nur Sinn ergab, wenn danach ein Wettrennen stattfand. Drittens wäre es möglich, dass die Programme ohne Angabe der Rennen nur die bei jeder Veranstaltung unterschiedlich gestalteten Einlagen des Rahmenprogramms festhielten, nicht aber die als selbstverständlich erachteten Rennläufe.

Spannendes Rahmenprogramm
Die Darbietungen des Rahmenprogramms sind freilich auch für sich genommen bemerkenswert: Den Auftakt gestaltet ein kalopaiktes (καλοπαίκτης), ein äußerst selten in den griechischen Quellen genannter Schausteller, den Morelli nach penibler Recherche als "Stelzenläufer" identifizieren konnte. Es folgt der Programmpunkt "Mimus" (μῖμος), was im Griechischen sowohl einen komödiantischen Schauspieler als auch ein parodistisches Stück bezeichnen konnte. Es wird also nicht deutlich, ob das Programm "einen Sketch" (vielleicht mit mehreren Schauspielern) oder einen einzelnen Mimen (Komödianten) ankündigte. In jedem Fall ist das dramaturgische Konzept bemerkenswert, das nach spannenden, akrobatischen Nummern durch eine kabarettistische Einlage vergnügliche Abwechslung und Entspannung bot.

Im Grunde folgen heutige Zirkusprogramme mit dem berühmten Zirkusclown noch derselben Linie. Nach dem Mimus tritt ein Seiltänzer (νευροβάτης) auf, wobei das griechische Wort für "Seil" zu erkennen gibt, dass es um sehr dünne Schnüre geht, die vielleicht ab einer gewissen Distanz kaum noch sichtbar waren und somit zusätzlich für Nervenkitzel sorgten. Der nächste Programmpunkt ist wiederum ein Stelzengeher, doch diesmal wird ein Begriff verwendet, der geringfügige von dem in Zeile vier abweicht. Es bleibt für uns unklar, welcher genaue Sinn sich hinter dieser Differenzierung verbirgt. Eine ähnliche Variation bietet auch der nächste (und letzte erhaltene) Eintrag, der einen weiteren Seiltänzer ankündigt, aber gleichfalls einen anderen Terminus (σχοινοβάτης) gebraucht als für den Seiltänzer in Zeile sechs. Diesmal steht für "Seil" ein Begriff, der an ein dickes Seil denken lässt. Vermutlich unterschied sich also die Darbietung dieses Akrobaten im Stil von jener des ersten Seiltänzers. Insgesamt kommen demnach ganz unterschiedliche Artisten zum Einsatz, um die Wartezeit zwischen den Wagenrennen kurzweilig zu gestalten. Das Repertoire scheint generell abwechslungsreich gewesen zu sein, denn in anderen Zirkusprogrammen treffen wir noch auf Athleten, vokalistische Aufführungen und eine venatio (einen Tierkampf) mit Hunden und Gazellen.

Noch einige Rätsel zu lösen
Unser Zirkusprogramm hat auch im Verbund mit den anderen Dokumenten dieses Genres noch nicht all seine Geheimnisse preisgegeben. So ist beispielsweise nicht einwandfrei zu verstehen, was genau der Zweck dieser Programme war. Einerseits weist die große Kanzleischrift auf einen öffentlichen, vielleicht offiziellen Kontext hin. Keines der Papyrusblätter weist jedoch Löcher auf, die auf eine Befestigung an einer Wand oder Tafel deuten würden. Plausibel erscheint, dass solche Programme vor den Spielen an das Publikum verteilt wurden, um herumgereicht zu werden. Jene beiden Exemplare (P.Oxy. XXXIV 2702 und LXXIX 5215), deren unterer Rand erhalten ist, tragen eine von anderer Hand geschriebene Grußformel (διευτύχει), die nach antiker Sitte auch als Unterschrift gedient haben kann.

Es wäre möglich, dass dies die Gegenzeichnung eines städtischen Amtsträgers ist, der für die Organisation der Spiele verantwortlich war und das jeweilige Programm durch seine Unterschrift approbiert hat. Ebenso gut wäre es denkbar, dass diese Programme wie Einladungen mit persönlicher Unterschrift versendet wurden, um Freunde zum Zirkus einzuladen. Zirkusspiele waren – auch im spätantiken Ägypten – ein wichtiger Teil des öffentlichen und sozialen Lebens, zugleich eine staatlich finanzierte und organisierte Freizeitgestaltung. Für die jungen Männer bot die ausgelassene Atmosphäre der Spiele zudem reichlich Gelegenheit, Kontakte mit Mädchen zu knüpfen – wie Ovid humorvoll in seiner Ars amatoria 1,133–170 beschreibt.
(Bernhard Palme, 27.6.2020)

Bernhard Palme ist Direktor der Papyrussammlung und des Papyrusmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek sowie Professor für Alte Geschichte und Papyrologie an der Universität Wien.

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