Vor 150 Jahren endete durch einen Schiedsspruch des deutschen Kaisers der "Schweinekrieg" um die San-Juan-Inseln

josef

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PIG WAR
Als Kaiser Wilhelm den USA zu einer Inselgruppe verhalf
Vor 150 Jahren entschied der deutsche Kaiser als Schiedsrichter über die San-Juan-Inseln und beendete damit den Schweinekrieg
Viehzucht und Ackerbau sind vermutlich schon seit der Sesshaftwerdung des Menschen ein konfliktbeladenes Gespann. Hier treffen unvereinbare Interessen aufeinander: Vieh braucht Weideflächen, oft genug werden dabei Felder in Mitleidenschaft gezogen.

Ein Nachbarschaftsstreit zwischen einem Schweinezüchter und einem Erdäpfelbauern auf einer kleinen Insel an der Pazifikküste Nordamerikas führte Mitte des 19. Jahrhunderts beinahe zu einem Krieg zwischen den USA und Großbritannien. Der als "Schweinekrieg" in die Geschichte eingegangene Konflikt begann 1859 und wurde erst 13 Jahre später mit einem Schiedsspruch des deutschen Kaisers Wilhelm I. beendet. Die Episode ist eines der frühesten Beispiele für eine erfolgreiche Konfliktlösung durch ein internationales Schiedsgericht.

Schwein auf dem Erdäpfelacker
Der Ire Charles Griffin und der US-Amerikaner Lyman Cutlar lebten beide auf der Insel San Juan des gleichnamigen Archipels. Griffin arbeitete für die britische Hudson's Bay Company, während Cutlar hier wie andere US-Siedler auch eine Farm betrieb. Bereits mehrfach hatten Schweine Griffins den Erdäpfelacker Cutlars heimgesucht. Diesbezügliche Beschwerden quittierte Griffin mit dem Hinweis, das Land gehöre der Hudson's Bay Company. Aus Cutlars Sicht jedoch siedelte er auf US-Boden. Die Überlieferung besagt, dass der Bauer vom Schweinehalter verlangt habe, die Tiere von seinem Grund fernzuhalten, da diese seine Erdäpfel fressen würden. Griffin soll gekontert haben, es sei Cutlars Aufgabe, die Erdäpfel aus seinen Schweinen herauszuhalten.


Ein Schwein auf der Insel San Juan schrieb mit seinem gewaltsamen Tod Geschichte.
Foto: Epa/Sem van der Wal

Am 15. Juni 1859 eskalierte der Konflikt der Nachbarn: Cutlar ertappte ein Schwein in flagranti beim Durchwühlen seines Feldes und erschoss es. Zwar bot Cutlar Griffin zehn Dollar als Ersatz für das Schwein an, doch dieser behauptete, es sei mehr als hundert Dollar wert gewesen. Da Cutlar diesen Betrag nicht zahlen wollte, drohten die britischen Behörden mit seiner Festnahme und der Vertreibung der US-Siedler. Diese wandten sich an das US-Militär, das einige Dutzend Infanteristen auf die Insel schickte. Die britische Verwaltung beorderte daraufhin drei Kriegsschiffe in die Region. Die Truppenstärken wuchsen in den kommenden Wochen und Monaten weiter an, bis die USA 461 und die Briten 2.140 Mann vor Ort hatten.


Ein Orca springt bei den San-Juan-Inseln in der Salischen See aus dem Wasser. Im Hintergrund ist der Stratovulkan Mount Baker zu sehen.
Foto: AP/Elaine Thompson

Pattsituation
London und Washington reagierten nervös auf die Meldungen über die Krise. US-Präsident James Buchanan schickte seinen Armeechef Winfield Scott, um sich mit dem britischen Gouverneur James Douglas auf eine Lösung zu verständigen. Man einigte sich darauf, dass die Besetzung der Insel bis zu einer endgültigen Lösung in einem deutlich reduzierten Umfang von nur hundert Mann bestehen blieb.

Während die Briten im Norden ihr Camp einrichteten, bezogen die US-Amerikaner Quartier auf einer Anhöhe im Süden der Insel. Dieses Patt blieb für die kommenden zwölf Jahre bestehen. Zu Gefechten kam es während all dieser Jahre nicht, im Gegenteil, man besuchte einander gegenseitig in den feindlichen Camps und beging Feiertage gemeinsam.

Schiedsgericht
1871 unterzeichneten die USA und Großbritannien den Vertrag von Washington, in dem unter anderem die San-Juan-Frage einem Schiedsrichter übertragen wurde. Kaiser Wilhelm I. setzte eine dreiköpfige Kommission ein, die sich fast ein Jahr lang zu Beratungen in Genf traf. Am 21. Oktober 1872 wurde schließlich die Entscheidung zugunsten der USA verkündet. Noch im November zogen die Briten ab, die USA lösten ihren Stützpunkt bis 1874 auf, und auf der Insel kehrte Frieden ein.

Doch wie konnte es überhaupt zu dieser unklaren Grenzziehung kommen? Für eine Antwort auf diese Frage braucht es einen Blick auf die historische Entwicklung ebenso wie einen auf die Landkarte.

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Kreuzungspunkt
Die San-Juan-Inseln liegen in der Salischen See am Kreuzungspunkt zwischen der Juan-de-Fuca-Straße im Süden und der Straße von Georgia im Osten der Vancouver-Insel. Benachbart ist der Puget Sound, die Meeresbucht, die der Stadt Seattle vorgelagert ist.

Ende des 18. Jahrhunderts waren die Besitzverhältnisse des pazifischen Nordwestens Nordamerikas zwischen den Großmächten nicht geregelt. Neben den Briten beanspruchten auch die Spanier die Küstengebiete, aber auch die Russen und US-Amerikaner suchten in dem Gebiet Fuß zu fassen. Spanien berief sich bei seinen Ansprüchen auf den Vertrag von Tordesillas, der die Herrschaftsbereiche Portugals und Kastiliens regelte, während Russland das Gebiet Alaskas kolonialisierte und sich die Küste entlang nach Süden ausbreitete. Briten und US-Amerikaner strebten einen Zugang zum Pazifik an.


Der Leuchtturm von Cattle Point im Süden der Insel San Juan.
Foto: AP / Ellen M. Banner

Entdeckerfahrten
Der Nootka Sound, ein verzweigter Fjord an der Westküste der Vancouver-Insel, wurde 1774 von spanischen Seefahrern entdeckt, 1778 erkundete James Cook den Sound. In der Folge gründeten Briten wie Spanier Niederlassungen in dem Gebiet. 1789 kaperte der spanische Entdecker Esteban José Martínez britische Schiffe und nahm formell die gesamte Nordwestküste Amerikas in spanischen Besitz. In der folgenden Nootka-Krise erkannte Spanien, dass es militärisch gegen die Tripelallianz aus Großbritannien, den Niederlanden und Preußen auf verlorenem Posten stand, denn Madrid kam sein Verbündeter Frankreich infolge der Französischen Revolution abhanden. In den Nootka-Konventionen wurde der Konflikt auf diplomatischer Ebene bereinigt, allerdings ohne eine klare Abgrenzung der Einflusssphären.

1790 schickte die britische Marine eine Expedition unter dem Navy-Offizier George Vancouver, um die Küste zwischen 30. und 60. Breitengrad zu kartografieren. Vancouver beanspruchte 1792 den Puget Sound und das umliegende Gebiet bis zum gerade erst entdeckten Columbia River im Süden für Großbritannien – während die Spanier das Gebiet bis zur Juan-de-Fuca-Straße verlangten.


Watmough Bight auf der Insel Lopez.
Foto: Reuters

Riesiges Oregon Country
Die Region wurde Teil des Oregon Country, das sich in der Folge vom 42. Breitengrad im Süden – der damaligen Grenze zu Mexiko – bis zu der Breite von 54 Grad und 40 Minuten im Norden erstreckte. Das riesige Gebiet umfasst die heutigen US-Bundesstaaten Oregon, Washington, Idaho und Teile von Wyoming und Montana sowie die kanadische Provinz British Columbia. Die Briten und US-Amerikaner einigten sich im Londoner Vertrag von 1818 auf eine gemeinsame Nutzung des Oregon Country – eine Regelung von nur kurzem Bestand.

Der Demokrat James Knox Polk zog 1844 mit expansionistischen Plänen ins Weiße Haus ein, wobei er im Gegensatz zu anderen auf eine Verhandlungslösung drängte: er bot den Briten den 49. Breitengrad als Grenzlinie an. Diese lehnten jedoch ab, da sie den Columbia River als natürlich Grenze anstrebten: hier hatten sie mit Fort Vancouver eine wichtige Niederlassung. Der Slogan "Fifty-four Forty or Fight" unterstrich den Anspruch der US-Amerikaner auf das gesamte Oregon Country, der nötigenfalls auch militärisch durchgesetzt werden sollte.


Minnie's Beach und Active Cove auf der Insel Patos.
Foto: Reuters

Unklarer Oregon-Kompromiss
Am 15. Juni 1846 – genau 13 Jahre vor dem für das Schwein tödlichen Zwischenfall – wurde von London und Washington der Oregon-Kompromiss geschlossen: Polk setzte sich mit seiner Forderung nach dem 49. Breitengrad als Grenze am Festland durch. Die im Vertrag festgehaltene Aufteilung setzte sich in der "Mitte des Kanals, der den Kontinent von Vancouver's Island trennt, und von dort nach Süden durch die Mitte des besagten Kanals und der Fuca-Straße zum Pazifischen Ozean" fort. Übersehen wurde dabei jedoch eine klare Formulierung des Grenzverlaufs im Bereicht der San-Juan-Inseln: Diese liegen genau in der Mitte der Wasserstraße. Wo sollte hier also die Grenze gezogen werden? Westlich des Archipels verläuft die Haro-Straße, östlich die Rosario-Straße und mitten durch der San-Juan-Kanal. Wilhelms Kommission kam zu dem Schluss, dass die Haro-Straße fürderhin die Grenze bilden sollte, der gesamte Archipel gehört somit seither den USA.


Der Leuchtturm auf der Insel Patos.
Foto: Reuters

Heute befindet sich auf der einstmals umstrittenen Insel der San Juan Island National Historical Park. Im ehemaligen britischen Camp wird noch immer täglich der Union Jack gehisst und am Abend wieder eingeholt – durch US-Beamte auf US-Grund, ein außergewöhnlicher Vorgang.
(Michael Vosatka, 24.10.2022)
Als Kaiser Wilhelm den USA zu einer Inselgruppe verhalf
 
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