Reportage über die Wiener "Urban-Explorer" Szene

josef

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#1
URBAN EXPLORING
Über den Dächern: Urban Explorer auf der Jagd nach einem neuen Blick auf Wien
Geht Wien schlafen, brechen Urban Explorer zu Entdeckungsreisen auf – und durchforsten ihre Heimat nach beeindruckenden Szenerien
Reportage

Ein letzter Blick über die Schulter, ein zustimmendes Kopfnicken – dann geht es los. Einer nach dem anderen schlüpfen wir leisen Schrittes durch einen schmalen Spalt in der Absperrung. Arbeiten uns vor bis zum nahe stehenden Baustellengerüst, vorbei an Materialbergen und einer verbarrikadierten Wachhütte, aus der man den gedämpften Klang eines Popsongs im Radio ausmachen kann.


Urban Explorer sind mit der Kamera auch in Wien auf der Suche nach neuen Perspektiven auf die Stadt.
Foto: Rafael B.

Noch einmal durchatmen, dann erklimmen wir das Baugerüst. Dabei lässt schon das Hinaufschauen an der Fassade des Sakralbaus den Puls in die Höhe schnellen; die Außenwelt auf das leise Pfeifen des kalten Windes zusammenschrumpfen. Jetzt muss jeder Handgriff sitzen, jede Bewegung durchdacht sein, um nicht meterweit in die Tiefe zu stürzen. Das denke ich mir zumindest. "Es gibt immer einen Weg", sagt Rafael scherzhaft, während wir uns durch das Metallgestänge manövrieren. Ich langsam und vorsichtig, er sichtlich routiniert.

Für ihn handelt es sich um den wahrscheinlich fünfzigsten Besuch der Kirche im neunten Wiener Gemeindebezirk. Was bei vielen für Herzrasen sorgt, zählt für ihn mittlerweile also zum Alltag. Die Baustelle kennt er wie seine Westentasche. Er weiß, wohin er treten kann, wo Gefahren lauern und welche der vielen Leitern möglicherweise für Lärm sorgen.

Weltweit vernetzt ...
Rafael ist einer der abertausenden Urban Explorer weltweit, einer international vernetzten Szene an entdeckungsfreudigen Menschen, die in nächtlichen Ausflügen Hausdächer und Kräne erklimmen, in U-Bahn-Schächte hinabsteigen – und ihre Erlebnisse fotografisch festhalten. Alles, um einen neuen Blickwinkel auf ihre Heimat oder besuchte Städte zu ergattern. Genau das ist es auch, was Rafael seit mittlerweile sechs Jahren antreibt: scheinbar unzugängliche Orte erlebbar zu machen und sie eindrucksvoll mit der Welt zu teilen, "weil es schade wäre, wenn man all das nie zu Augen bekommt".


Die Wiener Votivkirche bei Nacht.
Foto: Rafael B.

Ähnliches erzählt René. Für ihn bringe der ständige Wandel von Großstädten "immer neue fotografische Perspektiven, aber vor allem Abenteuer mit sich". Durch Urban Exploring entdecke man bisher versteckt geglaubte Möglichkeiten zur Erkundung. "Das Ganze gibt einem ein gewisses Freiheitsgefühl. Man steht auf einem Dach oder in einem Tunnel, während über oder unter einem das normale Leben weitergeht", sagt er. "Es klingt kitschig, aber man lebt den Moment."

An der Spitze des Kirchturms angekommen, verstehe ich, was er meint. Und während sich mein Herzschlag zunehmend beruhigt, weicht die Aufregung einem gewissen Stolz, es bis nach oben geschafft zu haben – und ein Wien-Panorama genießen zu dürfen, das nicht viele zu Augen bekommen: der Stephansdom, die Karlskirche und Hofburg. Sogar das Riesenrad erkennt man am Horizont.


Ein Kran über der Peterskirche bietet einen Blick auf den Stephansdom.
Foto: Rafael B.

Aktiv ist die Urban-Explorer-Szene schon relativ lange. Neuen Aufwind erfuhr sie jedoch 2017, erzählt eine Urbexerin mit dem Pseudonym @v.for.vertigo. Unter den Titel Wien von oben – die Stadt auf einen Blick stellte das Wien-Museum am Karlsplatz damals zahlreiche Exponate zur Schau, die Österreichs Hauptstadt aus der Vogelperspektive zeigen. Parallel dazu gab es einen Fotowettbewerb auf Instagram – und eine Ausstellung der Werke von Urban Explorern, die gemeinsam mit den Fotografinnen und Fotografen kuratiert wurde. Manche von ihnen seien der Szene erhalten geblieben, andere seien gegangen – und manch einer habe schlicht das Genre der Fotografie gewechselt, sagt sie. "Ich glaube, die Liebe zur Kamera lässt einen nur schwer los, wenn sie einmal entbrannt ist."

... und nach außen verschlossen
Was Informationen über ihre Ausflüge angeht, halten sich Urban Explorer ansonsten bedeckt. Wissen teilt man nur mit Menschen, denen man vertraut, und innerhalb der Szene. In Wien ist diese relativ überschaubar. Ernsthaft würden das Hobby hier vielleicht 20 Personen betreiben, sagt Rafael. Heißt: Sie suchen aktiv nach neuen Gebäuden, gehen achtsam vor und behandeln Spots mit Respekt, damit sie nicht verlorengehen.


Auch in schwindelerregenden Höhen behalten Urbexer die Ruhe.
Foto: Rafael B.

Die Öffentlichkeit lassen sie an ihren Abenteuern über beeindruckende Fotografien teilhaben, mit denen sie auf Instagram teils zehntausende Menschen erreichen. Außerdem dient die Fotoplattform zur Vernetzung mit der Szene in anderen Ländern. "Urbex verbindet", sagt zum Beispiel René. Besucht man fremde Städte, könne man sich sicher sein, dass man eine Stadtführung erhält. Ähnlich meiner an diesem Abend.

Doch so schnell man ein Gebäude erklimmt, hat man wieder festen Boden unter den Füßen. "Es ist einfacher, als es aussieht, oder?", fragt mich Rafael, während wir ein letztes Mal den Bauch einziehen, um das Gelände durch den Bauzaun zu verlassen. "Mit der Zeit lernt man, worauf man achten muss", sagt er. Ein angeschaltetes Radio sei zwar gruselig, müsse aber nicht unbedingt bedeuten, dass ein Wachmann um die Ecke lauert.

Während ich auf meine Straßenbahn warte, werfe ich einen letzten Blick auf die Kirche, die nun still in der Dunkelheit verharrt. Unser Besuch scheint wie vergessen – und wir spurlos verschwunden.
(Mickey Manakas, 9.2.2022)
Über den Dächern: Urban Explorer auf der Jagd nach einem neuen Blick auf Wien
 
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