Vor 100 Jahren sind in Europa neue Grenzen gezogen worden

josef

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Pariser Friedensverhandlungen

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Die Grenzzeichner von 1919
Vor 100 Jahren sind in Europa neue Grenzen gezogen worden. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde bei den Friedensverhandlungen in Paris quasi um jeden Zentimeter gerungen. Denn Gebietsgewinne auf einer Seite führten zu Verlusten auf einer anderen. Diplomaten aus der ganzen Welt feilschten. Aber am Ende waren es Kartografen, die Europa formten.
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Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte Kartografen stellten für die Pariser Sitzungen Karten zur Verfügung. Denn die Aufgabe war schwierig: Nach dem Krieg mit mehr als 17 Millionen Toten wollten alle eine Entschädigung für ihre Verluste. Offiziell lag den Diplomaten ein stabiles Europa am Herzen, ebenso wichtig waren allerdings auch nationale Interessen, die man durchsetzen wollte. Die Kartenzeichner mussten all das berücksichtigen. Am Ende wurden Teile der arabischen Welt und Asiens quasi neu gestaltet – vor allem aber traf es Europa.

Das Habsburgerreich Österreich-Ungarn, das Deutsche Kaiserreich und das russische Zarenreich kollabierten. Als Folge entstanden elf neue Staaten, in Mitteleuropa etwa die Tschechoslowakei und Ungarn, im Osten wurden Estland, Lettland und Litauen unabhängig. Und im Süden war ein neuer jugoslawischer Vielvölkerstaat geboren. Besiegelt wurde die Neuordnung durch die fünf Verträge, die zwischen Juni 1919 und August 1920 in den Pariser Vororten Versailles, Saint-Germain, Neuilly-sur-Seine, Trianon und Sevres unterzeichnet wurden.

Wer mehr wollte, musste argumentieren
Den Grundstein für die Verhandlungen legten die Siegermächte USA, Großbritannien, Italien und Frankreich samt ihren knapp zwei Dutzend Verbündeten. Ab Jänner 1919 formulierten sie in einer „interalliierten Vorkonferenz“ die Friedensbedingungen, die ab Mai an die „Verlierer“ und „Schuldigen“ des Ersten Weltkriegs übermittelt wurden. Allerdings bereiteten sich die alten und künftigen Staaten bereits im Vorfeld auf Paris vor. Denn wer größer werden oder verhindern wollte, zerrupft zu werden, musste das gut und schlüssig argumentieren können.

AP
Die Friedensverhandlungen in Paris gestalteten sich zäh. Deutschland stimmte den Bedingungen nach langem Hin und Her zu.

„Wer Karten zu den Verhandlungen nach Paris geschickt oder gebracht hat, hatte freilich Vorteile“, sagte Petra Svatek, Kartografiehistorikerin, im Gespräch mit ORF.at. Die Wissenschaftlerin schreibt gerade ihr Buch über die Kartografie in Österreich von 1918 bis 1945. „Im Zentrum steht die Verbindung zwischen Politik und Kartografie“, sagte Svatek, die sich auch mit den Friedensverhandlungen beschäftigt hat. In Österreich wurden Mitte November 1918, kurz nachdem Kaiser Karl I. auf den Thron verzichtet hatte, Vorkehrungen für Paris getroffen.

Wo befinden sich Deutschsprachige?
Das damalige Staatsamt für Äußeres beauftragte am 18. November das Militärgeographische Institut, das zur Zeit der Monarchie für alle Landesaufnahmen zuständig war, mit der Produktion neuer Karten. „Es musste rasch gehen, weil man wusste, dass die Gespräche über die Grenzen bald beginnen werden“, erklärte Svatek. In wenigen Monaten wurde eine ganze Reihe von Karten erstellt, und im Winter erschien dann ein ethnografisches Werk, das aus 92 Einzelblättern bestand und nach Paris mitgenommen wurde.


Grafik: ORF.at; Quelle: Wikipedia

Die Generalkarte, eine gewöhnliche topografische Landkarte im Maßstab 1:200.000, stammte noch aus der Monarchie. Doch für die Verhandlungen in Paris, wo neben natürlichen Grenzen die Souveränität der Völker verhandelt wurde, war das zu wenig. „Man wollte zeigen, dass es außerhalb von ‚Deutschösterreich‘ auch Deutschsprachige gibt, die ein Recht haben, gehört zu werden“, so Svatek. Kartografen und Statistiker machten sich deshalb an die Arbeit und visualisierten anhand der Volkszählung 1910, wo sich die Ethnien in „Deutschösterreich“ und auf dem Gebiet der Monarchie befinden.


Grafik: ORF.at; Quelle: Wikipedia

Die deutschen Sprachinseln, die sich insbesondere im Süden und Osten Europas befanden, wurden für gewöhnlich in Rot eingefärbt. „Rot stach besonders hervor. Man wusste: Rot bedeutet deutschsprachig“, erklärte Svatek. Durch die farblich visualisierten Karten erhofften sich Politiker, dass die Siegermächte ihren Gebietsansprüche nachkommen werden. Neben der „deutschen Zerrissenheit“ machte man aber auch auf den neuen Vielvölkerstaat im Süden aufmerksam, wo sich auch Deutschsprachige befanden. „Damals wurde mit den Karten und Daten zum Teil Propaganda betrieben“, erläuterte Svatek.

Deutschland verzichtete auf Kartografen
Aber am Ende entschieden die Siegermächte, wo die Kartografen den Stift ansetzen. „Die Grenzziehung war ziemlich kompliziert“, sagte die Historikerin. Die Alliierten brachten selbst zig Karten zu den Pariser Verhandlungen mit. Allein die Delegation aus den USA umfasste 17 Kartografen. Interessanterweise war aber die deutsche Delegation weder mit Geografen angereist, noch hatte sie Karten als Beweis- und Demonstrationsmittel nach Paris geschickt.

Karten waren für die Friedensverhandlungen in Paris wichtig, sagt die Historikerin Petra Svatek. Wer nach dem Ersten Weltkrieg Gebiete für sich beanspruchte, musste das auch gut begründen können.
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„Die Vertreter aus Deutschland haben vorbereitete Karten nicht als zielführend angesehen“, so Svatek. Zwar hatten zwei renommierte Geografen aus Berlin, Albrecht Penck und Ernst Tiessen, von sich aus Karten über Ostdeutschland und Polen erstellt. Aber weder als Vorbereitung noch bei den Friedensverhandlungen wurden sie von der deutschen Delegation herangezogen. „Man hat die Lage sehr falsch eingeschätzt. Die Deutschen dachten, dass sich an ihren Grenzen nicht so viel ändern könnte“, so die Kartografieexpertin. Deutschland büßte je nach Rechnung ein Zehntel bis ein Siebentel seines Territoriums ein.


Für Ungarn, das nahezu zwei Drittel des Königreichs an seine Nachbar- und Nachfolgestaaten abtreten musste – darunter das Burgenland – , fertigten die Geografen Zsigmond Batky und Karoly Kogutowicz eine ethnografische Karte an. Die serbische Delegation schickte mit Jovan Cvijic einen bekannten Forscher nach Paris, der schon während des Ersten Weltkriegs Lösungen für einen jugoslawischen Staat produziert hatte. Der entstandene Staat der Serben, Kroaten und Slowenen beanspruchte Südkärnten für sich. Bei der Volksabstimmung 1920 entschied sich die Mehrheit für den Verbleib bei Österreich.

Der Kartenhype nach den Verhandlungen
Die für die Verhandlungen angefertigten Kartenwerke waren zum größten Teil geheim. Die Karten der österreichischen Delegation wurden aber nach der Unterzeichnung des Vertrags von Saint-Germain im September 1919 veröffentlicht. „Die Bevölkerung sollte eine Vorstellung davon bekommen, welche Gebiete verlorengehen“, sagte Svatek. Und nachdem Österreich im September 1919 die Friedensbedingungen in Saint-Germain unterzeichnet hatte, wurden weitere ethnografische Werke zum Verkauf produziert.

ORF.at/Peter Pfeiffe
Karten, so Svatek, wurden insbesondere nach den Friedensverhandlungen als Propagandamittel verwendet

„Bei den Verhandlungen ging die Initiative des Kartenzeichnens noch von Politikern aus, danach waren es Wissenschaftler, die die Karten als Propagandamittel benutzten“, so die Expertin. Der große Hype um die Kartografie sei erst in den 1920er Jahren ausgebrochen und hielt bis zur NS-Zeit an. „Im Jahr 1925 wurde etwa in Österreich eine Zeitschrift mit dem Namen Grenzland gegründet“, so Svatek. Es wurden Karten abgebildet, die keinen Hehl daraus machten, dass man die verbotene Wiedervereinigung mit Deutschland und den verlorengegangenen Gebieten anstrebt.
Der Grazer Geograf Georg Alois Lukas veröffentlichte schon ein Jahr zuvor ein Buch, dem die Karte „Heim ins Reich! Friedensverträge sind nur Menschenwerk!“ beigelegt wurde. Österreich und Deutschland waren rot eingefärbt, die weiße Farbe zeigte die verlorengegangenen Gebiete. „Die Karten wurden von den Politikern als Propagandawerke toleriert“, sagte Svatek. Denn das Verhandlungsergebnis werteten sie als Niederlage. Die Verträge konnten ein erhofftes stabiles Europa nicht besiegeln. Stattdessen säte die Neuvermessung der Welt neue Gewalt, und die Grenzen von 1919 wurden ab 1939 wegradiert.
Jürgen Klatzer (Text), Peter Pfeiffer (Foto)

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10.05.2019
Pariser Friedensverhandlungen: Die Grenzzeichner von 1919
 

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#2
Pariser Friedenskonferenz

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Fünf Verträge mit den Besiegten
Der Erste Weltkrieg wurde durch die Pariser Friedensverträge beendet. In den Jahren 1919 und 1920 verhandelten die Siegermächte in mehreren Pariser Vororten mit den Verlierern. Das „Friedensdiktat“ sah harte Bedingungen wie Gebietsabtretungen, Entmilitarisierung und Reparationszahlungen vor. Ohne die bestehenden zu lösen, schuf es neue Konflikte und legte die Grundlage für den Zweiten Weltkrieg.
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Die Friedenskonferenz wurde am 18. Jänner 1919 in Paris unter Anwesenheit von 27 Staaten eröffnet, die im Ersten Weltkrieg dem Deutschen Reich und zum Großteil auch Österreich-Ungarn, Bulgarien und dem Osmanischen Reich den Krieg erklärt hatten. Zunächst verhandelten die Siegermächte also alleine. Erst am 7. Mai 1919 wurden Deutschland als erstem Staat die Friedensbedingungen überreicht.

Da die Friedensverträge nicht an einem Ort allein ausgearbeitet werden konnten, wurden Schlösser in den Pariser Vororten aufgeboten: Versailles für das Deutsche Reich, in Saint-Germain wurden die Bedingungen für Österreich unterzeichnet, in Trianon jene für Ungarn, das sich bereits von der Donaumonarchie emanzipiert hatte. Der Friedensvertrag für Bulgarien wurde in Neuilly, jener für das Osmanische Reich in Sevres ausgearbeitet.

Radikale Neuordnung der Staatenwelt
Zum Unterschied vom Wiener Kongress 1814/15 ging es nicht um eine Wiederherstellung der alten Ordnung, sondern um eine radikale Neuordnung der europäischen Staatenwelt auf Kosten der zusammengebrochenen Mittelmächte.
Bis zum 28. Juni 1919, dem Tag der Unterzeichnung des Versailler Vertrags mit dem Deutschen Reich, gab es 1.646 Sitzungen von 58 Kommissionen. Das Hauptberatungsgremium, der „Rat der Zehn“ (die Regierungschefs und Außenminister von USA, Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan) trat 72-mal zusammen, der „Rat der Vier“ (USA, Großbritannien, Frankreich und Italien) 145-mal. Die Vollversammlung der alliierten und assoziierten Mächte hielt acht Sitzungen ab. Allerdings galt die Vollversammlung als kompliziert.



Parallel zu den Arbeiten an den Friedensverträgen wurde auch an der Satzung des von US-Präsident Woodrow Wilson vorgeschlagenen Völkerbundes gefeilt. Dieser Zusammenschluss aller Staaten sollte den Weltfrieden und die territoriale und politische Unabhängigkeit der Staaten erhalten. Am 28. April wurde die aus 26 Artikeln bestehende Satzung des Völkerbundes durch die Vollversammlung der Friedenskonferenz angenommen, am 28. Juni 1919 wurde diese Satzung durch die Gründerstaaten unterzeichnet.

Deutschland verlor Elsass-Lothringen
Deutschland verlor mit dem Vertrag von Versailles rund ein Zehntel bis ein Siebtel seines Staatsgebiets, darunter Elsass-Lothringen, aber auch seine Kolonien. Das Saargebiet, das Rheinland sowie Danzig wurden der deutschen Kontrolle entzogen, die Schifffahrtswege wurden internationalisiert. Die Armeestärke wurde auf 100.000 Mann beschränkt, außerdem musste das Deutsche Reich Reparationen von mindestens 20 Milliarden Goldmark (7.000 Tonnen Gold) zahlen.
Die österreichische Frage wurde erst im Mai 1919 zum Thema, nach dem Abschluss der Beratungen über das Deutsche Reich. Grundsätzlich lehnten Österreichs Vertreter die Verantwortung für den Krieg ab, doch war diese Argumentation eher kontraproduktiv. Immer wieder wurden Detailfragen behandelt, etwa das Problem der auf vier Staaten verteilten Südbahngesellschaft oder die angeblich von Paris geplante Verschleuderung von Kulturgut.
Besonders Wilson wandte sich energisch gegen verschiedene, bis in das 18. Jahrhundert zurückreichende Forderungen Italiens nach in Österreich befindlichen Kulturgütern. Auch die katastrophale Wirtschafts- und Ernährungslage in Österreich und ganz Mitteleuropa stand zur Debatte.

Anschlussverbot für Österreich an Deutschland
Die aus der Donaumonarchie hervorgegangenen Staaten legten eine starke Ablehnung gegenüber Wien an den Tag. In den Gebietsverhandlungen wurden sie zu Vertretern historischer Grenzen, während die deutschösterreichischen Politiker auf das nationale Selbstbestimmungsrecht pochten.
Auf scharfe Ablehnung in Paris und Prag, später aber auch in London, Rom und Belgrad stieß der österreichische Wunsch, sich Deutschland anzuschließen. Für diesen Fall wurde mit dem Stopp von Lebensmittel- und Kohlelieferungen gedroht. Erfolge sollte Österreich nur in der Burgenland-Frage (auf Kosten Ungarns) und in der Kärntner Frage (auf Kosten Jugoslawiens) erzielen. Das gelang mit Unterstützung Italiens, das an einer Schwächung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS) interessiert war.

Südtirol und Untersteiermark an Nachbarstaaten
Am 6. April 1919 kamen die Mächte überein, die Untersteiermark einschließlich der Region Marburg (Maribor) dem SHS-Königreich zu überlassen. Am 22. April vereinbarten sie, das Deutsche Reich in Artikel 80 des Versailler Friedensvertrags zur Anerkennung der Unabhängigkeit Österreichs zu verpflichten. Damit war die vom österreichischen Außenminister Otto Bauer zuvor in Berlin ausverhandelte Anschlusspolitik gescheitert.
Südtirol war de facto verloren, da Italien auf der Erfüllung der alliierten Versprechungen im Londoner Geheimvertrag von 1915 bestand. US-Präsident Wilson sprach am 24. April 1919 das Gebiet südlich des Brenners definitiv Italien zu. Doch es hätte noch schlimmer kommen können für Österreich, schließlich hatte etwa die Tschechoslowakei zunächst einen „slawischen Korridor“ nach Slowenien gefordert.

Krieg in Österreich „stürmisch begrüßt“
Der Vertrag von Saint-Germain wurde dem österreichischen Staatskanzler Karl Renner am 2. September 1919 zur Unterfertigung überreicht. In einer Begleitnote äußerte sich der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau scharf zum Versuch Österreichs, sich der Verantwortung für den Krieg zu entledigen. Er wies darauf hin, dass der Krieg „im Augenblick seiner Erklärung in Wien stürmisch begrüßt“ worden sei und das österreichische Volk „vom Beginn bis zum Ende sein glühender Parteigänger“ gewesen sei. Bis zur Niederlage habe es „nichts getan, um sich von der Politik seiner Regierung und seiner Verbündeten zu trennen“.
Nachdem die österreichische Nationalversammlung dem Friedensvertrag mit den Stimmen von Christdemokraten und Sozialdemokraten „unter feierlichem Protest vor aller Welt“ zugestimmt hatte, unterzeichnete Renner ihn am 10. September in Saint-Germain. Mit dem Inkrafttreten des Vertrags am 16. Juli 1920 wurde die Österreichisch-Ungarische Monarchie endgültig Geschichte.
red, ORF.at/Agenturen

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Pariser Friedenskonferenz: Fünf Verträge mit den Besiegten
 

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#3
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100 Jahre Vertrag von Saint-Germain
Vor 100 Jahren hat Staatskanzler Karl Renner den Vertrag von Saint-Germain unterschrieben. Er beinhaltete das Anschlussverbot und Gebietsverluste - aber auch wenig bekannte und kuriose Bestimmungen, wie drei Experten in einem Gastbeitrag schreiben.

Vor exakt 100 Jahren, am 10. September 1919, wurde im „Steinzeitsaal“ des Schlosses Saint-Germain-en-Laye nahe von Paris der Friedensvertrag zwischen Österreich und den Alliierten und Assoziierten Mächten unterschrieben. Er wird, gemeinsam mit den Friedensschlüssen, die die Alliierten mit Deutschland, Bulgarien, Ungarn und der Türkei schlossen, zu den „Pariser Vororteverträgen“ gezählt, die den Ersten Weltkrieg formell beendeten.


Privat
Über die Autoren
Herbert Kalb ist Vorstand des Instituts für Kanonistik, Europäische Rechtsgeschichte und Religionsrecht der Uni Linz, Anita Ziegerhofer, ao. Univ. Prof. am Institut für Rechtswissenschaftliche Grundlagen der Universität Graz und Thomas Olechowski Professor für Rechtsgeschichte an der Uni Wien.

Die von Staatskanzler Renner geleitete österreichische Delegation hatte sich allerdings bis zuletzt geweigert, den Vertrag als einen „Friedensvertrag“ zu bezeichnen, zumal sie auf dem Standpunkt beharrte, dass der im Oktober 1918 gegründete Staat „Deutschösterreich“ eine Neuschöpfung sei, ebenso wie der tschechoslowakische oder der südslawische Staat, die ebenfalls auf dem Boden der untergegangenen Habsburgermonarchie entstanden seien.

Nun aber musste Renner mit seiner Unterschrift bestätigen, dass die „Republik Österreich“ gemeinsam mit Ungarn an die Stelle der Österreichisch-Ungarischen Monarchie getreten und daher auch „verantwortlich“ sei für die Schäden, die Österreich-Ungarn und seine Verbündeten während des Krieges angerichtet hatten. Die damit verbundenen umfangreichen Reparationsleistungen, zu denen sich Österreich im Vertrag verpflichten musste, erwiesen sich freilich als uneinbringlich. Sie wurden zunächst gestundet, dann, 1929, ganz erlassen.


ÖNB
Staatskanzler Karl Renner unterschreibt am 10.9.1919 den Vertrag

Gebietsverluste und Anschlussverbot
Andere Teile des Vertrags von Saint-Germain hatten dafür große praktische Auswirkungen. Dazu gehörte insbesondere die Festlegung der Grenzen der jungen Republik, die mit ganz geringen Abweichungen noch heute gültig sind. Österreich musste auf eine Reihe von Gebieten mit rein oder vorwiegend deutschsprachiger Bevölkerung verzichten, wie vor allem auf Südtirol und die sudetendeutschen Gebiete, konnte aber – auf Kosten Ungarns – das Burgenland gewinnen.

Als besonders schmerzhaft wurde von vielen Österreicherinnen und Österreichern der Artikel 88 empfunden, der einen „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich verbot (eine gleichartige Bestimmung enthielt auch der mit Deutschland abgeschlossene Vertrag von Versailles). Gerade angesichts der großen Gebietsverluste wurde die kleine Alpenrepublik von vielen als nicht überlebensfähig erachtet. Ihr „Wasserkopf“ Wien, in dem mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung lebte, war auf die Beherrschung eines Großreichs ausgerichtet gewesen; mit den neuen Grenzen zerbrachen jahrhundertealte Wirtschaftsräume.

Das waren nur ein paar der vielen Argumente der Befürworter eines „Anschlusses“ an das Deutsche Reich. Für die Siegermächte des Ersten Weltkriegs stand demgegenüber deren eigenes Sicherheitsinteresse im Vordergrund: Das eben erst besiegte Deutschland durfte keinesfalls durch einen Hinzutritt Österreichs gestärkt werden.


Uni Graz/Schweiger
Grenzstein in der Südsteiermark erinnert an Saint-Germain

Sekt ist kein Champagner
Dem Sicherheitsbedürfnis der Alliierten dienten auch das Verbot einer allgemeinen Wehrpflicht und das Verbot einer Luftwaffe für Österreich. Aber der Vertrag beschränkte sich nicht nur auf unmittelbar politische und militärische Bestimmungen; er griff auch tief in das Wirtschaftsleben Österreichs, in seine internationalen Handelsbeziehungen, ja in Fragen des gewerblichen Rechtsschutzes ein. Wer denkt heute etwa daran, dass das Verbot, österreichischen Sekt und österreichischen Weinbrand als „Champagner“ bzw. „Cognac“ zu bezeichnen, seinen Ursprung in Artikel 226 des Vertrags von Saint-Germain hat?

Schutz von Minderheiten
Ein Abschnitt des Vertrags von Saint-Germain steht bis heute in Österreich in Verfassungsrang, und zwar jener, der sprachlichen und religiösen Minderheiten gewisse Mindestrechte zusichert. Die Schaffung eines internationalen Minderheitenschutzes war ein zentrales Anliegen des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson auf der Pariser Friedenskonferenz gewesen; entsprechende Bestimmungen finden sich – praktisch gleichlautend – außer im Vertrag mit Österreich auch in speziellen Verträgen, die auf der Konferenz mit Polen, Jugoslawien und der Tschechoslowakei abgeschlossen wurden.

FWF-Forschungsprojekt
Ein vom Wissenschaftsfonds FWF gefördertes Projekt, an dem die ÖAW sowie die Unis Graz, Linz und Wien beteiligt sind, hat eine umfassende Analyse des Vertrages zum Gegenstand. Ergebnis soll der erste juristische bzw. rechtshistorische Kommentar zum Vertrag von Saint-Germain sein.

Sie enthielten religionsbezogene Schutzrechte, Gleichheitsgarantien, Diskriminierungsverbote sowie Staatsbürgerschaftsrechte und sollten sowohl unter nationalem wie unter internationalem Schutz stehen. Insbesondere das Recht auf freie und öffentliche Religionsausübung war bis dahin nur den gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaften vorbehalten gewesen und wurde nun auf alle Einwohner Österreichs ausgedehnt.


ÖNB
Renners Ankunft in Saint-Germain, Mai 1919

Optionsrecht und Optionspraxis
Über weite Strecken hatten die fünf Pariser Vororteverträge mit Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien und der Türkei einen identischen Wortlaut. Eine Besonderheit der mit Österreich und Ungarn abgeschlossenen Verträge von Saint-Germain bzw. Trianon gegenüber den anderen Verträgen waren solche Regelungen, die auf den Zerfall der Habsburgermonarchie Bedacht nahmen, insbesondere jene zur Staatsbürgerschaft.

Links:
Traurige Berühmtheit erlangte hier Artikel 80 des Vertrages von Saint-Germain, der gewissen Personen ein Optionsrecht für jenen Staat gab, in dem die Mehrheit der Bevölkerung der gleichen Rasse und Sprache angehörte. Die nach dem deutschnationalen Innenminister benannte „Wabersche Optionspraxis“ sah vor, alle Optionsansuchen von Juden auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft abzulehnen, zumal sie nicht der „gleichen Rasse“ wie die österreichische Mehrheitsbevölkerung angehörten.

Aufwertung des Völkerrechts
Österreich wurde verpflichtet, zahlreichen internationalen Abkommen beizutreten, darunter etwa der Suezkanal-Konvention 1888, dem Opiumabkommen von 1912 und auch der internationalen Konvention zur Bekämpfung der Reblaus von 1881. All diese Punkte zeigen, dass der Vertrag von Saint-Germain weit mehr regelte, als man in einem gewöhnlichen Friedensvertrag vermuten würde, und dass die Pariser Friedenskonferenz 1919/20 eine enorme Aufwertung des Völkerrechts brachte, das nun in immer mehr Bereichen eine bedeutende Rolle spielte.

Den ersten Abschnitt aller fünf Pariser Vororteverträge bildete die Satzung des Völkerbundes, einer internationalen Organisation, deren Gründung vor allem auf Wunsch von Präsident Wilson zustande kam und die als Vorläuferin der heutigen UNO angesehen werden kann. Den vorletzten Abschnitt der Verträge bildete die Satzung der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organisation, ILO); beide Organisationen bildeten gemeinsam sozusagen eine „Klammer“ für das gesamte Vertragswerk.


ÖNB
Österreichische Delegation zum Friedensschluss von Saint-Germain mit Karl Renner

Völkerbund scheiterte, ILO gibt es bis heute
Während der Völkerbund als Garant des politischen Weltfriedens auftreten sollte, sollte die ILO Garant für den sozialen Frieden auf der Welt sein. Die ILO, die auch als Reaktion der westlichen Welt auf die kommunistische Oktoberrevolution in Russland von 1917 angesehen werden kann, setzte wesentliche Impulse für eine internationale Arbeiterinnenschutzgesetzgebung, etwa die Regelung des Nachtarbeitsverbots für Frauen. Sie besteht noch heute als Teilorganisation der UNO, während der Völkerbund 1946 aufgelöst wurde. Österreich gehörte dem Völkerbund von 1920 bis zum „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutschland im Jahre 1938 an. Obwohl dieser „Anschluss“ ein klarer Verstoß gegen die Verträge von Saint-Germain und von Versailles war, kam weder vom Völkerbund noch von den Großmächten ein Protest.

Mit dem Wiederaufleben Österreichs nach 1945 trat auch der Vertrag von Saint-Germain wieder in Kraft. Viele seiner Bestimmungen sind mittlerweile gegenstandslos oder durch neue, internationale Abkommen überholt worden. Andere Teile des Vertrages haben ihre praktische Bedeutung bis heute behalten.

Mehr zu dem Thema:
100 Jahre Vertrag von Saint-Germain - science.ORF.at
 
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