Eine russische MiG-31 mit einer Kinschal.
via REUTERS/Russian Defence Mini
Bei einem der größten Raketenangriffe auf die Ukraine hat Russland große Mengen gewöhnlicher Marschflugkörper wie die Kalibr oder Drohnen wie die Geran-2 eingesetzt, die russische Variante der iranischen Shahed 136. Die russischen Streitkräfte feuerten aber auch Hyperschallraketen in einer ungewöhnlich hohen Zahl ab. Laut Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums wurden aber sieben von acht gestarteten X-47M2 Kinschal im Flug abgefangen.
Ebenso wurde eine schiffsgestützte Hyperschallrakete 3M22 Zirkon von der ukrainischen Flugabwehr zerstört. Wie ist das möglich, wo doch gerade die Zirkon und die Kinschal als Superwaffen gelten? Keine der beiden Raketen sollte je von einem westlichen Abwehrsystem überhaupt erfasst werden können, so lautet zumindest die russische Propagandaerzählung.
Zirkon und Kinschal
Mit der Realität haben die Propaganda-Behauptungen wenig zu tun. Die Hyperschallraketen Zirkon und Kinschal ("Dolch") sind zwei der sechs von Wladimir Putin im März 2018 vorgestellten Superwaffen. Den meisten davon ist gemein, dass sie nicht funktionieren wie vorgesehen, die Entwicklung selbst von Pannen geplagt ist oder die Systeme nie über ein frühes Erprobungsstadium herausgekommen sind.
Der
fliegende Atomreaktor Burewestnik wäre dafür ein Beispiel. Außer Pannen, Abstürzen und einem massiven Strahlungsunfall im Jahr 2019 ist von der Superwaffe nichts zu sehen. Ebenso wie beim Nukleartorpedo Poseidon. Die technische Machbarkeit steht massiv im Zweifel, ebenso die tatsächliche Wirksamkeit einer solchen Waffe. Im russischen Staatsfernsehen klingt das natürlich anders: Der Supertorpedo werde die Britischen Inseln einfach im Meer versenken, heißt es dort.
Die russischen Hyperschallraketen sind zumindest einsatzbereit, auch wenn selbst Militäranalysten überrascht sind, wie schlecht die einst gefürchteten Waffen tatsächlich abschneiden. Nun tobt die Propagandaschlacht zwischen West und Ost spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine, und wechselseitig werden den Waffensystemen des Gegners teils vernichtende Zeugnisse ausgestellt. Aber selbst Experten aus China äußern mittlerweile Bedenken, ob Hyperschallraketen überhaupt irgendeinen Nutzen haben
Ein Pionier der Ukrainischen Notfalldienste bei der Bergung eines nicht explodierten Gefechtskopfs einer Kinschal.
via REUTERS/STATE EMERGENCY SERV
Das könnte vor allem daran liegen, dass es sich bei der russischen Kinschal nicht einmal um eine echte Hyperschallwaffe handelt. Das Konzept einer solchen Rakete sieht vor, dass sie von einem Bomber gestartet wird. Dort steigt sie in den Weltraum auf und gibt ein Re-Entry-Vehicle frei, das den Gefechtskopf enthält. Dabei kann es sich um einen Gleiter oder um eine weitere Rakete handeln. Diese Endstufe der Kinschal manövriert sich selbst mit einer Geschwindigkeit von Mach 10 ins Ziel und bringt dort den konventionellen 500-Kilo-Gefechtskopf zur Detonation. Im Anflug ans Ziel schlägt sie dabei, zumindest in der Theorie, Haken und wechselt die Richtung, was Abwehrversuche nutzlos machen soll.
Doch die russische Rakete kann offenbar nichts davon wirklich, weshalb sie auch von ukrainischen Patriot-Stellungen regelmäßig abgefangen wird. Tatsächlich dürfte es sich bei der vermeintlichen russischen Superwaffe um die luftgestartete Variante der ballistischen Kurzstreckenrakete Iskander handeln. Dabei handelt es sich um ein Design aus den 80er-Jahren ohne nennenswerte Steuerungsmöglichkeiten im Zielanflug.
"Sie sagten, die Patriot sei eine veraltete amerikanische Waffe, und die russischen Waffen seien die besten der Welt", sagte der ukrainische Luftwaffensprecher Juri Ihnat, als 2023 der erste erfolgreiche Abschuss einer Kinschal berichtet wurde. Und: Die Fähigkeiten der Kinschal seien maßlos übertrieben gewesen. Der erfolgreiche Abschuss sei ein "Schlag ins Gesicht für Russland".
Selbst bei der Reichweite haben die russischen Streitkräfte getrickst. Diese wurde von russischen Quellen mit 3000 Kilometern angegeben, was durchaus beeindruckend klingt. Jedoch wurde dabei die Reichweite des Bombers (Tu-22M3 oder MiG-31K), der die Waffe trägt, einfach addiert. Tatsächlich dürfte die Reichweite der Kinschal eher bei maximal 480 Kilometern liegen.
Keine echte Hyperschallwaffe
Dass es sich bei der Kinschal um keine echte Hyperschallwaffe handelt, ist im Westen also schon länger klar. Angesichts der Enttäuschung ist mittlerweile auch in China ein Debatte ausgebrochen, ob die Entwicklung derartiger Waffen überhaupt Vorteile bringt. Zuerst war Chinas Interesse groß, schließlich soll dessen Eigenentwicklung namens Dongfeng ebenfalls eine unaufhaltsame, superschnelle Rakete sein. "Es gibt immer mehr Beweise dafür, dass das, was die USA und die Ukraine in dieser Angelegenheit sagen, wahr ist", schrieb der chinesische Verteidigungsanalyst Yin Jie in der Militärzeitschrift
Ordnance Industry Science and Technology aus Shaanxi.
Und: Die Kinschal werde wohl keinen nennenswerten Einfluss auf den Ukrainekrieg haben. Mehr noch, die Kinschal sei ein "kurzfristiges und überstürztes Projekt" gewesen, das unter dem Druck des Westens um Jahre verfrüht gestartet werden musste.
Yin wies darauf hin, dass Russland den Abschuss von Kinschals durch seine Mig-31-Maschinen eingestellt hat und stattdessen Su-34-Kampfjets einsetzt, die sicher von außerhalb der Reichweite der ukrainischen Verteidigungsanlagen feuern. Der Analyst schrieb jedoch, dass sich die Su-34 als zu träge erwies, um die Kinschal mit optimaler Geschwindigkeit abzufeuern. Die Su-34 sei ohnehin schon langsamer als die Mig-31 und werde durch die 4,3 Tonnen schwere Kinschal zusätzlich belastet,
wie Business Insider berichtet. Außerdem sei das russische Satellitensystem Glonass einfach zu ungenau, um eine Kinschal präzise zu lenken.
Dabei gibt es bei Hyperschallwaffen, egal welcher Herkunft, noch ein ganz generelles Problem: die Naturgesetze. Der Luftwiderstand, der auf die Wiedereintrittsfahrzeuge wirkt, ist enorm, was deren Beweglichkeit stark einschränkt. Noch dazu entsteht beim Wiedereintritt eine enorme Hitze von
rund 2000 Grad Celsius an der Oberfläche der Waffe. Eine solche Hitzesignatur ist von Abwehrsystemen wiederum gut zu erkennen. Dazu kommt, dass Hyperschallwaffen nicht unbedingt schneller am Ziel ankommen als ballistische Raketen – eben weil sie die meiste Zeit in der bremsenden Atmosphäre verbringen.
Bei den russischen Angriffen vom 17. November blieben Teile einer Zirkon-Schiffsrakete auf dem Dach eines fünfstöckigen Wohnhauses in Kiew liegen.
AFP/SERGEI SUPINSKY
Ähnlich ist es bei der Zirkon. Diese Schiffsrakete bleibt in der Atmosphäre. Die Idee: Durch die Geschwindigkeit von Mach 8 bildet sich vor ihr während des Fluges eine Plasmawolke, die Radarwellen absorbiert. Das Problem bei diesem Ansatz: Dadurch werden auch die Sensoren der Zirkon selbst blockiert. Daher ist davon auszugehen, dass die Zirkon tatsächlich "nur" Mach 4,5 schnell ist, was außerhalb der Definition einer "Hyperschallrakete" liegt. Diese muss nämlich mindestens Mach 5 schnell sein. Alles darunter wird als Überschall bezeichnet. Zum Vergleich: Eine MIM-104A, die Abfangrakete des Patriot-Systems, erreicht Mach 3,5.
Moskau gibt Wissenschaftern die Schuld
In Moskau will man von all den Mängeln der eigenen Superwaffen nichts wissen. Vielmehr macht man die Entwickler der Kinschal für die Fehlschläge verantwortlich: Diese hätten die Geheimnisse der Superrakete verraten, so die Kurzfassung. So wurden die Physiker Alexander Schiplijuk, Anatoli Maslow und Waleri Sweginzew des Hochverrats angeklagt.
Am 3. September verurteilte ein Moskauer Gericht Schiplijuk, den ehemaligen Direktor des Instituts für theoretische und angewandte Mechanik (Itam) in Sibirien, zu 15 Jahren Haft in einem Hochsicherheitsgefängnis. In der Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit wurde er für schuldig befunden, auf einer wissenschaftlichen Konferenz in China im Jahr 2017 "geheime Informationen" weitergegeben zu haben. Schiplijuk behauptet, dass die von ihm präsentierten Daten bereits öffentlich zugänglich gewesen seien. Sein Kollege, der 78-jährige Maslow, ein Experte für Überschallflugphysik, argumentierte ähnlich. Er wurde im Mai zu einer Gefängnisstrafe von 14 Jahren verurteilt. Er soll "geheime Informationen" während Überseereisen verraten haben.
Alexander Kuranow, ein Ingenieur, der in der späten Sowjetära ein Programm für Hyperschallflugzeuge leitete, wurde im April nach mehr als zwei Jahren Untersuchungshaft wegen Hochverrats zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt,
wie France 24 berichtet. Seit 2018 wurden
laut der BBC insgesamt elf Spezialisten für Überschalltechnologie in Russland verhaftet.
Die unerbittliche Verfolgung von Wissenschaftern spiegle "das Verhalten eines zunehmend paranoiden und isolierten Regimes wider", beobachtete Stephen Hall, ein Russland-Kenner an der Universität Bath in Großbritannien. Das soll wohl das Durchsickern sensibler Informationen verhindern. Selbst wenn diese Informationen bedeuten, dass die Kinschal eigentlich nicht das ist, was der Kreml behauptet.
(Peter Zellinger, 20.11.2024)