Russland im "Romanow-Fieber"

josef

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Das Ende der Zarendynastie Romanow
300 Jahre lang hat die Zarendynastie Romanow in Russland regiert, bis ihr die Februarrevolution 1917 ein Ende setzte. Im Juli 1918, genau vor 100 Jahren, wurde der letzte Zar, Nikolaus II., ermordet. Mit Zerfall der Sowjetunion habe die Zarenfamilie wieder an Bedeutung gewonnen, sind sich Historiker im Gespräch mit ORF.at einig. Autor György Dalos ist überzeugt, dass die russische Regierung die nostalgische Stimmung seither nutze, um „ihre Macht zu zementieren“. Auch die Kirche trage zur Glorifizierung der Zarenfamilie bei.
Anforderungen der Zeit nicht gewachsen
Heute vor genau 100 Jahren ist es zur Ermordung der russischen Zarenfamilie Romanow in Sibirien gekommen. Der Mord an Nikolaus II. sowie seiner Ehefrau und den fünf Kindern folgte auf die Oktoberrevolution, bei der die Bolschewiken an die Macht kamen. Jahrzehntelang herrschte Stillschweigen rund um die Mordnacht. Doch mit dem Zerfall der Sowjetunion kam es letztlich nicht nur zur Rehabilitierung, sondern auch zu einer breiten Verehrung der Romanows in Russland.

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In der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 wurden die Romanows sowie deren Dienerschaft im sibirischen Jekaterinburg von Bolschewiken erschossen. Ihre Leichen wurden daraufhin durch Säure bis zur Unkenntlichkeit entstellt und im Wald vergraben. Über das von Wladimir Iljitsch Lenins Bolschewiken ausgeführte Massaker sollte bis zum Zerfall der Sowjetzeit Stillschweigen bewahrt werden.


picturedesk.com/Illustrated London News Ltd/Mary Evans
Nikolaus II. mit Ehefrau Alexandra Fjodorowna und den Kindern Maria, Tatjana, Olga und Anastasia sowie Alexei

Ein Ende in Etappen
Das Ende der 300 Jahre währenden Zarendynastie Romanow kam nicht über Nacht. Die industrielle Revolution sollte die Generalprobe des jungen Zaren, der bei Amtsantritt Mitte zwanzig war, sein. Auf Streiks und Unruhen antwortete er mit Gewalt. Den Modernisierungsbedarf des Landes übersah Nikolaus II., der gerne Gewänder aus dem 17. Jahrhundert trug. Nur widerwillig ordnete er 1905 die Einführung der Duma, der russischen Parlamentskammer, an und löste diese in den folgenden Jahren immer wieder auf.

Fatale Fehleinschätzung
Während die Romanows im Alexanderpalast umringt von Diamanten und einer 1.000-köpfigen Dienerschaft das Leben einer bürgerlichen Familie englischen Vorbilds zu führen versuchten, bahnte sich knapp zehn Jahre später der Erste Weltkrieg an. Nach der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers, Erzherzog Franz-Ferdinand, erklärte Österreich-Ungarn Serbien, das von Russland unterstützt wurde, den Krieg. Kurz darauf rief Deutschland gegen Russland den Krieg aus.

Im Zarenhaus hielt man sich für unantastbar. Die Unverbundenheit zum eigenen Volk wurde ignoriert, wie eine Korrespondenz zwischen der wenig beliebten deutschstämmigen Zarin Alexandra und ihrer britischen Großmutter Queen Victoria beweist. „Russland ist nicht England. Hier müssen wir nicht die Liebe der Menschen erwerben. Das russische Volk verehrt seine Zaren als göttliche Wesen, von denen alle Wohltaten und alles Glück stammen“, schrieb Alexandra, die wegen ihrer mangelnden Russischkenntnisse selbst mit Nikolaus nur auf Englisch korrespondierte.

„Symbol einer unhaltbaren Herrschaft“
Doch die Zarin sollte mit ihrer Einschätzung falsch liegen. Als Oberbefehlshaber über die russischen Truppen wurden Nikolaus II. militärische Niederlagen als persönliche angerechnet. „Er war ein Herrscher mit schwacher Hand, eine Puppe in der Hand seiner Kameraderie“, urteilt der Historiker und Russland-Experte György Dalos gegenüber ORF.at. Der Zar sei zwar ein „wohlerzogener Mann“ gewesen, doch gleichzeitig auch „Symbol einer unhaltbaren Herrschaft“.

Kerstin Susanne Jobst, Professorin am Institut für Osteuropageschichte der Universität Wien, erinnert etwa an eine Anekdote von Alexander III., der seinem Sohn Nikolaus riet, sich nicht zu „neumodischen“ Sachen wie der Demokratisierung hinreißen zu lassen. In den Umbruchzeiten habe Russland jemanden gebraucht, der die Zeichen der Zeit zu lesen wisse, so Jobst.


picturedesk.com/Imagno
Im Zuge der Februarrevolution 1917 gingen landesweit Tausende Menschen auf die Straße

Anfang 1917 standen Hungersnöte sowie Streiks an der Tagesordnung. Zugleich mussten Hunderttausende Soldaten im Krieg ihr Leben lassen. Die Romanows wurden entgegen ihrer positiven Selbstwahrnehmung für die Missstände verantwortlich gemacht. In St. Petersburg, damals Petrograd, brach die Februarrevolution aus, bei der Tausende Menschen gegen die Regierung auf die Straße gingen. Auch das Militär wandte sich vom vermeintlich unantastbaren Nikolaus II. ab. Die Antwort des Zaren war dieses Mal nicht Gewalt, sondern seine Abdankung. Sein Bruder Michail sollte ihm nachfolgen, doch dieser verzichtete auf den Thron. Russland wurde zur Republik.

Mordpläne statt Schauprozess
Eine bürgerliche Übergangsregierung führte fortan das Land, die Romanows wurden im Alexanderpalast inhaftiert. Der Bürgerkrieg setzte sich allerdings fort. Auf der einen Seite kämpften die „Weißen“ – also Liberale, gemäßigte Linke und Zarentreue –, auf der anderen Seite die „Roten“ – also die Bolschewiken unter Lenin. Den „Roten“ gelang der Sturz der provisorischen Regierung, und auch für die Zukunft des Zaren gab es Pläne. Anstatt dem über Tobolsk nach Jekaterinburg verbannten Nikolaus II. den Prozess zu machen, stand für die Bolschewiken schnell fest, dass die Romanows sterben mussten.

„Der Mord an Nikolaus II. wie auch seiner Familie war eine politisch wie auch militärisch unbegründete Tat“, sagt Dalos und verweist auf den Beginn einer bolschewistischen Regierung, die auf Lügen und Schweigen aufgebaut gewesen sei. Auch Nikolaus Katzer, Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Moskau, der die Handlung der Bolschewiki als symbolischen Bruch mit dem alten Regime interpretiert, verweist auf die widersprüchlichen Ereignisse jener Nacht. So hat es laut Katzer bereits am 17. Juli ein Telegramm aus Jekaterinburg gegeben, das die Ermordung des Zaren bestätigt. Mit dem merkwürdigen Zusatz: Der Rest der Familie wurde evakuiert. „Bereits mit diesem ersten Telegramm beginnt die Mystifizierung dieser Ermordung.“

Exhumierung der Zarenfamilie
Der Öffentlichkeit wurden die Details lange Zeit verschwiegen. Erst unter Präsident Boris Jelzin gab es 1991 offizielle Ausgrabungen, bei der Gebeine der Zarenfamilie gefunden wurden. Die russische Bevölkerung sei nach dem Zerfall der Sowjetunion „explosionsartig“ mit Wissen über die vorrevolutionäre Zeit wie auch mit den „Realitäten unter dem Sowjetregime“ konfrontiert worden, so Katzer zu ORF.at. 1998 kam es zur feierlichen Bestattung der Romanows. Zehn Jahre später setzte der russische Oberste Gerichtshof mit dem Urteil, dass die Romanows Opfer der kommunistischen Ära waren, einen Strich unter die blutige Regentschaft in Zeiten des Kommunismus.

Auch vonseiten der Kirche kam es zur Rehabilitierung der Romanows. Im Jahre 2000 sprach die russische-orthodoxe Kirche Nikolaus II. und seine gesamte Familie heilig. Der Zar sei nicht als Tyrann, sondern als Märtyrer gestorben. Dort, wo die Romanows damals starben, steht heute die „Kirche auf dem Blut“, die mit Ikonen der Zarenfamilie wie auch deren Dienerschaft geschmückt ist. Neben der russischen Trikolore weht dort auch die Flagge des verlorenen Zarenreichs. Die Kirche ist ein bedeutender Wallfahrtsort für Monarchisten.

Kirche verehrt Zarenfamilie
Dass die Monarchie die „zweifellos vollkommenste Form“ sei, einen Staat zu lenken, erklärte auch der orthodoxe Oberpriester Maxim Minjailo gegenüber der Nachrichtenagentur dpa. Der Zar Nikolaus II. sei wie Christus „verkannt, erniedrigt und ermordet“ worden. Zu den Gottesdiensten und Prozessionen anlässlich des Jahrestages werden in Jekaterinburg 100.000 Menschen erwartet.


Reuters/David Mdzinarishvili
Die „Kirche auf dem Blut“ in Jekaterinburg

Die russische Regierung versuche, wie auch die Kirche, die Zarenvergangenheit durch eine rosa Brille zu sehen, so Katzer. „Es wird versucht die Brüche, die es in der Geschichte Russlands gab, harmonisierend zu vereinheitlichen“, erklärt Russland-Expertin Jobst im Gespräch mit ORF.at. Die Historikerin findet zudem, dass die Rückbesinnung auf die Zarengeschichte einerseits ein Bindeglied zwischen Kirche und Staat darstelle und andererseits dazu diene, sich von Europa „als Ort der Sittenlosigkeit“ abzugrenzen.

Verklärung durch die Regierung?
Über die Kämpfe der Revolution wie auch den grausamen Bürgerkrieg werde bereitwillig hinweggesehen. Historiker Dalos geht noch einen Schritt weiter: Er ist überzeugt, dass die Rückbesinnung auf Tradition von der Regierung missbraucht wird. Man versuche so seine „Macht zu zementieren“, da durch den Zerfall der Sowjetunion der Zusammenhalt im Land geschwunden sei. „Man darf nicht vergessen, dass es auch damals, zu Zeiten des Zaren, kein Paradies war.“

Selbst Präsident Wladimir Putin, der ob seiner Machtfülle von manchen Russen oft mit den alten Zaren verglichen wird, nützt die kaiserliche Vergangenheit des Landes im tagespolitischen Geschäft. So auch bei der feierlichen Eröffnung der Brücke, zwischen der Schwarzmeerhalbinsel Krim und dem russischen Festland im Mai. Schon zur Zeit von Zar Nikolaus II. hätten die Menschen vom Bau der Brücke geträumt, sagte Putin vor Brückenarbeitern.

Links:
Katja Lehner, ORF.at
Publiziert am 16.07.2018
Zarenmord: Russland im Romanow-Fieber
 
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