Vor 100 Jahren wurde im Südwesten Berlins die "Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße", kurz Avus, als erste Autorennstrecke der Welt eröffnet

josef

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Hundert Jahre Avus: "Ein Wunder, dass nicht noch mehr gestorben sind"
1921, nach dem Ersten Weltkrieg, wurde im Südwesten Berlins die "Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße", kurz: Avus, eröffnet. Die erste exklusive Autorennstrecke der Welt
Österreich hatte Südtirol, 1919 schon, an Italien abtreten müssen, vor 100 Jahren aber von Ungarn sein jüngstes Bundesland hinzugewonnen, das Burgenland, wenngleich ohne die geplante Hauptstadt Ödenburg, und am 11. September wurde die erste Wiener Messe eröffnet. Im Südosten tobte weiter der Griechisch-Türkische Krieg, der für die Griechen mit dem Verlust der uralten hellenischen Gebiete im Westen Kleinasiens endete.

In Deutschland war Ende August Reichsfinanzminister Matthias Erzberger ermordet worden, bei Ludwigshafen flog am 21. September in einer gigantischen Explosion das Oppauer Stickstoffwerk der BASF in die Luft. Am 23. September wurde auf der Deutschen Automobilausstellung in Berlin der Rumpler-Tropfenwagen präsentiert, das erste nach aerodynamischen Prinzipien entworfene Automobil der Welt, ersonnen vom österreichischen Flugzeug- und Automobilkonstrukteur Edmund Rumpler, und apropos Italien: Benelli begann dort, ebenfalls im Jahr 1921, mit dem Bau von Motorrädern, außerdem wurde Moto Guzzi gegründet.


Ein Rennwagen vor dem Start 1921.
Foto: Ullstein Bild

In diesem Umfeld, mitten in dramatischen Nachkriegswirren, Bürgerkriegen oder solchen ähnlichen Zuständen und sozusagen en passant rasanten technisch-wissenschaftlichen Fortschritten, wurde am Wochenende des 24. und 25. September 1921 die Avus eröffnet. Standesgemäß. Mit einem großen Autorennen. Röhrende Motoren! Spektakel! Volksfeststimmung!

Die historischen Fakten: erste Straße der Welt, die ausschließlich für den Einsatz von Automobilen und Motorrädern gedacht war (eine vergleichbare Ausschließlichkeit hatte es nicht einmal im Circus Maximus oder in den Ritterturnieren des christlichen Abendlandes gegeben, allenfalls im Hippodrom zu Konstantinopel). Damit kommt der 8,3 Kilometer langen Strecke eine ähnliche Pionierrolle zu wie später dann der deutschen Autobahn.

Und wer ist dort nicht alles gefahren, hat dort nicht alles gesiegt. Rudolf Caracciola, Manfred von Brauchitsch, Achille Varzi, Bernd Rosemeyer und, und, und, die Crème de la Crème des Motorsports.

Apropos Brauchitsch (1905 bis 2003): Ich erinnere mich noch gut an eine Begegnung mit diesem legendären Überlebenden dieser Ära, ein, zwei Jahre vor seinem Tod, anlässlich seines Besuchs des Gaisbergrennens: "Sie können sich nicht vorstellen, wie wir damals gefahren sind. Vielfach mit dem Kopf runter auf Lenkradhöhe, oder eben so tief wie möglich, wegen des Luftwiderstands und auf Schotterstraßen aus Sicherheitsgründen. Oft haben wir viele Sekunden lang überhaupt nichts gesehen, und das bei dem Tempo. Ein Wunder, dass nicht noch mehr gestorben sind, als das ohnehin der Fall war."

Wo ein Wille, da ein Weg
Aber so wie die Augen des alten Herrn leuchteten, leuchteten seinerzeit, beginnend eben mit 1921, die der Zuseher und Teilnehmer. Man möchte meinen, Großvorhaben wie diese seien zu der Zeit im Deutschen Reich gar nicht durchführbar gewesen – der Mann, der die Existenz der Avus durch sein finanzielles Engagement dann dennoch möglich machte, war der Industrielle und Politiker Hugo Stinnes. Die Strecke führte, quasi direkt vor den Toren Berlins, aber noch innerhalb der Stadtgrenzen, vom Funkturm durch den Grunewald bis nach Nikolassee.


Motorradrennen 1932.
Foto: imago

Schnell zeigte die Erfahrung, dass für so eine Strecke ein ganz anderer Belag vonnöten war, sodass bald eine Deckschicht aus Asphalt draufkam, und weil die Nordkurve plan war wie die Geraden und Abflüge begünstigte, wurde sie 1937 durch eine 43,6-Grad-Steilkurve ersetzt. Bis heute trägt diese zum Nachruhm der Strecke bei, auf welcher der Rennbetrieb Mitte der 1920er und während der Weltwirtschaftskrise immer wieder zum Erliegen kam.

Doch mitten in dieser Zeit meldet die Chronik einen denkwürdigen Auftritt mit, heute würde man sagen: alternativem Antriebskonzept. Fritz "Raketenfritz" von Opel trieb seinen raketengetriebenen RAK2 am 23. Mai 1928 mit 238 km/h zu einem neuen Geschwindigkeitsweltrekord. Regelmäßig weiter ging es mit dem Motorrennsport dann Anfang der 1930er-Jahre, spätere Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten inklusive.

Die legendäre Steilkurve wurde übrigens 1967 auf FIA-Empfehlung wieder abgerissen und zurückversetzt in den Flachzustand. Davor war, 1951, im 30-Jahr-Jubiläumsjahr, der Betrieb in der geteilten Stadt wieder aufgenommen worden, vor 350.000 Zuschauern, auch die Ostberliner pilgerten herbei. 1961 wurde die "Wir haben nicht die Absicht, eine Mauer zu bauen"-Mauer gebaut, dann war damit Schluss.

Die Konzeptverwässerung setzte kriegsbedingt 1940 ein, als die Avus Teil des öffentlichen Straßennetzes wurde, die letzten Rennen wurden 1998 abgehalten, 1999 gab’s ein Abschiedsfest. Die Avus ist also Geschichte. Aber unvergessen. Wir gratulieren zum 100er. (Andreas Stockinger)

Peter Urbanek:
Hundert Jahre alt zu werden gehört heute fast schon zur Selbstverständlichkeit. Das gilt für Menschen, aber auch für Bauwerke wie für die Avus in Berlin. Vor dem Ersten Weltkrieg geplant, heulten erst im September 1921 auf der endlich fertiggestellten Strecke die Motoren auf. Weitgehend dem Motorsport gewidmet, war die Avus leider immer wieder auch Schauplatz von Tragödien, allein der erste GP von Deutschland im Jahr 1926 forderte vier Todesopfer.


Zeitnehmer 1921...
Foto: Ullstein Bild

Die Begeisterung für den Motorsport ließ die Avus nie altern. In der Zwischenkriegszeit gingen hier die Sterne von Rudolf Caracciola (Mercedes) und Manfred von Brauchitsch (Alfa Romeo) auf. Der Tod von Prinz Lobkowitsch auf Bugatti – ein "Kollateralschaden".

In den 1930ern wurde die Rennstrecke für das damalige Regime der Ort, um "die motorsportliche Überlegenheit" der deutschen Marken Mercedes und Auto Union zu demonstrieren.

Tempo, Tempo
Eindrucksvoll die 1937 gebaute Nordkurve als Steilkurve (siehe Beitrag oben), hier rauschte Hermann Lang im Mercedes-Silberpfeil über den Kurs – mit unfassbaren 400 km/h Spitzengeschwindigkeit! Zwei Jahre davor siegte Luigi Fagioli auf Mercedes mit 238 km/h Durchschnittstempo.
Diese Jahre mit ihrem unglaublichen Propagandaaufwand prägten lange Zeit den Nimbus der Strecke, die ab 1940, nach kriegsbedingtem Ende des Rennsports, dem freien Verkehr diente.

Bis zum endgültigen Aus 1998 war die Avus stets für spektakuläre Action gut. Im Internet sorgen bis heute Auftritte der Österreicher Dieter Quester und Alexander Wurz für Furore.


...und Karl Kling 1954 im Mercedes W 196 R.
Foto: imago

O-Ton Quester auf Anfrage des STANDARD: "Bei meinen zehn Auftritten stand ich dieser Strecke immer mit gemischten Gefühlen gegenüber. Der Todessturz von Jean Behra im Porsche 1959, er flog – wie Richard von Frankenberg 1956 auf Porsche – von der Strecke, Letzterer blieb unverletzt, bleiben im Gedächtnis verhaftet. Die Strecke: mit zwei Kurven, zwei endlosen Geraden, ständigem Gedränge der Konkurrenten, wo man selbst auf die Südkurve, die nur 70 km/h verträgt, mit 300 hinfährt. Bei der DTM 1990 hatte ich das Glück gepachtet. Endspurt vor dem Ziel, der französische Formel-1-Pilot Jacques Laffite versucht, aus meinem Windschatten heraus anzugreifen, ich schere kurz aus und berühre dabei die mit Wasser gefüllten Poller der Streckenbegrenzung. Mein BMW überschlägt sich zweimal, ich rutsche am Dach ins Ziel, Platz drei – und unverletzt."

Glück hatte auch Alexander Wurz 1995 auf Dallara-Opel Formel 3. Vater Franz, die Rallycross -Legende, zum STANDARD: "Beim Anbremsen der gefürchteten Südkurve, hier überschlug sich Hans Herrmann 1959 spektakulär im BRM F1, fuhr ein Fahrzeug der ,Streckensicherung‘ in Alexanders Formel-Wagen. Totalschaden, deutsche Meisterschaft ade."

Heute verblasst der Ruhm dieser Strecke als Teil des Berliner Straßennetzes. Für ewig steht aber der Streckenrekord Tony Brooks’ auf Ferrari F1 von 1959 mit 2,04,5 Minuten zu Buche. Das war beim einzigen WM-Lauf der Formel 1 in Berlin. Ein Geschenk an die Bürger der DDR. Sie durften die Eintrittskarten mit Ostmark bezahlen. (Peter Urbanek, 26.10.2021)
Hundert Jahre Avus: "Ein Wunder, dass nicht noch mehr gestorben sind"
 
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