Vor 100 Jahren, am 29. Dezember 1921, wurde die Trennung von Niederösterreich und Wien beschlossen

josef

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#21
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
„In fast jedem Ort gab es Zwangsarbeiter“
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60.000 Kriegsgefangene sind im Zweiten Weltkrieg im Lager „Stalag XVII B“ in Krems-Gneixendorf untergebracht gewesen. In Niederösterreich gab es damals mehr als 370 NS-Lager bzw. lagerähnliche Quartiere für Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter.
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Ein aufgelassener Bahnübergang neben einer Landesstraße zwischen Pulkau und Klein-Jetzelsdorf (beide Bezirk Hollabrunn), überwachsene Gleise und einzelne Mauerreste von Aufenthaltsgebäuden – nur das erinnert heute noch an das ehemalige Zwangsarbeitslager von Pulkau, das an einen Steinbruch angeschlossen war. Ab 1944 wurden hier ungarische Juden untergebracht.
Das Lager war klein, etwa 30 Personen waren dort untergebracht. Die Bewachung bestand nur aus einem alten Mann mit einem Schäferhund. In Pulkau ging es nicht um Vernichtung, aber es ging trotzdem ums Leben. Drei Menschen bekamen zusammen ein Viertel Laib Brot, dazu eine Kartoffel pro Kopf. Im Winter gab es Sauerkraut, das im März faul war, berichtete eine Zeitzeugin.

ORF
Heute erinnern nur noch Ruinen an das ehemalige Zwangsarbeitslager in Pulkau

Harte Arbeit
Dazu kam die harte Arbeit. Am späten Nachmittag wurde immer gesprengt, am nächsten Tag musste dann jeder Zwangsarbeiter drei kleine Waggons mit Steinen anfüllen. Wenn große Steine vorhanden waren, musste man diese zuerst zerschlagen. Die Bevölkerung wurde zum Wegschauen angehalten. Auch wenn sich nicht alle daran hielten, geriet das Lager in der Bevölkerung in Vergessenheit.

Das Lager in Pulkau ist nur eines von mehr als 370 Arbeitslagern in Niederösterreich, die mittlerweile vom Bundesdenkmalamt dokumentiert sind, darunter auch jene in Melk, Gneixendorf oder bei der Glanzstofffabrik in St. Pölten. „Aber es gab x-mal mehr davon“, betont Martha Keil, Leiterin des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs in St. Pölten, die gemeinsam mit der Donauuniversität Krems gezielt nach solch bisher unbekannten Unterkünften sucht.

Für Landwirtschaft unabdingbar
Denn eine Vielzahl an Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen wurde nicht in großen Lagern, sondern bei kleineren Betrieben oder bei landwirtschaftlichen Familien eingesetzt – etwa als Ersatz für die männlichen Landwirte, die an der Front kämpfen mussten. „Die Landwirtschaft hätte ohne Zwangsarbeiter nicht stattfinden können“, schildert Keil.

Obwohl das Projekt erst heuer startete, gab es laut der Historikerin schon viele Hinweise auf ehemalige lagerähnliche Unterkünfte, die oft nur aus zwei, drei Baracken bestanden, die aber längst abgerissen wurden. Keil nennt in diesem Zusammenhang Beispiele aus Gföhl (Bezirk Krems), Hainfeld oder Traisen (beide Bezirk Lilienfeld) und betont: „Es hat damals kaum einen Ort gegeben, wo nicht Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangene eingesetzt waren.“

Die Zwangsarbeiter wurden nach einem offiziellen Antrag über die Arbeitsämter zugewiesen, die mit den NS-Behörden kooperierten und jeweils Kontingente erhielten. Rüstungsbetriebe wurden zwar bevorzugt, vor allem beim Einsatz von KZ-Häftlingen, aber auch die Landwirtschaft wurde bedient. „Der Reichsnährstand hatte ein Interesse, dass es keine Revolten gibt, weil die Leute hungern müssten, deshalb war es ganz wichtig, die Versorgung aufrechtzuerhalten.“

60.000 Kriegsgefangene
Das größte Kriegsgefangenenlager errichtete die Wehrmacht ab September 1939 in Gneixendorf bei Krems. Ende Oktober wurde dieses zum Kriegsgefangenen-Mannschaftsstammlager erklärt, kurz STALAG (von Stammlager) genannt. Insgesamt gab es Platz für etwa 19.200 Soldaten. Allerdings waren um ein Vielfaches mehr, nämlich bis zu 60.000 Kriegsgefangene, untergebracht – davon circa 4.000 Unteroffiziere der amerikanischen Luftwaffe.

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BIK/Slg. Stalag XVII B
Das Stalag XVII B Krems-Gneixendorf nach der Evakuierung der gehfähigen Kriegsgefangenen im April 1945
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Französische Kriegsgefangene beim Suppefassen im Stalag XVII B. Mai 1941

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Blick aus einem Wachturm auf die Lagerstrase im Stalag XVII B Krems-Gneixendorf

BIK/Slg. Stalag XVII B
Im amerikanischen Sektor im Stalag XVII B

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Französische Kriegsgefangene in der Baracke ihres Vertrauensmannes im Stalag XVII B

„Stalag XVII B“ war kein Vernichtungslager der Nationalsozialisten, hier war die Arbeitskraft der Gefangenen wichtig. Jeder zehnte der sowjetischen Kriegsgefangenen überlebte die Haft nicht, sie wurden auch aus ideologischen Gründen von den Nazis schlechter behandelt als andere Gefangene. Jene aus Osteuropa wurden völlig unzureichend versorgt und waren Krankheiten und Seuchen ausgesetzt.
Kriegsgefangene der Westmächte wurden hingegen weitgehend nach den Regeln des humanitären Völkerrechtes behandelt. „Das hat auf der anderen Seite für sie wieder bedeutet, dass der Lageralltag eher von Langeweile geprägt war“, erklärt Barbara Stelzl-Marx vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, „sie mussten sich organisieren, um keinen Lagerkoller zu bekommen."

Jedes Kriegsgefangenenlager hatte eine eigene Lagerbezeichnung: Der Name „Stalag XVII B“ für Gneixendorf setzte sich aus dem Lagertyp (STALAG), der römischen Ziffer des jeweiligen Wehrkreises (XVII für den Wehrkreis Wien) und einem Großbuchstaben je nach Reihenfolge der Errichtung des Lagers zusammen. Da der Buchstabe A bereits für ein Kriegsgefangenenlager in Kaisersteinbruch vergeben war, erhielt das Lager in Gneixendorf die Lagerbezeichnung STALAG XVII B.

Anerkennung für Zwangsarbeit
In anderen Lagern wurden als jüdisch kategorisierte Verschleppte, Roma und Sinti oder politische Gefangene zur Zwangsarbeit in Rüstungsbetrieben oder für Infrastruktur eingesetzt. Ohne deren Einsatz würden heute viele Gebäude, Brücken oder auch Autobahnen nicht existieren, betont Keil, die Anerkennung fordert, „dass dieses Stadt- oder Ortsbild von Zwangsarbeitern gebaut wurde. Denn viele Menschen überlebten die Strapazen der Zwangsarbeit nicht.“
Die Betroffenen waren jedoch schutz- und rechtlos. Die Unterkünfte waren laut Keil „höchst ungenügend“. Manche konnten im Haus leben, die meisten aber in Ställen oder Scheunen, die hart und im Winter kalt waren. Im Lager der Glanzstofffabrik in Viehofen (St. Pölten) wurden Frauen misshandelt und Zwangsarbeiter medizinisch so mangelhaft versorgt, „dass man schon fast von Folter reden kann.“

Magistrat St. Pölten
Amerikanisches Luftbild vom Arbeitslager in Viehofen, vermutlich am 2. April 1945 aufgenommen

In jedem Ort gab es laut Keil aber auch Menschen, die den Betroffenen geholfen und damit passiven Widerstand geleistet haben, etwa indem sie Essen zugesteckt haben. Ein Beispiel dafür sei eine Bauernfamilie in St. Pölten, wo für die Flussregulierung der Traisen Zwangsarbeiter eingesetzt wurden. Deren Kinder konnten zwar nicht zur Arbeit verpflichtet werden, hatten deshalb aber auch kein Essen. „Die Wachmannschaft war der Meinung, wer nichts arbeitet, bekommt auch kein Essen.“ Die Bauernfamilie versorgte die Kinder deshalb mit.

Ostarbeiter waren „Untermenschen“
Der Kontakt zwischen der Bevölkerung und den Zwangsarbeitern war zwar generell verboten, trotzdem wurden Zwangsarbeiter aus dem Westen und Osten unterschiedlich behandelt. „Die Ostarbeiter waren zusätzlich als ‚Untermenschen‘ stigmatisiert, das war durch Armbinden auch erkennbar“, erzählt Keil. Gerade in kleinen Dörfern sei das von den „Nazi-Bürgermeistern“ auch kontrolliert worden, „dass keine Verbrüderung stattfindet“.

Doch es gibt andere Beispiele, erinnert sich Keil an ein Gespräch mit einer Frau. Deren Familie habe mit ihren drei Zwangsarbeitern immer gemeinsam am Tisch gegessen. Damit es keine Probleme gab, wurde der Tisch schließlich in ein uneinsichtiges Eck geschoben. Und auch für die Kinder seien männliche Zwangsarbeiter oft ein wichtiger Ansprechpartner bzw. ein „Vater-Ersatz“ gewesen, weil die eigenen Väter im Krieg waren.

„Wer ist mein Großvater?“
Und nicht selten entstanden aus solchen Beziehungen auch Kinder. Das führte vor allem nach dem Krieg zu Problemen, als die Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen wieder in ihre Heimat zurückkehrten und die Frauen mit ihren Kindern bzw. Schwangere alleine zurückblieben. "Das sind oft ganz schmerzhafte Geschichten, die Frage ‚Wer ist mein Großvater‘, ‚Wie kann ich ihn oder Halbgeschwister finden‘.“

Laut Keil wurde über solche Fragen bzw. über die vielen Zwangsarbeitslager geschwiegen. Doch nun sei die „Generation der Misshandler unter der Erde“ und die Enkelgeneration will mehr über die damalige Zeit wissen: Stimmt das Narrativ von der glücklichen Familiengemeinschaft mit Zwangsarbeitern oder wurde da eine Beschönigung betrieben. „Wir als Historiker sind auch keine Richter, sondern wollen verstehen, wie es dazu gekommen ist.“

Zeit der verdichteten Verbrechen
Ein großes Tabuthema ist für Keil nach wie vor die Situation der Zwangsarbeiter am Ende des Zweiten Weltkrieges, „weil das mit Endphaseverbrechen, Morden und Gemetzel verbunden ist“. Die Zeit zwischen Mitte April bis Kriegsende am 8. Mai 1945 bezeichnet die Historikerin als „Zeit der verdichteten Verbrechen“. Schuld daran sei vor allem die Waffen-SS, „die wusste, dass der Krieg verloren war und Rache nehmen wollte“.

Laut drei Erzählungen, die Keil erhielt, wurden deshalb gerade Russen gezielt aufgespürt, aus den Betrieben und Bauernhöfen getrieben und in den Wäldern erschossen. Diese Exekutionen fanden bis kurz vor der Kapitulation statt. In einem Fall konnten zwei Männer jedoch entkommen und baten ihren früheren Arbeitgeber, ob sie sich am Dachboden verstecken können, bis die Rote Armee da war, was dieser laut Keil auch machte.

Dass diese Verbrechen bis heute zu den „größten Tabus“ gehören, liegt laut Keil daran, "dass man die Täter gerade in kleinen Orten kannte und Angst vor ihnen hatte“. Schließlich war eine Vielzahl an ehemaligen Tätern nach dem Krieg auch erfolgreich in politischen Funktionen tätig. Vereinzelt nahmen Zwangsarbeiter nach Kriegsende selbst Rache an ihren früheren Peinigern und hatten diese während der sowjetischen Besatzung auch gequält, weiß Keil.

Kontakt zum Forschungsprojekt
Das Projekt „NS-‚Volksgemeinschaft‘ und Lager im Zentralraum Niederösterreichs“ will bisher unbekanntes Wissen ans Tageslicht bringen. Informationen können an das Institut für jüdische Geschichte Österreichs gerichtet werden bzw. an Martha Keil unter 02742/77171-0 oder martha.keil@injoest.ac.at.

Weiße Flecken auf der historischen Landkarte
Doch knapp acht Jahrzehnte nach Kriegsende existieren noch immer weiße Flecken auf der historischen Landkarte, gerade rund um Zwangsarbeiter auf Bauernhöfen, Baustellen und bei Unternehmen. Das mit Jahresbeginn gestartete Forschungsprojekt unter Leitung des St. Pöltner „Instituts für jüdische Geschichte Österreichs“ will mit Hilfe der Bevölkerung Hinweise auf vergessene Lager sammeln und die Geschichten älterer Generationen aufzeichnen.

Zugleich will man damit das stetige Vergessen bremsen. In Bruck an der Leitha sind etwa ehemalige Baracken auch heute noch bewohnt, es fehlt jedoch das Wissen um die Geschichte. In St. Aegyd (Bezirk Lilienfeld) befindet sich am Standort des KZ-Außenlagers eine Siedlung mit Einfamilienhäusern. Und selbst in Gneixendorf erinnert bis auf einen Gedenkstein an der Zufahrt zum Flugplatz und Erinnerungstafeln kaum noch etwas an das Gefangenenlager – die Erinnerung verblasst.
11.03.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at

Links:
„In fast jedem Ort gab es Zwangsarbeiter“

Link zu den Themen:
Kriegsgefangenenlager Krems-Gneixendorf - Stalag XVII B
Krems-Gneixendorf STALAG XVII B
Auf der Spurensuche von "unsichtbaren Lagern" in NÖ. aus der Zeit der beiden Weltkriege
Bundesdenkmalamt arbeitet an der Erstellung eines Verzeichnisses der Zwangsarbeitslager, KZ-Außenstellen und Kriegsgefangenenlager der NS-Zeit
 

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#22
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Tausende Tode für Österreichs Freiheit
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Der Widerstand gegen die NS-Diktatur ist in Niederösterreich ohne „heroische Attentate“, dafür mit vielen kleinen Nadelstichen geführt worden. Doch für diesen Einsatz mussten viele mit dem Leben bezahlen, darunter etwa eine Waldviertler Apothekerhelferin.
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Die Apothekerhelferin Maria Sip, die in Almosen (Bezirk Zwettl) geboren worden war, vermittelte etwa Verbindungen für Mitglieder des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei (KPÖ) und stellte ihre Wohnung für Besprechungen zur Verfügung. „Das hat für die Nazis schon gereicht“, erzählt Christian Rapp, wissenschaftlicher Leiter im Haus der Geschichte Niederösterreich in St. Pölten.

Am 14.  Juli  1942 wurde Sip verhaftet und am 7.  Februar  1944 zum Tode verurteilt. In ihrem Urteil heißt es, dass „wiederholt politische Aussprachen (…) meist in der Wohnung der Angeklagten stattfanden“. Zudem wollte ein KPÖ-Funktionär im Herbst 1941 ehemals sozialdemokratisch eingestellte Ärzte für die Mitarbeit in der Organisation gewinnen. Sip „trat deswegen dann an den ehemaligen jüdischen Arzt Dr. Knopf heran“, der ihr die Anschrift von zwei Ärzten mitteilte. Am 7. April 1944 erfolgte deshalb im Landesgericht in Wien ihre Hinrichtung.


Privat

Unterschlupf war Konspiration
Obwohl Sip „nur“ ihre Wohnung zur Verfügung gestellt hatte, spricht Rapp von einer „nicht zu unterschätzenden Rolle“, gerade beim weiblichen Widerstand: „Es war das damalige Rollenverständnis, dass die Leute auch versorgt werden mussten, und wenn man solchen Leuten Unterschlupf gegeben hat oder Besprechungen abhalten konnte, war das für die Nazis Konspiration.“

Die Kommunisten waren es auch, die gerade in den ersten Jahren nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich den größten bzw. „waghalsigsten“ Widerstand ohne Rücksicht „auf Leib und Leben“ leisteten, betont Rapp und begründet das damit, dass die Partei bereits seit 1934 verboten und „schon länger gewohnt war, in der Illegalität bzw. im Untergrund zu arbeiten. Sie waren die Kämpferischsten von allen.“

Im Unterschied zu den Sozialdemokraten hatten die Kommunisten mit der Sowjetunion auch noch eine Organisation. Deswegen galten sie nach dem Überfall der Nazis auf die Sowjetunion 1941 auch als militärischer Gegner und wurden besonders radikal verfolgt. Von den einst etwa 15.000 Sympathisanten in Österreich stand die Hälfte vor Gericht, 1.200 wurden zum Tod verurteilt. „Das hat es in keiner anderen Widerstandbewegung gegeben“, so Rapp.

Nadelstiche statt „heroische Attentate“
„Heroische Attentate“, wie jenes von Stauffenberg, gab es in Niederösterreich nicht, sagt Rapp. Allerdings kam es immer wieder zu vielen kleinen Nadelstichen, „die trotzdem eine Rolle spielen“. So kam es etwa in Industriebetrieben zu Sabotageakten. Dazu zählte etwa Johann Ebner, Landesleiter der illegalen Kommunistischen Partei, der als Schweißer bei der Reichsbahn arbeitete und dort eine Widerstandszelle organisierte. Diese verbreitete Flugblätter, in denen zum Aufstand gegen das NS-Regime aufgerufen wurde.

DÖW
Johann Ebner (1898 – 1943) aus Traisen war zunächst politischer Leiter der KPÖ St. Pölten, später Landesleiter

Ende 1940 gelang es der Gestapo jedoch, einen Spitzel in die Ebner-Gruppe einzuschleusen und bereits Anfang 1941 wurden mehr als 220 Personen festgenommen. Unter ihnen auch Johann Ebner, der zusammen mit sieben weiteren Verhafteten im Juni 1942 „wegen Vorbereitung zum Hochverrat (…) in Verbindung mit Landesverrat und landesverräterischer Begünstigung des Feindes“ zum Tode verurteilt wurde. Am 26. Februar 1943 wurde Ebner im Landesgericht in Wien hingerichtet.

Wo beginnt der Widerstand?
Doch auch die Landwirtschaft hatte laut Rapp Möglichkeiten dem NS-Regime auf ihre Weise zu schaden, etwa indem eine Maschine zerstört wurde. Andere versteckten sich in Gartenhütten, um nicht zum Krieg eingezogen zu werden, verbreiteten illegale Druckwerke, wie Flugblätter und Zeitschriften, oder halfen Verfolgten wie Juden. Damit sollte das Meinungsmonopol des NS-Regimes durchbrochen werden. „Widerstand kann man nicht vergleichen“, betont Rapp.

zurerinnerung.at
Viele der Widerstandskämpfer wurden wegen ihres Kampfes gegen das NS-Regime am Wiener Landesgericht hingerichtet

Im Unterschied zu anderen besetzten Ländern hatten in Österreich die Widerstandskämpfer in einer von Denunzianten und fanatischen Regimeanhängern durchsetzten Umwelt zu wirken. Die einzelnen Gruppen waren von politischen, ideologischen, religiösen, sozialen, ethischen und patriotischen Motivationen geprägt. „Bei vielen war es ein innerer Prozess, bis sie schließlich gesagt haben: ‚Jetzt muss ich etwas tun, ich schaue nicht mehr länger zu.‘ Und manche haben dabei auch ihr Leben riskiert.“

Sonderrolle der Kirche
Eine Sonderrolle spielte die katholische Kirche, die ein „sehr ambivalentes Verhältnis zu den Nationalsozialisten“ hatte, schildert der Historiker. Auf der einen Seite wurde die Kirche bzw. Kirchenvermögen von den Nazis verfolgt und etwa 800 Geistliche landeten im Gefängnis. Andererseits wurden die Bischöfe vor dem Anschluss „fast schon genötigt oder verstärkt eingeladen, sich zum Anschluss zu bekennen“. Und die Kirche sah die Nazis auch als Partner gegen den Bolschewismus.

Doch gerade für widerständige Geistliche lag der Vorteil darin, dass sie ein großes Netzwerk hatten und es für das NS-Regime „nicht so gut erkennbar war, ob es sich bei einem Treffen etwa um Vorbereitung für das kommende Osterfest handelt oder ob die etwas anderes planen“, bringt es Rapp auf den Punkt. Zudem wurden Predigten genutzt, um subtil das Regime zu kritisieren, etwa als die Vernichtung von – laut NS-Diktion unwerten – Leben in Tötungsanstalten öffentlich angeprangert wurde.


zurerinnerung.at

Kreuz gegen Hakenkreuz
Für Schwester Maria Restituta Kafka, einer in Mödling tätigen Ordensschwester, endete ihr Engagement mit dem Tod. Sie wollte die Einschränkung des Ordenslebens nicht hinnehmen und hängte ohne Erlaubnis der Spitalsleitung Kruzifixe in den Operationssälen auf. Schließlich wurde sie wegen Vervielfältigung eines regimekritischen Liedes bei der Gestapo angezeigt. Wegen „landesverräterischer Feindbegünstigung und Vorbereitung zum Hochverrat“ wurde sie am 30. März 1943 hingerichtet.

Die in Österreich schon ab 1935/36 verbotene Glaubensgemeinschaft „Internationale Bibelforschervereinigung“ (Anm.: Zeugen Jehovas) stellte – als überzeugte Pazifisten – die Ablehnung des Wehrdiensts in den Mittelpunkt ihres Widerstands. Von den damals etwa 500 Mitgliedern kamen an die 150 um. „Für sie war der religiöse Glauben tiefer, aber einen Regimewechsel konnten sie dadurch auch nicht erwirken.“

Auch deshalb, weil es den Nationalsozialisten zwischen 1941 und 1943 gelang, mit Hilfe des Kriegsrechtes den Widerstand „nahezu mundtot machen“, erzählt Rapp. Durch die NS-Propaganda hatte man den Eindruck, dass das Regime „enorm mächtig und militärisch erfolgreich“ war. Zudem konnte die Gestapo zunehmend Spitzel in Widerstandsgruppen einschleusen und auffliegen lassen.

Neue Welle des Widerstandes
Erst ab Sommer 1944 keimte eine neue Welle des Widerstandes auf. Zum einen gelang es dem Regime nicht mehr so gut, die totale Kontrolle aufrechtzuerhalten. Zum anderen war das Ende des Krieges absehbar und es bildeten sich immer öfter auch militärische Widerstandsgruppen, etwa im Wechselgebiet. Auch das Stauffenberg-Attentat bestärkte so manche. „Da hatten viele das Gefühl, jetzt muss der Krieg schnell beendet werden“, sagt Rapp.

In dieser Phase bildete sich auch erstmals ein überparteilicher Widerstand, weiß Rapp. Bis dahin kämpfte nämlich jede Gruppe de facto für sich, „weil man sich auch zu wenig kannte, um sich zu organisieren, und kein Vertrauen hatte“. Doch 1945 war das gemeinsame Ziel, sinnlose, verlustreiche Kämpfe zu verhindern. Die größte dieser Widerstandsgruppen war die Gruppe 05, die mit der militärischen Widerstandsgruppe im Wehrkreiskommando XVII in Wien in Verbindung stand.

Stadtarchiv St. Pölten
Josef Trauttmansdorff-Weinsberg (1884 – 1945)

Gewaltfreie Übergabe St. Pöltens scheitert
Eine andere überparteiliche Gruppe war die Widerstandsgruppe Kirchl-Trauttmansdorff, die eine gewaltfreie Übergabe St. Pöltens an die sich der Stadt nähernde Rote Armee plante. Dazu wollten sie die Gestapo entwaffnen, deren Mitglieder festhalten und den Sowjets übergeben. Die erst im Frühjahr 1945 entstandene Gruppe bestand aus etwa 400 Mitgliedern. Die meisten davon waren Bauern und Arbeiter der Glanzstoff-Fabrik sowie zahlreiche Polizisten und Gutsbesitzer.

Doch kurz bevor die Sowjets die Stadt einnahmen – „etwa 30 Stunden davor“ –, wurde die Gruppe verraten. 13 führende Mitglieder wurden verhaftet, zum Tode verurteilt und am gleichen Tag erschossen. Noch am selben Tag erreichten die ersten sowjetischen Panzer Pottenbrunn (Bezirk St. Pölten), am 15. April wurde die Stadt von der Roten Armee eingenommen.

Tausende Widerstandskämpfer
Etwa 2.700 Österreicher wurden als aktive Widerstandskämpfer zum Tode verurteilt und hingerichtet, etwa 32.000 Österreicher (Widerstandskämpfer und Opfer präventiver Verfolgung) starben in Konzentrationslagern und Gefängnissen. Weitere etwa 15.000 Österreicher kamen als alliierte Soldaten, als Partisanen oder im europäischen Widerstand um. Und 100.000 Österreicher waren aus politischen Gründen inhaftiert.

zurerinnerung.at
Nationale Gedenkstätte der WiderstandskämpferInnen gegen das NS-Regime am Wiener Zentralfriedhof

Die Befreiung Österreichs vom NS-Regime erfolgte zwar ausschließlich durch die Streitkräfte der Alliierten. Doch der Widerstandskampf diente in den folgenden Jahren der politisch-moralischen Rehabilitierung Österreichs und war im Hinblick auf den 1943 in der Moskauer Deklaration von den Österreichern geforderten eigenen Beitrag zu ihrer Befreiung von großem politischem Wert.

Österreich konnte damit nach dem Zweiten Weltkrieg als unabhängiges Land wiedererstehen. Das in Widerstand, Verfolgung und Emigration gewachsene Bekenntnis zu Österreich, zur staatlichen Unabhängigkeit und nationalen Eigenständigkeit wurde zu einer der wesentlichen geistig-politischen Grundlagen der Zweiten Republik.
14:03:2022; Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at

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Tausende Tode für Österreichs Freiheit
 

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#23
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Als die Alliierten Wiener Neustadt zerbombten
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Wiener Neustadt ist während des Zweiten Weltkrieges einer der wichtigsten Rüstungsstandorte des Deutschen Reiches. Ab 1943 wurde die Stadt deshalb 29 Mal zum Ziel massiver alliierter Luftangriffe. 55.000 Bomben legten Wiener Neustadt in Schutt und Asche.
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13. August 1943: Zeitzeugen beschreiben den Tag als „schönen Augusttag“, als kurz nach Mittag plötzlich die Sirenen heulten. Manche dachten zunächst an einen Probealarm. „Man ist mehr oder weniger widerwillig in den Keller gegangen“, erzählt Kurt Gindl in einem ORF-Interview. Dann fielen die ersten Bomben. „Die Leute sind in Panik herumgelaufen, keiner hat gewusst, was er machen soll. Dann hat die Fliegerabwehr zu schießen begonnen, es war wie der Weltuntergang“, erinnert sich Maria Pitour.

Die Flugzeuge der Alliierten wurde zwar bereits am Balkan durch Radarsysteme erkannt, allerdings dachte man, dass die Geschwader – wie bereits zwei Wochen zuvor – Richtung Rumänien fliegen würden. „Als sie aber Richtung Wiener Neustadt abdrehten, konnte man nicht mehr reagieren, der Fliegeralarm kam erst wenige Minuten vor dem Angriff“, schildert Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt.

ORF/Hochmayr/Brossmann
Die erste Angriffswelle verursache in Wiener Neustadt schwere Schäden, 134 Menschen starben, 900 wurden verwundet

„Lauf, lauf um dein Leben“
Dieser erste Angriff war für die Bevölkerung ein Schock. „Man dachte dann nur: ‚Lauf, lauf um dein Leben‘“, ergänzt Pitour. 120 Tonnen Sprengstoff wurden auf die Stadt abgeworfen. Doch sicheren Schutz gab es nur in den Tiefenbunkern in der Stadt, weshalb es an diesem Tag auch viele zivile Opfer gab. Die Bilanz: 134 Tote und 900 Verwundete. Der Luftangriff durch die Alliierten traf die Bevölkerung völlig unvorbereitet.
Denn bis dahin galt die damalige Ostmark und damit auch die Region um Wiener Neustadt als Reichsluftschutzkeller. Während Gebiete im Westen und Norden des Deutschen Reiches bereits seit Ende 1942 systematisch bombardiert worden waren, lagen die Ziele in Ostösterreich außerhalb der Reichweite amerikanischer und englischer Bomber. „Man wusste, dass die alliierten Flugzeuge nicht in der Lage sind, so weit vorzustoßen“, betont Reisner.

Deshalb waren bereits in den Jahren zuvor sehr viele Rüstungsbetriebe aus dem „Altreich“ nach Österreich verlagert worden, „in der Annahme, hier sicher weiterproduzieren zu können“. Während die Produktion in Deutschland schon auf mehrere Standorte aufgeteilt worden war, kam es in Österreich – konkret rund um Wiener Neustadt – sogar noch zu einer Verdichtung. 1942 wurde hier die Hälfte des wichtigsten deutschen Jagdfliegers, die Messerschmitt, produziert.

Rüstungsstandort und Fliegerhorst
Wiener Neustadt war während des Zweiten Weltkrieges einer der wichtigsten Rüstungsstandorte des Deutschen Reiches. Hier befanden sich Flugzeugwerke, eine Fabrik für Lokomotivtender und mehrere Munitionsfabriken. Es waren dies die Wiener Neustädter Flugzeugwerke, daneben waren der Fliegerhorst und der Luftpark Wiener Neustadt für die deutsche Luftwaffe von enormer Bedeutung.

Stadtarchiv Wiener Neustadt
Die Rüstungsindustrie, vor allem die Luftwaffenproduktion, stand besonders im Visier der Alliierten

Doch diese scheinbar geglaubte Sicherheit änderte sich nach dem gescheiterten Tunesienfeldzug des Deutschen Afrikakorps 1943 schlagartig. Die alliierten Bombergeschwader bedrohten nun von ihren Basen in Tunesien und Libyen die Südflanke des Deutschen Reiches. Die erste Angriffswelle Anfang August galt den Ölförderanlagen von Ploiești (Rumänien), zwei Wochen später flog man laut Reisner ins „Herzen des Deutschen Reiches“, nach Wiener Neustadt.

Im Fadenkreuz der Alliierten
Und das war kein Zufall, denn die Stadt stand zu diesem Zeitpunkt mit 180 Zielen ganz oben auf der gemeinsamen Zielliste der Amerikaner und Briten. „Die Alliierten haben erkannt: Wenn wir jemals an Land vormarschieren wollen, müssen wir zuerst die Luftherrschaft haben. Um das zu erreichen, müssen wir zuerst die Luftwaffenproduktion zerstören“, erläutert der Militärexperte. Bis zum Ende des Krieges blieb Wiener Neustadt deshalb im Fadenkreuz der Alliierten.

In der Stadt wurde nach dem ersten Schock schnell reagiert. Die Schäden wurden sogar von einer Delegation aus dem Berliner Führerhauptquartier besichtigt. Daraufhin wurde zum einen die Fliegerabwehr von drei auf etwa 100 Geschütze ausgebaut, andererseits wurden Jagdflieger stationiert, die der Abwehr der Angriffe helfen sollten. Und tatsächlich erlitten die Alliierten bei den nächsten Angriffen ab Oktober große Verluste.
Der Schutz der Bevölkerung war jedoch überschaubar. Denn aufgrund des hohen Grundwasserspiegels in der Region konnte „man nicht wirklich Tiefenbunker anlegen“, sagt Reisner, außerdem hatte man dafür auch nicht genug Zeit. Stattdessen wurden Splitterschutzgräben und halb eingedeckte Stellungen errichtet. Doch an schönen Tagen verließ die Bevölkerung die Stadt oft präventiv, weil man Angst vor Luftangriffen hatte.
Die erste Angriffswelle
Die erste Angriffswelle dauerte von August 1943 bis Mai 1944. Ziel war es, die Flugzeugwerke, aber auch den Luftpark zu zerstören, was auch gelang. Die Deutschen mussten den Standort schließlich nahezu aufgeben. Nach der Zerschlagung der deutschen Luftrüstung rückte die Erdölindustrie in den Fokus der alliierten Planungen. Für Wiener Neustadt bedeutete dies vorerst ein Ende der großen Luftangriffe.
Besonders prekär wurde die Lage laut Reisner erst wieder ab Ende 1944, als die Alliierten begannen, verstärkt Verkehrsknotenpunkte zu bombardieren. Wiener Neustadt war damals ein wichtiger Knotenpunkt im Netz der Deutschen Reichsbahn, von wo aus Truppen Richtung Balkan bzw. Südrussland verlegt wurden. Damit rückte die Stadt auf der Zielliste der amerikanischen Bomber wieder nach oben.
Stadtarchiv Wiener Neustadt
Der Hauptplatz von Wiener Neustadt nach den vielen Bombenangriffen

Zugleich lag Wiener Neustadt auch auf der Flugroute Richtung Wien, erklärt Reisner: „Das heißt, wenn Bomberverbände in Wien wegen zu großer Bewölkung nicht abwerfen konnten, dann waren sie als Ausweichziel auf Wiener Neustadt gebrieft“. Die Folge war, dass gerade die letzten Kriegswochen noch verheerende Auswirkungen mit massivsten Zerstörungen brachten, denn der Bahnhof lag – anders als die Rüstungsbetriebe – mitten in der Stadt.

„Hilflos im Keller“
Für die Bevölkerung bedeuteten die Luftangriffe eine extreme Belastung, vor allem für jene, die in den wenigen Luftschutzkellern Zuflucht suchten, erzählt Reisner: „Dort hat man nur mitbekommen, wie die Einschläge immer näher gekommen sind. Kinder haben geschrien, es gab massive Erschütterungen und die Bevölkerung ist hilflos im Keller gesessen.“ Bei vielen Menschen verursachten die Luftangriffe, die sich über Stunden ziehen konnten, schwere traumatische Folgen.

Die Luftschutzkeller konnten den Bombenangriffen in der Regel standhalten, doch ein Treffer war meist mit einer Verschüttung verbunden. Eigene Einheiten des technischen Dienstes der Luftschutzpolizei mussten dann so schnell wie möglich die Menschen befreien. „Und wir wissen, dass das nicht immer passiert ist“, ergänzt Reisner und schildert einen Fall am Hauptplatz, „wo die Menschen erstickt sind, weil man sie nicht mehr rechtzeitig herausbekommen hat“.

Kein Terrorbombardement
Trotz der großen Zerstörungen ging es den Amerikanern laut Reisner nie darum, die Stadt völlig zu zerstören: „Die Briten haben gesagt, die Deutschen bombardieren unsere Städte, deshalb greifen wir ihre an, egal wo die Bomben runterkommen, Hauptsache sie zerstören etwas.“ Deshalb wurden von der Royal Air Force auch Brandbomben eingesetzt. Das gab es in Österreich nicht, die Amerikaner wollten militärische Einrichtungen treffen, weshalb die Angriffe auch untertags stattfanden.

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ORF/Hochmayr/Brossmann
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Ein Problem stellten aber die damals nur begrenzten Möglichkeiten für Präzisionsangriffe dar. Denn nur ein Drittel der Bomben trafen auch das gewünschte Ziel, zwei Drittel landeten im Nahbereich, und das bedeutete meist Wohnbereiche. „Wenn ein Bombenschütze nur um eine Sekunde zu spät den Abzugshebel betätigte oder der Anflug wegen des Beschusses durch die Flak gestört wurde, kamen die Bomben gleich um ein paar hundert Meter versetzt herunter. Das hat zu massiven Verlusten in der Zivilbevölkerung geführt.“

Für die Menschen in Wiener Neustadt entstand deshalb laut Reisner oft der Eindruck, dass man einem Terrorbombardement ausgesetzt war. „Tatsächlich war das aber nicht so. Die Alliierten hatten keine anderen Möglichkeiten, als das Flugzeugwerk zu zerstören. Sie mussten alles daran setzen, was aber dazu geführt hat, dass die Stadt fast zur Gänze zerstört worden ist.“

Das Ende der Luftangriffe
Der allerletzte Luftangriff amerikanischer Tiefflieger am 2. April 1945 kostete noch 27 deutschen Soldaten das Leben, als eine Bombe mitten in einer Lkw-Kolonne vor der Theresianischen Militärakademie einschlug. Im Laufe des Tages eroberte die Rote Armee die Stadt. Dabei trafen die Soldaten nur noch wenige Zivilisten an, denn viele Einwohner waren vor den Luftangriffen der Amerikaner und den herannahenden Bodentruppen der Sowjets geflohen.

Im Zuge der 29 Luftangriffe wurden etwa 1.400 Menschen, darunter 600 Zivilisten, getötet. Knapp 400 amerikanische und 90 deutsche Piloten fanden über der Stadt den Tod. Tausende Zivilisten wurden zum Teil schwer verletzt, 10.000 Bewohner waren obdachlos. Bis März 1945 wurden an die 55.000 Bomben über Wiener Neustadt abgeworfen.

Anno/Österreichische Volksstimme

Wiener Neustadt in Schutt und Asche
Zu Kriegsende waren fast zwei Drittel der Häuser komplett oder schwer beschädigt. Nur 18 von 4.178 Gebäuden wiesen damals keinerlei Schäden auf. Wiener Neustadt war damit die am meisten zerstörte Stadt Österreichs und gehört neben Tokio, Hiroshima, Nagasaki, Dresden, Düren, Paderborn und Coventry zu jenen Städten, welche die größten Zerstörungen im Luftkrieg während des Zweiten Weltkrieges hinnehmen mussten.

Aufgrund der Zerstörung wurde zunächst überlegt, „dass man Teile der Stadt aufgibt und sie am heutigen Flugfeld West wieder aufbaut“, erzählt Reisner. Die Pläne wurden aber verworfen, da innerhalb der Stadt nach wie vor Unterbauanlagen wie der Kanal vorhanden waren. Somit begann der Wiederaufbau. Doch zuerst mussten zehntausende Tonnen Schutt aus der Stadt gebracht werden.
Mühsamer Wiederaufbau
Die Zivilbevölkerung kehrte nach Kriegsende in die zerstörte Stadt zurück. Bis September 1946 gelang es ihr, etwa ein Drittel der geschätzten 660.000 Kubikmeter Schutt aus der Stadt zu räumen. Die restlichen Aufräumarbeiten vergab der Gemeinderat ab 1947 an Wiener Neustädter Baufirmen, aber auch die Bevölkerung half weiter in Eigenregie mit, die Trümmer zu beseitigen – zunächst vor allem Frauen, weil sich viele Männer in Kriegsgefangenschaft befanden.

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Stadtarchiv Wiener Neustadt
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Auch ehemalige Nationalsozialisten mussten beim Wiederaufbau mithelfen und waren dafür in einem eigenen Lager untergebracht, erzählt der damalige Widerstandskämpfer Othmar Raus. Sogar Schüler wurden eingeteilt, erhielten dafür aber Lebensmittelmarken. „Das war kein einfaches Geröll, da ist man auf Ziegel oder Kalk gestoßen, Dachrinnenreste haben dich behindert“, erinnert sich ein Zeitzeuge. Die Ziegel wurden vorsichtig abgeklopft und wiederverwendet.

Der Wiederaufbau dauerte mindestens zehn Jahre, die letzten Überreste der Ruinen waren aber bis in die 1960er- und 1970er-Jahre zu sehen. Und noch heute stößt man laut Reisner auf einzelne Erinnerungen, die auf Bombenangriffe schließen lassen, etwa in Parkanlagen, wo man in Bodensenkungen ehemalige Bombentrichter erkennen kann. An Häusern, wo die Fassade unverändert blieb, sieht man noch den Einschlag von Bombensplittern.
18.03.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at

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Links Forum:
Wiener Neustädter Flugzeugwerke nach Bombenangriffen 1943
Wiener Neustädter Flugzeugwerke (WNF)
Rüstungszentrum Wiener Neustadt
Flugplatz Wiener Neustadt West - Fliegerhorst
Rax-Werk Wiener Neustadt


Literaturhinweis:


Markus Reisner: Bomben auf Wiener Neustadt. Kral Verlag, 1.264 Seiten, 29,90 Euro
Als die Alliierten Wiener Neustadt zerbombten
 
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#24
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Zweiter Weltkrieg: „Sicheres Land“ für Kinder

Während des Zweiten Weltkriegs sollten Kinder eine Auszeit von Krieg, Bombenalarm und Hunger bekommen. Innerhalb des Deutschen Reiches wurden mehr als zwei Millionen Kinder Wochen oder gar Monate auf das „sichere Land“, etwa ins Waldviertel, gebracht.
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Es war „wie eine andere Welt“, in die die damals sechsjährige Marianne Sühle 1941 kam: Von der deutschen Großstadt Hannover ins tiefste Waldviertel nach Langschlag (Bezirk Zwettl). Im Ort lebten damals fast nur Frauen, die alle dunkel und mit einem Kopftuch gekleidet waren. Die Männer waren im Krieg. „Und sprachlich hat man sich auch nicht wirklich verstanden“, erzählt Historiker Markus Holzweber, dessen Großmutter Marianne Sühle bei sich aufgenommen hatte.

Sie war eines der ersten Kinder, die inmitten des Zweiten Weltkriegs im Deutschen Reich von einem Teil des Landes in einen anderen gebracht wurden. Ihre Heimat Hannover war ab Anfang Februar 1941 mit den ersten schweren Luftangriffen konfrontiert – mit mehr als 100 Toten. Mit Hilfe der erweiterten Kinderlandverschickung wollte man die „Zukunft des Reiches“ – die Kinder – schützen.

Schrecken des Krieges vergessen
Auf Anordnung des „Führers“ sollte sich die Jugend in ruhigen Gegenden erholen und so die Schrecken des Krieges vergessen können. Das Wort „Evakuierung“ wurde möglichst vermieden, um die prekär gewordene Lage des Reiches zu verschweigen. Deshalb griff man auf den bereits bekannten Begriff Kinderlandverschickung (KLV) zurück, der schon nach dem Ersten Weltkrieg geprägt wurde.

Getragen wurden diese Maßnahme von der NSDAP und ihren Untergliederungen, etwa der Hitlerjugend (HJ) für Kinder von zehn bis 14 Jahren und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) für Kinder von sechs bis zehn Jahren. Das Ziel in den KLV-Lagern war – neben dem Schutz – auch die „Indoktrination im nationalsozialistischen Sinn“, betont Holzweber, der die Unterbringung in Niederösterreich auch wissenschaftlich aufgearbeitet hat.
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Die Bescheinigung eines Heimbesitzers für die Aufnahme von 45 Kindern

Die Dauer der Verschickung wurde zuerst nicht explizit angesprochen, um die Eltern der Kinder nicht zu beunruhigen. Viele wollten ihr Kind nicht aus „der Hand geben“, aber die Werbung der Nationalsozialisten, die Lebensmittelknappheit und die Bedrohung aus der Luft ließen ihnen oftmals keine andere Wahl. Zunächst war jedoch von sechs oder acht Wochen die Rede, 1941 wurde die Dauer auf sechs bis neun Monate festgelegt.

„Spitze aller Ostmarkgaue“
Der Gau Niederdonau galt als sicher, die Aufnahmekapazität wurde mit 10.000 Personen festgelegt. Gauleiter Hugo Jury sprach im Juli 1941 davon, dass Niederdonau „mit seinen mehr als 200 Lagern und über 20.000 Verschickungen an die Spitze aller Ostmarkgaue marschierte.“ In Frage kamen dafür vor allem bekannte Fremdenverkehrsregionen wie Kamptal, Semmering, Prein an der Rax (beide Bezirk Neunkirchen) oder Hollenstein (Bezirk Amstetten). „Überall dort, wo man glaubte, dass Kinder gut verpflegt werden können“, sagt der Historiker.


Sammlung Markus Holzweber
Der Gau Niederdonau galt lange Zeit als sichere Region

Die Wirte profitierten davon, waren die Unterkünfte schließlich trotz Krieges nun ganzjährig ausgelastet. Für die Verpflegung der Kinder erhielten die Gastfamilien – zusätzlich zu den dem Kind zustehenden Lebensmittelmarken – einen Unkostenbeitrag in der Höhe von zwei Reichsmark pro Kind und Tag. Etwa 4.000 Kinder aus Hannover fanden im Reichsgau Niederdonau eine Bleibe.

20 stramme Burschen und Mädchen
Für Marianne Sühle arrangierte ihre Mutter die nötigen Vorbereitungen. Eine Erholungsreise wurde für notwendig erachtet, da das Kind zart sei und eine Luftveränderung brauchen könne. Mitte März kamen schließlich „zwanzig stramme deutsche Buben und Mädel aus dem luftgefährdeten Hannover" am Bahnhof an und waren "bei uns zu Gaste“, schrieb damals etwa die Zeitschrift „Donauwacht“.


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Der Unterricht wurde auch in der Ferne fortgesetzt

Der Schulbesuch war für die Gruppe der Sechs- bis Zehnjährigen auch in der Fremde erwünscht, die Kinder sollten „tunlichst am Schulunterricht der Schule ihres Unterbringungsortes teilnehmen.“ Doch für Sühle war er nur von kurzer Dauer, denn das Kind aus Hannover verstand kein Wort. „Alle anderen haben geredet, ich habe niemanden verstanden“, erzählte sie später gegenüber Holzweber. Die Pflegemutter nahm sie deshalb nach drei Tagen wieder aus der Schule heraus.
Ungewohnte Sitten und Gebräuche
Doch nicht nur der ungewohnte Dialekt war für Sühle unverständlich, auch lernte sie sehr rasch den Unterschied zwischen „städtischer“ und „ländlicher“ Bekleidungsordnung kennen. Die Schwiegermutter ihrer neuen Pflegemutter ließ nämlich sofort den Saum des Rocks hinunter, sodass er etwa zehn Zentimeter länger wurde und die Knie bedeckte. Die Begründung: Das sieht schöner aus.

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Morgenappell in Maria Taferl (Bezirk Melk)
Sammlung Markus Holzweber
Unterricht im Freien war für die Kinder etwas Besonderes

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Ein KLV-Lager im Gasthof Trauthof in St. Corona am Wechsel (Bezirk Neunkirchen)

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In den Lagern wurde oft auch gemeinsam musiziert

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Eine Schulklasse aus Oberhausen (Deutschland) war in Niederösterreich zu Gast

Der Tagesablauf gestaltete sich wenig abwechslungsreich. Bei der tagtäglichen Arbeit begleitete Sühle die Pflegemutter im Haushalt, Garten, Stall und Feld. Und mit der Zeit war sie „zu Hause in diesem einfachen kleinen Leben“. Vom Krieg bekam das Mädchen in Langschlag nichts mit. „Wir hatten ausreichend zu essen, man konnte mit der Bahn in den nächsten Ort fahren. Man konnte in der Nacht durchschlafen, es war ein Leben wie im Frieden.“

Bombenangriffe erreichen Wien
Ab Oktober 1943 – als die Bombenangriffe auch Wien und Niederdonau erreichten – wurde auch die Verschickung in geschlossenen Schulverbänden angeordnet. Ab Anfang 1944 betraf das auch die Wiener Schulen. Daraufhin wurden ganze Schulklassen inklusive der Lehrer verlegt, so etwa das Gymnasium in der Rahlgasse nach Prein an der Rax. Es dürften etwa 165 solcher KLV-Lager mit Wiener Kindern existiert haben.

Die Tagesstruktur war dort genau geplant. Am Vormittag fand der Unterricht statt, und auch am Nachmittag gab es einen fixen Zeitplan mit Lerneinheiten, Jause oder einer Putz- und Flickstunde. Die Zeit, die die Schülerinnen des Wiener Mädchengymnasiums Rahlgasse dann in Prein an der Rax verbrachten, war geprägt von „Kollegialität, Angst um die Eltern, die den Bombenangriffen ausgesetzt waren“, Alltag, aber eben auch Indoktrination, schildert Holzweber, der auch die Redaktion der Zeitschrift „Das Waldviertel“ leitet.


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Ein Tagesplan aus dem Lager in Prein

Ein Abenteuer im Krieg
Doch die meisten beschrieben diese Zeit im Nachhinein als Abenteuer und „eine schöne Zeit“. Immerhin waren die Kinder viel in der Natur, auch der Unterricht fand oft draußen statt. „Gerade für Stadtkinder war das etwas Besonderes und es gab ein Gemeinschaftsgefühl, das sie sonst nicht hatten“, ergänzt der Historiker. Zudem gab es immer wieder Ausflüge etwa zum Skifahren, mit dem KLV-Dampfer auf der Donau oder nach Wien.

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Der KLV-Dampfer auf der Donau

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Ein Ausflug zum Skifahren

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Luftschutzübung in Krems

Auch konnten die Schüler von Prein etwa einmal pro Woche nach Wien zu ihren Eltern fahren. In Laa an der Thaya (Bezirk Mistelbach) und Waidhofen an der Ybbs gab es etwa Speziallager, die einen musischen Schwerpunkt hatten. Die NS-Indoktrination war je nach Lagerleitung strenger oder laxer, erzählt Holzwerber. Zudem waren sie in den Lagern bis zum Schluss „ganz gut versorgt“. Am Ostersonntag 1945 soll es sogar noch Schweinsbraten gegeben haben, „worauf sich alle gefreut haben.“


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„Elternbrief“ aus den Lagern
Nachrichten über das Wohlergehen der Kinder erhielten die Eltern in erster Linie aus den Regionalzeitungen. Ein eigener „Elternbrief“ aus den KLV-Lagern eines Reichsgaues informierte die Eltern über das dortige Geschehen. Die positive Berichterstattung über das sorglose Leben in den Lagern diente dazu, den Eltern zu versichern, dass es ihren Kindern gut gehe.

In den Lagen waren die Kinder vor dem Krieg geschützt – zumindest bis kurz vor Kriegsende. Denn in den letzten Kriegswochen, vor allem nach Ostern, kam für die Kinder im Industrieviertel die Frontlinie immer näher. Daraufhin lösten sich die Lager auf. Weil der Bahnverkehr nicht mehr reibungslos lief, organisierten Wiener Eltern für ihre Kinder, die am Semmering untergebracht waren, etwa einen Zugtransport.

Kinder spazierten durch Frontlinie
Doch dabei spazierten die Kinder unfreiwillig direkt durch die Frontlinie zwischen den Deutschen und den Russen, wie Markus Reisner von der Militärakademie Wiener Neustadt erzählt. Zunächst hörten die Soldaten Kindergesang, die Gefechte stoppten für kurze Zeit, „und plötzlich sehen sie wie eine Kinderschar die Bahnlinie entlang bei ihnen Richtung Stadt vorbeimarschiert.“ Nachdem die Kinder weg waren, wurden die Kämpfe fortgesetzt.



Die Kinder aus Prein flohen unter der Obhut ihrer Lehrerinnen hingegen auf abenteuerliche Weise nach Kaprun (Tirol). Zunächst liefen sie den Russen entgegen, danach ging es über die Steiermark Richtung Westen. „Und dort haben sie das Kriegsende erlebt“, schildert Holzweber. Doch bis sie zurück nach Wien konnten, dauerte es noch bis in den Herbst. „Teilweise wussten die Eltern gar nicht, wo ihre Kinder waren.“

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Als die Front näherkam, wurden die Lager teilweise aufgelöst. Unter der Obhut der Lehrer flüchteten viele Richtung Westen.

Erst mit den ersten Zügen, die über die Zonengrenzen fuhren, konnten die Kinder zurück. „Manche haben erzählt, dass sie später heimgekommen sind als der Vater aus der Kriegsgefangenschaft.“ Doch im Unterschied zu den Jugendlichen in Wien waren die Kinder „relativ gut ernährt“, teilweise wurden sie in Wien dafür als „ausgefressener Fratz“ beschimpft.

Schweiz, Schweden, Norwegen usw. statt Niederdonau
Als nach Ende des Zweiten Weltkriegs neuerlich die Versorgung in Wien nahezu zusammenbrach, liefen insbesondere ab 1946 erneut Kinderverschickungen an. Zum Teil knüpften die Aktionen auf Organisationen und Persönlichkeiten an, die bereits nach dem Ersten Weltkrieg in der Kinderhilfe engagiert waren. Die Caritas organisierte von 1947 bis 1958 37.000 Verschickungen von Kindern im Alter bis zu zehn Jahren ins Ausland.

Die hungernden Kinder fanden in der Schweiz, Dänemark, Schweden, Norwegen und Belgien Unterkunft. Manchmal war es dieselbe Familie, die nach dem Ersten Weltkrieg bereits die Eltern der jetzigen Pflegekinder aufgenommen hatten. Ab 1949 kam es auch zu Kinderverschickungen in die Rechtsdiktaturen in Spanien und Portugal, was von der österreichischen Regierung toleriert, von den jeweiligen Regimen propagandistisch ausgeschlachtet wurde.

Ungewohntes Nazi-Bild
Trotz der humanitären Hilfe für die Kinder wurde das Thema Kinderlandverschickung in Österreich lange Zeit kaum beachtet bzw. wissenschaftlich erforscht. Laut Holzweber war es schwierig diese Maßnahme zu bewerten: „Normalerweise hat man vom Nationalsozialismus ein klares Bild, das böse ist, und da gab es nun eine Maßnahme im Krieg zur Rettung der Kinder, die positiv war.“

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Die Briefe an die Eltern und Bekannten wurden von den Kindern teilweise kreativ gestaltet

Gleichzeitig hatten eben viele Kinder positive Eindrücke und Erinnerungen an diese Zeit. Für die Jugendlichen war es oft ein Abenteuer und „ein Leben, wie sie es sonst nie erlebt hätten.“ Viele davon besuchten ihre Lagerorte deshalb auch nach dem Krieg immer wieder und hielten auch zu ihren ehemaligen Pflegeeltern Kontakt.

Mit etwas Verspätung war das auch bei Marianne Sühle und ihrer Pflegemutter Leopoldine Mayrhofer der Fall. Nach dem schmerzhaften Abschied im Oktober 1941 riss der Kontakt ab, doch 30 Jahre später stand Sühle plötzlich mit ihrem Mann in Langschlag, erzählt Holzweber. Es folgten einige Besuche und eine langjährige Freundschaft.

Gegenseitiger Halt
Schließlich hatten sich die beiden während des Krieges gegenseitig geholfen bzw. gestützt. Als die Pflegemutter eines Tages sagte, „jetzt haben wir nur mehr uns beide“, wusste Sühle, dass der Pflegevater nun auch in die Wehrmacht eingezogen wurde. „Die Oma wollte sie dann auch nicht mehr hergeben und hat die Rückreise immer wieder verzögert“, schildert Enkel Holzweber.

Mit Jahrzehnten des Abstands beurteilte Marianne Sühle diese Erlebnisse als Bereicherung. Die Verschickung und die damit verbundene Trennung von den Eltern sei zwar eine schmerzvolle Erfahrung gewesen. Aber gerade das gehörte zum Krieg: „Die wiederholte Trennung von nahestehenden Personen wurde damals auch für Kinder schon zur Selbstverständlichkeit.“ Bei einer Kindheit im Krieg sei Anpassung immer und überall notwendig gewesen.
21.03.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at

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Zweiter Weltkrieg: „Sicheres Land“ für Kinder
 

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#25
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Das wahllose Massaker der Nazis im Zuchthaus

Archiv Robert Streibel
Gedenken mit 386 weißen Kreuzen im Jahr 1995

Als die „Rote Armee“ Ende März 1945 die Grenze überschritt, zeichnete sich das Ende des NS-Regimes ab. SS- und NSDAP-Mitglieder reagierten mit Massenerschießungen. Das schlimmste Verbrechen der „Ostmark“ ereignete sich im Zuchthaus Stein.
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6. April 1945 – an diesem Tag herrschte eine ungewohnt „fröhliche, gelöste Stimmung“ unter den Gefangenen im Zuchthaus Stein, schilderte später einmal einer der Insassen, Gerasimos Garnelis. Denn die Häftlinge, darunter viele Griechen, sollten entlassen werden. Von der Früh weg wurden sie deshalb mit Privatkleidung ausgestattet. Das Mittagessen wurde extra vorverlegt.

Im Hof kam es bei der Ausgabe der Kleidersäcke „zu einer gewissen Unruhe“, erzählt Historiker Robert Streibel, da viele ihren Kleidersack nicht vorfanden und Kleidungsstücke nahmen, die ihnen nicht gehörten. „Viele Häftlinge sprachen gar nicht Deutsch.“ Deshalb ließ der Verwaltungsinspektor Gewehre der Torwache an einige politische Häftlinge ausgeben, die für Ordnung und Disziplin sorgen sollten.

Größtes Gefängnis der „Ostmark“
Die damals als „Zuchthaus“ bezeichnete Justizanstalt Stein war während des NS-Regimes das größte Gefängnis der „Ostmark“. Kurz vor Kriegsende waren dort 1.800 bis 2.000 Menschen inhaftiert. Ein Großteil der Gefangenen bestand aus Kriminellen, der Rest aus Regimegegnern und anderen politisch Missliebigen. Für die Inhaftierung genügte oft eine regimekritische Äußerung. Die meisten Häftlinge stammten aus Österreich, Tschechien, Kroatien und Griechenland.

Archiv Robert Streibel
Häftlinge im Zuchthaus Stein in den 1940er Jahren

Weil die Rote Armee immer näher kam, wurde im Februar 1945 in der Justizbehörde in Wien ein Schreiben an die Leiter der NS-Strafanstalten verschickt, mit der vagen Aufforderung, „bei Feindannäherung gewöhnliche“ Kriminelle zu entlassen und politische Häftlinge aus dem Frontbereich abzutransportieren. Sollte ein Abtransport nicht möglich sein, wären politische Häftlinge zu töten.

Durch die Bombardierung des Bahnhofs Krems Anfang 1945 verschärfte sich auch in der Justizanstalt die Lebensmittelversorgung. Der Direktor gab seinem Mitarbeiter deshalb am 5. April die Weisung, möglichst viele Häftlinge zu entlassen. Vom Justizministerium kam die Ermächtigung, „nicht asoziale Häftlinge“ zu entlassen, soweit es sich nicht um „schwerere Fälle politischer oder krimineller Art“ handle. Die übrigen Häftlinge sollten nach München transportiert werden.
„Revolte“ im Zuchthaus
Der Anstaltsleiter beschloss angesichts dieser schriftlichen Ermächtigung, bei der Entlassung großzügig vorzugehen, „dass alle freigelassen werden sollen“, ergänzt Streibel. Doch damit waren nicht alle Aufseher einverstanden. Ein Vollzugsbediensteter rief die Kreisleitung der NSDAP in Krems an und teilte mit, dass in der Strafanstalt eine „Revolte“ ausgebrochen sei. Gegen 11.30 Uhr rückten Wehrmacht und SS-Leute an. Viele Häftlinge verzichteten auf ihren Kleidersack und liefen in Häftlingskleidung aus dem Zuchthaus.

Archiv Robert Streibel
Leo Pilz (l.) war einer der Haupttäter des Massakers am 6. April 1945

Panische Häftlinge versuchten darauf, in die Innenhöfe zu flüchten, und verriegelten die Tore. Doch die Nazis sprengten es frei und begannen zu schießen. „Die Einheiten haben teilweise von den angrenzenden Beamtenwohnungen, von denen man in den Hof gesehen hat, mit einem wahl- und ziellosen Massaker begonnen und auf alles geschossen, was im Hof war“, betont Streibel. Die Erschießung der wehrlosen Häftlinge zog sich über den ganzen Nachmittag.

Brutale Suche nach Geflohenen
Zugleich begannen SS-Einheiten, die Gebäudetrakte zu durchsuchen, und töteten dort versteckte Häftlinge. Selbst aus dem Krankenrevier wurden Verwundete herausgezerrt und im Freien massakriert. Verschont blieben lediglich jene Gefangene, die von couragierten Wärtern im letzten Moment wieder in die Zellen zurückgebracht und eingesperrt wurden, um den Eindruck zu vermitteln, die Insassen wären gar nicht zur Freilassung vorgesehen gewesen.

Der stellvertretende Anstaltsleiter hielt dabei das seinen Vorgesetzten entlastende Schreiben der NS-Justizverwaltung zum Umgang mit den Häftlingen bewusst zurück. Noch am gleichen Tag wurden der Anstaltsleiter sowie drei Justizbeamte ohne Verfahren hingerichtet; ein Verwaltungssekretär wurde angeblich versehentlich erschossen. Allein an diesem Nachmittag starben in der Strafanstalt 229 Häftlinge, die einige Tage später in Massengräbern am Gefängnisgelände verscharrt wurden.

„Kremser Hasenjagd“
Doch damit war das Morden nicht zu Ende. Denn außerhalb der Strafanstalt suchten Einheiten von SS und SA – mit Unterstützung der lokalen Bevölkerung – im Stadtgebiet von Krems nach Freigelassenen, um ihre „Hasenjagd“ – in Anlehnung an die „Mühlviertler Hasenjagd“, bei der Anfang Februar 1945 fast 500 aus dem Konzentrationslager Mauthausen geflüchtete Häftlinge ermordet wurden – schließlich auf Paudorf, Hörfarth und Rottersdorf bei Statzendorf, Wolfenreith im Dunkelsteiner Wald, Theiß und Hadersdorf auszuweiten.

Viele Häftlinge trugen noch Häftlingskleider und wähnten sich sicher, da sie von der Gefängnisleitung entlassen worden waren. Doch die Gefangenen, die von der Waffen-SS auf den Straßen entdeckt oder ihr vom Volkssturm übergeben worden waren, wurden sofort erschossen. In der Nähe des Stiftes Göttweig und in Hörfarth, einer Außenstelle Steins, wurden etwa mehr als 50 Häftlinge getötet.

Festnahme statt Hilfe
In Hadersdorf wurden nur einen Tag später 61 mehrheitlich politische Häftlinge des Zuchthauses Stein an der Friedhofsmauer in Hadersdorf erschossen. Die Opfer wollten am Vortag den dortigen NS-Ortsbauernführer nach dem Weg nach Wien fragen, wurden daraufhin festgenommen und im Gemeindekotter eingesperrt. Vor der Liquidierung mussten die Gefangenen mit Spaten und Schaufel selbst ihr Massengrab ausheben.

Archiv Robert Streibel
Die Exhumierung der Häftlinge nach dem Massaker in Stein

Am 8. April ging die Tortur weiter: Die in Stein verbliebenen etwa 800 Häftlinge – vor allem jene, die während des Massakers auf der Krankenstation oder in ihren Zellen waren – wurden mit einem Frachtschiff – „wie Vieh zusammengepfercht“ – nach Passau und von dort in Strafanstalten gebracht. Zugleich kamen in den folgenden Tagen 46 zum Tode verurteilte Häftlinge aus Wien im Zuchthaus Stein unter, wo sie am 15. April ebenfalls erschossen wurden.

Wie viele Opfer es damals gab, ist bis heute unklar. Auf einem Gedenkstein auf dem Steiner Friedhof findet sich die Zahl 386. Andere Schätzungen gehen von 550 bis 650 Toten aus. Die Leichen im Massengrab in Hadersdorf wurden 1946 exhumiert und am Zentralfriedhof in Wien bestattet. „Bis heute gibt es aber noch viele Massengräber, die nie geborgen wurden“, schildert Streibel, „von denen es noch Überreste gibt“.

„Toten in die Hand gebissen“
Nur wenige Häftlinge wurden von Bewohnern versteckt oder auf andere Weise unterstützt, sodass sie überlebten. Einer von ihnen war der Grieche Gerasimos Garnelis, der nach dem Massaker als Totgeglaubter schwer verletzt am Leichenhaufen landete. Gegenüber Streibel schilderte Garnelis in einem Interview, dass er „in die Hand eines Toten gebissen hat, weil seine Schmerzen so groß waren.“

Doch Garnelis überlebte diese unvorstellbare Geschichte. Gemeinsam mit etwa einem Dutzend weiterer Häftlinge, die in dem Massengrab gelandet waren, konnte sich der Grieche bis zum Kriegsende in einer Krankenabteilung bzw. im Keller des Zuchthauses verstecken. „Wie und wo genau ist leider nicht belegt“, sagt Streibel, „sie sind von Aufsehern aber mit Lebensmitteln versorgt worden“.

„Endphase“ bricht Schweigen
Nur fünf Tage vor der endgültigen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht – in der Nacht von 2. auf 3. Mai – ermordeten SS-Soldaten an drei Orten in Hofamt Priel und einem Tatort in Persenbeug 228 Kinder, Frauen und ältere Männer aus Ungarn. Sie stellten die Gefangenen vor Gräben auf, erschossen sie und versuchten dann die Leichen zu verbrennen, alle Spuren des Verbrechens zu beseitigen.

Weil es in dieser Nacht stark regnete, ging dieser Teil des Plans nicht auf. Einheimische vergruben die Leichen in den nächsten Tagen in einem Acker, aus Angst vor der möglichen Rache sowjetischer Soldaten. Nur neun Personen überlebten. Das Massaker – eines der größten Verbrechen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs – wurde über Jahrzehnte nicht aufgeklärt, bis es zwei einheimische Brüder 2022 im Film „Endphase“ aufarbeiteten.

In den 1960er Jahren wurden die Überreste der Toten auf den jüdischen Friedhof nach St. Pölten gebracht. Dort gibt es seit 2015 nach langen Recherchen des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs auch einen Grabstein mit allen Namen. In Hofamt Priel zeugt der Gedenkstein heute nur noch von einem Tatort, an den Stellen der übrigen Schauplätze sowie auf dem Acker, in dem die Opfer zuvor begraben waren, stehen Einfamilienhäuser.

Zeit der verdichteten Verbrechen
Neben den großen Massakern kam es in der Endphase des Zweiten Weltkriegs auch zu Erschießungen von Zwangsarbeitern. Die Zeit zwischen Mitte April bis Kriegsende am 8. Mai 1945 bezeichnet die Leiterin des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs in St. Pölten Martha Keil als „Zeit der verdichteten Verbrechen“. Schuld daran sei vor allem die Waffen-SS, „die wusste, dass der Krieg verloren war, und Rache nehmen wollte“.

Laut drei Erzählungen, die Keil erhielt, wurden deshalb gerade Russen gezielt aufgespürt, aus den Betrieben und Bauernhöfen getrieben und in den Wäldern erschossen. Diese Exekutionen fanden bis kurz vor der Kapitulation statt. In einem Fall konnten zwei Männer jedoch entkommen und baten ihren früheren Arbeitgeber, ob er sie am Dachboden verstecken könne, bis die Rote Armee komme, was dieser laut Keil auch machte. Weniger Glück hatten jene, die auf Todesmärschen Richtung Mauthausen getrieben wurden, etwa von der Slowakei über Hainburg (Bezirk Bruck an der Leitha).

Dass diese Verbrechen bis heute zu den „größten Tabus“ gehören, liegt laut Keil daran, "dass man die Täter gerade in kleinen Orten kannte und Angst vor ihnen hatte“. Schließlich war eine Vielzahl an ehemaligen Tätern nach dem Krieg auch erfolgreich in politischen Funktionen tätig. Ganz ähnlich sieht das Streibel: „Ein Teil von denen, die beteiligt waren, haben weiter in der Stadt gewohnt.“

Fünf Todesurteile
Im Fall des Steiner Massakers wurden ab Herbst 1945 14 Hauptverantwortliche vor dem Volksgericht Wien angeklagt, fünf davon – der Kremser Volkssturmkommandant Leo Pilz sowie vier nationalsozialistische Beamte des Zuchthauses Stein – Alois Baumgartner, Anton Pomassl, Franz Heinisch und Eduard Ambrosch – zum Tode verurteilt bzw. hingerichtet. Das Urteil enthielt eine ausführliche Schilderung des Tathergangs und stellte die wichtigste historische Quelle für die Ereignisse des 6. April 1945 dar.

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Volksgerichtsverhandlung der wegen des Massakers in Stein angeklagten Täter im Landesgericht Wien

Im Urteil gegen Leo Pilz hieß es etwa: „[…] bedeckten viele zerfetzte Leichen den Hof und was Lebenszeichen von sich gab, wurde erbarmungslos niedergeschossen. […] Aus allen Schlupfwinkeln wurden sie [die Häftlinge] hervorgezerrt und sofort niedergemacht, oder zu Gruppen […] rückwärts in den sogenannten Wäschereihof gebracht und dort niedergemäht.“ Doch viele Mittäter „wurden nie zur Verantwortung gezogen“, betont Streibel, „viele haben unbehelligt weitergelebt“.

Verblasste Erinnerung
Doch zumindest die Erinnerung wurde in den ersten Jahren nach dem Krieg, während der russischen Besatzung, hochgehalten. Es gab offizielle Gedenk-Veranstaltungen, griechische Häftlinge enthüllten sogar ein eigenes Denkmal, auf dem stand: „Hier wurden von der SS ermordet.“ „So klare Worte hat man später nie wieder gefunden, sondern immer umschrieben“, sagt der Historiker.

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Gedenkfeier in den 1950er Jahren in Stein

Doch mit dem Staatsvertrag im Jahr 1955 bzw. dem Abzug der Russen begann „das Vergessen", wie Streibel bedauert, der 1995 eine andere Form des Gedenkens“ initiierte, indem er mit einem Künstler in der ganzen Stadt weiße Kreuze aufstellte: 386 für die 386 offiziellen Toten. „Viele haben erst damals realisiert, was dort stattgefunden hat“, meint Streibel.

„Wirklich ins Bewusstsein der Bevölkerung“ gerufen worden sei das Thema jedoch erst durch den 2015 erschienenen Roman „April in Stein“. „Damit hat man mehr die persönlichen Geschichten der Häftlinge mitbekommen und das hat dazu beigetragen, dass auch das Bewusstsein in der Stadt geschärft wurde, sodass das Gedenken an das Massaker auch wieder Aufgabe der Stadt wurde.“

Den Opfern Namen geben
Streibel ist mit seinen Forschungsarbeiten rund „um das größte Kriegsverbrechen in Österreich“ aber noch nicht am Ende. Denn bis heute gibt es keine namentliche Erfassung aller Opfer des Massakers. Gemeinsam mit seinem Kollegen Karl Reder initiierte er ein Projekt, „um endlich den Versuch zu unternehmen, eine Liste mit den Namen zu erstellen.“ Denn auch wenn sogar viele der Nachkommen nicht mehr leben, „ist man es der Geschichte schuldig, dass die Opfer Namen bekommen“.

Der ehemalige Häftling Gerasimos Garnelis ging übrigens – nicht wie die meisten anderen – nach Griechenland zurück, sondern blieb in Krems und betrieb dort – nur wenige hundert Meter vom Gefangenenhaus entfernt – ein kleines Geschäft. Doch über sein Schicksal hat er laut Streibel „von sich aus nie öffentlich gesprochen“.
26.03.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at
Das wahllose Massaker der Nazis im Zuchthaus

Siehe auch Forumsbeitrag: Massaker im Gefangenenhaus Krems-Stein am 6. April 1945 und "Kremser Hasenjagd"
 
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#26
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Überraschungs-Coup bringt Nazis zu Fall
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Mit einem unerwarteten Angriff hat die Rote Armee Ende März 1945 die Grenzen von Niederdonau überschritten und die Wehrmacht überrascht. Hochwolkersdorf war in diesen Tagen gleich zwei Mal historischer Schauplatz, etwa als „Geburtsort der Zweiten Republik“.
Online seit heute, 15.12 Uhr
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Seit Tagen hatten sich die Bewohner von Hochwolkersdorf (Bezirk Wiener Neustadt) vorbereitet – auf den Moment, in dem die Rote Armee im Ort einmarschiert. Wertgegenstände wurden vorsorglich vergraben. Gleichzeitig wurden mit Reisig getarnte Unterstände mit Vorräten gefüllt. In den Unterständen konnte man sich auch verstecken. „Im Inneren wurde Stroh ausgebreitet und wir haben uns einmal ‚zur Probe‘ in die Höhle gelegt“, erinnert sich Johann Hagenhofer.

Dass die Front immer näher rückte, war für die Bevölkerung ab der Karwoche zu hören und schließlich auch zu sehen, als in Wiesmath (Bezirk Wiener Neustadt) die Kirche brannte, erzählt Hagenhofer, der damals in der Gemeinde lebte. „Ich war zwar erst vier Jahre alt, habe aber die große Anspannung und die Angst der Menschen gespürt." Auf dem Berg neben dem Gehöft, in dem Hagenhofer wohnte, wurde ein 15-Jähriger als Wache positioniert.

Gedenkraum 1945
Die sowjetischen Truppen waren der deutschen Wehrmacht bei ihrem Angriff im Frühjahr 1945 deutlich überlegen

Russen kamen „mit angelegten Gewehren“
Und trotzdem waren die Bewohner überrascht, als es plötzlich hieß: „Die Russen kommen." „Wir hatten erwartet, dass die Russen auf jenem Weg kommen, der ins etwa sieben Kilometer entfernte Bromberg führt“, schildert Hagenhofer. Doch die sowjetischen Truppen stießen von der anderen Seite über die steilen Waldwege in die Bucklige Welt vor – „mit angelegten Gewehren“.

Zeit, sich zu verstecken, blieb nicht mehr. Die Bewohnerinnen und Bewohner waren alle im Haus, erzählt der Historiker: "Unser Hofhund ist die Soldaten angesprungen, sie haben auf ihn geschossen und ihn an den Pfoten getroffen. Er hat gewinselt, ist zur Eingangstüre gelaufen und hat mit seiner blutigen Pfote an die Tür geschlagen. Das ist ein Bild, das ich bis heute nicht vergesse.“ Doch die Truppen hatten keine Zeit, sich lange im Ort aufzuhalten.
Denn die Sowjets hatten damit nicht nur die örtliche Bevölkerung, sondern auch die Deutsche Wehrmacht überrascht, die einen Angriff in der Ebene erwartet hatte. Zur Verteidigung wurde dafür an der österreichisch-ungarischen Grenze die Reichsschutzstellung errichtet. „Tatsächlich aber war der Vormarsch aus Ungarn heraus so schnell gewesen, dass die Russen schon in dieser Stellung standen, bevor es gelang, Soldaten heranzuführen“, erklärt Militärexperte Markus Reisner.

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Ein Blick über einen Abschnitt der Reichsschutzstellung nördlich von Klostermarienberg

Spione in den Wäldern
Mit Hilfe von Frontaufklärungstruppen – Männer und Frauen, die mit einem Fallschirm über Feindgebiet abgesetzt wurden – hatten die Sowjets nämlich eine Lücke in der Verteidigungslinie erkannt. Gleichzeitig hatten die Spione die Waldwege in der Umgebung genau vermessen. „Im Wald hat es auch geheime Funkstellen gegeben, von der die Nachrichten weitergeschickt wurden“, schildert Hagenhofer.

Am 29. März stieß die 6. Panzergardearmee der Sowjets – mit zwei mechanisierten Corps an der Spitze mit jeweils bis zu 20.000 Soldaten – über ein für Panzer „ungeeignetes Gelände“ über die Bucklige Welt nach Niederösterreich vor. „Aber weil dort kaum deutsche Kräfte waren, gelang der Vorstoß über die Rosalia und Hochwolkersdorf in das Steinfeld sehr schnell“, erklärt Reisner.

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Mit ihrem Angriff durch das hügelige Gelände und über Waldwege haben die Sowjets Bevölkerung und Wehrmacht überrascht
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Bereits Wochen und Monate vor der Offensive befanden sich die Aufklärer der Roten Armee hinter den Frontlinien

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Sowjetische Truppen bei der Einfahrt in Kirchschlag in der Buckligen Welt

Bestand Lagekarten Heeresgruppe Süd, BAMA
Die Karte zeigt die Lage entlang der Schwarza, Pitten, Leitha und Wulka

RGKFDBestand 107. Gardeschützendivision, TsAMO
Der Angriff auf Wiener Neustadt

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Fahrzeuge eines motorisierten Gardeschützenbataillons mit aufgesessener Infanterie auf dem Marsch südlich von Wiener Neustadt

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Aus mitgeführten Mörsern wurde südlich von Bad Erlach sofort das Feuer auf die erkannten gegnerischen Stellungen gelegt

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In einer Feuerstellung im Steinfeld bei Wiener Neustadt setzten die Sowjets auf leichte Artillerie

Erst rund um Wiener Neustadt kam es zu heftigen Gefechten. Etwa 1.200 Kriegsschüler, die damals ihre Offiziersausbildung an der heutigen Militärakademie absolvierten, leisteten Widerstand. Einer der Kompanieführer mit etwa 100 Mann war der spätere Bundespräsident Rudolf Kirchschläger. Entlang der drei südlich von Wiener Neustadt gelegenen Flüsse Leitha, Schwarza und Pitten – die laut Reisner damals Hochwasser führten – stellte man sich den Sowjets entgegen.

Das Ziel war, den Vorstoß der Sowjets „zumindest zu verzögern, damit sich die Masse der deutschen Kräfte Richtung Wienerwald absetzen konnte, was auch gelungen ist“, sagt der Militärexperte. Die Kämpfe rund um Wiener Neustadt dauerten etwa 48 Stunden und forderten schwere Verluste. Von den eingesetzten Kriegsschülern war ein Drittel gefallen und ein Drittel schwerstverletzt.


Sammlung Markus Reisner
Lagemeldung der Gauleitung Niederdonau an das Führerhauptquartier zur Situation in Erlach. Am linken Rand ist handschriftlich vermerkt: „… hat dem Führer 31.3/1.4. vorgelegen.“

Ungleicher Kampf zwischen Sowjets und Deutschen
Auf die Zivilbevölkerung brach in diesen Stunden und Tagen unvorstellbares Leid herein. „In der Nacht gab es furchtbare Kämpfe", erzählte Zeitzeugin Anna Handler aus Katzelsdorf (Bezirk Wiener Neustadt) in einem ORF-Interview, „dann sind die Tiefflieger gekommen." „Es war ein ungleicher Kampf, das Verhältnis war zehn zu eins“, sagt Hagenhofer. Am 31. März waren die Sowjets noch in Hochwolkersdorf, am 2. April in Wiener Neustadt und am 5. April standen sie vor den Toren Wiens.

Dem Ort Hochwolkersdorf kam in dieser Phase eine besondere Bedeutung zu. Denn hier befand sich – für wenige Tage – das erste Oberkommando der sowjetischen Truppen auf österreichischem Boden, das Hauptquartier der 9. Sowjetischen Gardearmee. Warum hier? Laut Hagenhofer „war es ein Ort, mit dem man nicht gerechnet hat, oben am Berg, abgelegen, leicht zu verteidigen“. Die Bevölkerung musste dafür ihre Häuser verlassen, das Dorf wurde zum „Hochsicherheitsgebiet“.

Anfang April fanden im Ort zwei wichtige Verhandlungen statt, die die weitere Entwicklung Österreichs prägen sollten. Im Auftrag der militärischen Widerstandsbewegung um Major Carl Szokoll wurde zunächst am 1. April über eine kampflose Übergabe der Stadt Wien verhandelt. Damit sollten schwere Schäden verhindert und zugleich der aktive Beitrag Österreichs zu dessen Befreiung eingelöst werden, den die Alliierten 1943 in der Moskauer Deklaration eingefordert hatten.

Abenteuerliche Reise über die Front
Zwei Mitglieder wurden deshalb auf eine abenteuerliche Reise geschickt, mit dem Ziel, die streng geheime Kommandostelle der Sowjets zu finden. Bei Gloggnitz (Bezirk Neunkirchen) querten sie die Frontlinie. „In deutschen Uniformen, zum Glück sind sie nicht gleich erschossen worden", meint Hagenhofer. Schließlich wurden sie von der Roten Armee aufgegriffen und in einem verdunkelten Auto an einen strenggeheimen Ort gebracht. Allerdings stiegen sie direkt vor dem Haus der „Freiwilligen Feuerwehr Hochwolkersdorf“ aus.

Samlung Markus Reisner
Die Widerstandkämpfer Major Carl Szokoll, Oberfeldwebel Ferdinand Käs und Obergefreiter Johann Reif (v.l.)

Den Sowjets waren die beiden Männer zunächst suspekt, doch als sie ihnen Hinweise über die starken Verteidigungsanlagen der Deutschen übergaben, wurden sie vorgelassen. Dabei stellten sie auch drei Forderungen: keine Zerstörung der Wasserversorgung für Wien, ein Ende der Luftangriffe und eine bessere Behandlung der Kriegsgefangene in der Sowjetunion. „Die ersten beiden Punkte wurden auch sofort eingehalten", sagt Hagenhofer: „Die Sowjets dachten, wenn es den Kampf um Wien leichter macht, warum nicht?"

Verrat der Aufstandspläne
Zwei Tage später waren die Widerstandskämpfer in Wien zurück. „Bis zum Losungswort und Erkennungszeichen, wann der Aufstand losbrechen soll, war alles genau ausgemacht“, erzählt der Historiker. Doch im letzten Moment wurde der Plan verraten. „Innerhalb der Widerstandsgruppe waren nicht alle begeistert, dass die Sowjets Wien so rasch eroberten, ihnen wäre es lieber gewesen, dass die Amerikaner näherkommen würden.“ Drei der Verräter wurden am 8. April am Floridsdorfer Spitz – „unter demütigenden Umständen“ – hingerichtet.

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Gedenkraum 1945
Der harte Kampf zwischen Wehrmacht und Alliierten in den letzten Kriegstagen
ORF/Stefan Schwarzwald-Sailer
Der Gedenkraum 1945 zeichnet die Ereignisse im Frühjahr 1945 nach…

Gedenkraum 1945
Auf Schloss Eichbüchl in Katzelsdorf bereitete Renner seine provisorische Regierung vor

ORF/Stefan Schwarzwald-Sailer
Gedenkraum 1945

Obwohl der Aufstand gescheitert war, profitierte die Rote Armee. Durch die genauen Pläne wurde sie bestärkt, Wien vom Westen über den Wienerwald anzugreifen, um die Verteidigungsstellungen zu umgehen. Über den Lainzer Tiergarten konnte sie bis zum Westbahnhof in das Stadtinnere vorstoßen. Wien blieb damit das Schicksal Budapests, wo sich die Kämpfe über mehrere Monate zogen und schwere Schäden hinterließen, erspart. „Und viele Leben wurden damit gerettet“, ergänzt Hagenhofer.

Gespräche über provisorischen Regierung
Doch in Hochwolkersdorf kam es in diesen Tagen zu einem weiteren Treffen. Der ehemalige Staatskanzler der ersten Republik, Karl Renner, der im nahegelegenen Gloggnitz lebte, sprach mit Generaloberst Aleksej Zeltov über die Bildung einer provisorischen Regierung. Renner hatte sich laut Hagenhofer auf diesen Moment genau vorbereitet, „um bei der Wiedererrichtung einer Regierung mitzuwirken“.

Gedenkraum 1945
In diesem Haus in Hochwolkersdorf war die Militärkommandatur der Sowjets untergebracht, hier wurden auch die Widerstandsgruppe sowie Renner empfangen

Per Telegramm wurde Diktator Stalin, der Renner suchen ließ, um 14.00 Uhr von Hochwolkersdorf gemeldet, dass man Renner gefunden hatte. Innerhalb weniger Stunden, gegen 19.30 Uhr, kam die Antwort von Stalin: „Volle Unterstützung für Dr. Karl Renner“. "Renner hat sich bereits in Hochwolkersdorf bereit erklärt, dass er daran mitwirken wird, wieder ein demokratisches System in Österreich zu errichten“, so Hagenhofer.

Wollte Renner Stalin täuschen?
Renner kehrte zunächst nach Gloggnitz zurück, übersiedelte nur Tage später auf das Schloss Eichbüchl in Katzelsdorf, wo er zwischen 10. und 20. April die Regierungsbildung vorbereitete. Am 15. April schrieb er an Stalin: „Lieber Genosse Stalin, leider habe ich Sie nie persönlich kennengelernt, aber ich kannte Lenin und Trotzki.“ Überraschend ist, dass er Trotzki erwähnte, den Todfeind Stalins: „Es gibt Vermutungen, dass sich Renner als senil darstellen wollte, um Stalin zu täuschen.“

Renner-Museum
Ein Telegramm von Stalin an die Militärkommandatur in Hochwolkersdorf

Zudem betonte Renner, dass die Sozialdemokraten mit den Kommunisten „brüderlich zusammenarbeiten“ würden. „Ein Brief, der an Unterwürfigkeit oder Diplomatie nicht zu überbieten war“, schildert Hagenhofer. Doch Stalin war begeistert. Sein Ziel war, in den befreiten Staaten eine Volksfrontregierung zu installieren – ein Bündnis aus schwachen Sozialdemokraten und starken Kommunisten, wobei Letztere dann die Macht übernehmen sollten. „Diese Methode hat im Ostblock vielfach gut funktioniert, aber nicht in Österreich.“

Am 20. April kehrte Renner von Schloss Eichbüchl nach Wien zurück, innerhalb von nur sieben Tagen wurde die Übergansregierung vorgestellt, die zu je einem Drittel aus Kommunisten, Sozialisten und Volkspartei bestand, wobei die Kommunisten die wichtigen Ministerien für Inneres sowie Volksaufklärung und Unterricht bekamen. Zugleich wurde die sogenannte Unabhängigkeitserklärung veröffentlicht.

Gedenkraum 1945
Karl Renner präsentiert am 27. April 1945 sein provisorisches Regierungsteam

Renner als Marionette Stalins betrachtet
In den westlichen Bundesländern reagierte man aber zurückhaltend bis ablehnend. Zum einen war damals nur der Osten Österreichs von den Sowjets befreit, zum anderen sahen viele in Renner eine Marionette Stalins. Am Ende ließ man den ehemaligen Staatskanzler aber gewähren, auch unter der Voraussetzung, dass die freien Wahlen nicht der kommunistische Innenminister, sondern ein neutraler Leiter durchführen sollte.
Während also bereits am 27. April 1945 in Wien die Zweite Republik ausgerufen worden war, herrschte in vielen Teilen Niederösterreichs noch Krieg. St. Pölten war etwa bis zur Kapitulation eine Frontstadt. Erst in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 trafen sich in Erlauf (Bezirk Melk) der sowjetische General Dmitri Dritschkin und der US-amerikanische General Stanley Reinhart und feierten gemeinsam den um 00:01 Uhr in Kraft tretenden Waffenstillstand. Der Krieg in Europa war beendet.

Ein Ereignis, das damals aber nicht überall gleich ankam. „Ich glaube nicht, dass wir am Bauernhof genau mitbekommen haben, dass es der 8. Mai war. Wir hatten kein Radio, Zeitungen hat es keine gegeben, aber es hat sich herumgesprochen", meint Hagenhofer, „für uns hat sich dadurch aber nicht allzu viel geändert.“

Eine Wahl mit Überraschung und Entsetzen
Weitreichende Änderungen brachten allerdings die ersten freien Wahlen im Herbst 1945. Die ÖVP gewann mit 85 Mandaten die absolute Mehrheit, die Sozialisten erreichten 76 Mandate und die Kommunisten waren mit gerade einmal vier Abgeordneten im Nationalrat vertreten. „Die Kommunisten waren entsetzt und konnten sich nicht vorstellen, wie es zu diesem Ergebnis gekommen ist“, erzählt der Regionalforscher.

Renner hatte damit die Weichen für die Errichtung der Zweiten Republik gestellt und Stalin in gewisser Weise „überlistet“. Der Führer der Sowjetunion soll darüber auch enttäuscht gewesen sein und Renner als „Verräter“ bezeichnet haben. „Aber für Österreich hat Renner viel geleistet und mit Stolz können wir sagen: ‚Hochwolkersdorf ist der Geburtsort der Zweiten Republik‘“, betont der passionierten Historiker mit Blick auf seine Heimat.
28.03.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at

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Überraschungs-Coup bringt Nazis zu Fall
 

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#27
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Ein Land auf der Suche nach seiner Identität
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Mit Ende des Zweiten Weltkriegs ist Österreich zwar vom NS-Regime befreit, doch die bis dahin enge Verbindung mit Deutschland ist diskreditiert. Auf der Suche nach der eigenen Identität rückt eine 950 Jahre alte Urkunde aus Neuhofen an der Ybbs in den Mittelpunkt.
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Die Straßen waren mit Girlanden und Willkommens-Schriftzügen geschmückt, fast jedes Haus war frisch gestrichen, an den Wänden hingen Fahnen und Kränze – Neuhofen an der Ybbs im Bezirk Amstetten – ein „kleiner Fleck Erde zwischen der Enns und der Erlauf“, wie es damals in der Wiener Zeitung hieß – hatte am 28. Oktober 1946 ein „anmutiges Festgewand“ angelegt.

„Die Menschen waren in Feierlaune, auch meine Eltern“, erzählt Ludwig Ecker, der die Feierlichkeiten als Dreijähriger miterlebte, gegenüber noe.ORF.at. Neben Bundeskanzler Leopold Figl und Landeshauptmann Josef Reither war auch die sowjetische Besatzungsmacht anwesend. „Nach dem großen Krieg waren endlich der Friede und die Erleichterung da: Wir haben unsere Heimat wieder.“

Ostarrichi-Urkunde als Basis für Identität
Der Höhepunkt war aber die Enthüllung eines Gedenksteins am Kirchenplatz. Dieser sollte an eine mittelalterliche Urkunde aus dem Jahr 996 erinnern, in der erstmals der Name Österreich erwähnt worden war: die sogenannte Ostarrichi-Urkunde. In ihr hatte Kaiser Otto III. den Übertrag von etwa tausend Hektar Land „in einer Gegend, die in der Volkssprache Ostarrichi genannt wird“, an einen Freisinger Bischof bestätigt.

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Die feierliche Enthüllung des Gedenksteins in Neuhofen an der Ybbs
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An der Feier nahmen auch Bundeskanzler Leopold Figl (r.) und Landeshauptmann Josef Reither (l.) teil

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Auch die sowjetischen Besatzer kamen

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Diese erstmalige Erwähnung des Namens Österreich wurde 1946 als Anlass genommen, um „eine fast an den Haaren herbeigezogene 950-Jahr-Feier Österreichs in Szene zu setzen“, erklärt Stefan Eminger, Leiter des Referats Zeitgeschichte im Landesarchiv. Ziel war es, rund um diese Erzählung eine österreichische Identität zu bilden, „die es bis dahin nicht gegeben hat“.

Großdeutscher Traum weicht Österreich-Bewusstsein
Denn zu Beginn der Ersten Republik hatten sich viele Österreicher als Deutsche gesehen. „Nicht zufällig ist bei der Ausrufung der Republik auch der Anschluss an Deutschland mitverkündet worden“, sagt Eminger. Die Republik hatte offiziell Deutsch-Österreich geheißen, was von den Alliierten aber schnell verboten worden war. Der Anschluss 1938 sei für viele „die Erfüllung ihres großdeutschen Traumes“ gewesen. Und selbst nach dem Krieg bekannten sich noch nicht alle zur Nation Österreich.

Deshalb sei es umso wichtiger gewesen, ein Österreich-Bewusstsein auf eine breite Basis zu stellen. Doch die Monarchie sei dafür zu problematisch gewesen, „weil sich viele Sozialdemokraten gar nicht damit identifizieren konnten“. Deshalb musste man weiter in der Geschichte zurückblicken und stieß auf die mittelalterliche Ostarrichi-Urkunde aus dem Jahr 996. Rund um diese wollte man nun ein „Österreich-Bewusstsein“ schaffen.

Notwendiges „konstruiertes Bewusstsein“
Eminger spricht zwar von einem „konstruierten Bewusstsein rund um diesen Kernlandmythos“, den es aus seiner Sicht aber für einen Neustart gebraucht habe. Das ganze Land wurde deshalb 1946 mit Festveranstaltungen überzogen, die laut Eminger vor allem von Schulen und Bezirkshauptmannschaften getragen wurden.

Die strikte Abgrenzung zu Deutschland ging zunächst so weit, dass es während der Amtszeit von Unterrichtsminister Felix Hurdes auch keinen Deutschunterricht gab, das Fach hieß stattdessen Unterrichtssprache – auch im Zeugnis. Allerdings hatte das starke Bekenntnis zu Österreich auch praktische Vorteile, „weil man damit Reparationsleistungen und Wiedergutmachungsansprüche eher abwehren konnte“, sagt der Historiker.

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Leopold Figl appelliert bei seiner Ansprache in Neuhofen an der Ybbs vor allem an die Jugend

Anlässlich der Gedenkfeier in Neuhofen appellierte Figl vor allem an die Jugend, bereit und befähigt zu sein, sich die Früchte der Arbeit zunutze zu machen und weiter zu bauen: „Darum, Jugend von Österreich, nütze die Zeit und arbeite für Österreich, damit das Land die Not dieser Zeit übertaucht und ein glückliches, freies Österreich entsteht“.

Auf Chaos folgte Verwaltungsaufbau
Die Sorge um die nahe Zukunft kam bei allen Äußerungen deutlicher zum Ausdruck als die Freude über das Jubiläum selbst. Allerdings wurde als Zeichen des Wiederaufbaus in Neuhofen auch der Grundstein für die erste Siedlung gelegt. Reither betonte in seiner Rede im Namen der Bevölkerung Niederösterreichs außerdem das Gelöbnis unwandelbarer Treue zu Österreich und den Willen zum Wiederaufbau.

Denn in den Trümmern des Zweiten Weltkrieges herrschte zunächst eine eher chaotische Phase. Zum einen waren viele Gebäude und Infrastruktur durch die Frontlinie zerstört worden, zum anderen waren die Verwalter von Behörden – „alles geeichte Nazis“ – vor dem drohenden Regimewechsel geflüchtet.

Erst ab dem Sommer 1945 begann laut Stefan Eminger eine Phase, „in der wieder Grundelemente einer Verwaltung aufgebaut wurden“. Die Gemeindeverwaltung kam wieder „einigermaßen“ ins Laufen, teilweise setzten die sowjetischen Besatzer Bürgermeister ein, etwa NS-Gegner, andere ernannten sich selbst dazu. Ehemalige Bezirkshauptleute bzw. Beamte traten wieder ihre früheren Ämter an, „um das Ruder in die Hand zu nehmen, aber oft war unklar, wer das Sagen hatte“.

Ganz wesentlich sei in dieser Phase gewesen, dass die sowjetischen Besatzer Figl, der selbst vier Jahre in einem Konzentrationslager gesessen war, schon drei Wochen vor der Kapitulation Hitlers bzw. dem offiziellen Kriegsende damit beauftragt hatten, den Niederösterreichischen Bauernbund wieder auf die Beine zu stellen. „Hunger und Not hat es überall gegeben, aber vor allem in Wien und anderen größeren Städten im Industrieviertel war die Nahrungsmittelversorgung ein drängendes Problem“, sagt Eminger.

Figl bildete gemeinsam mit Oskar Helmer, der bereits vor 1934 Landeshauptmann-Stellvertreter war, und dem Kommunisten Otto Mödlagl eine provisorische Landesregierung. Ihr oberstes Ziel: Die Verwaltung im Land wieder aufzubauen. Im Volksmund wurden sie auch als „Dreieinigkeit“ bezeichnet, „weil sie mit dem Dienstauto von Figl durch das ganze Land gezogen sind, um die Verwaltung in Gang zu bringen“.

Museum Niederösterreich
Die „Dreieinigkeit“: Oskar Helmer, Leopold Figl und Otto Mödlagl

Zugleich reduzierten die Sowjets ab dem Sommer ihre Truppenstärke in Österreich von zunächst 400.000 Soldaten auf die Hälfte. Und viele Vertriebene, Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangene der Deutschen Wehrmacht kehrten in ihre durch die SS oder Wehrmacht oft komplett zerstörte Heimat zurück. Damit entspannte sich die Ernährungssituation zusätzlich.

Rückzug in die eigene Familie
In der Gesellschaft waren die ersten Monate von einer „weitgehenden Desintegration der Bevölkerung“ geprägt, erzählt Eminger. Jeder hatte sich in die familiären Einheiten zurückgezogen, die damals vorwiegend aus Mutter und Kindern bestand. Sämtliche großflächigen Systeme des Handels, des Transports und der Kommunikation waren zusammengebrochen. Es war eine vaterlose Gesellschaft, „in der die Hauptlast der Überlebensarbeit auf den Frauen ruhte“.

Stadtarchiv Wiener Neustadt
Vor allem die Frauen waren nach dem Krieg am Wiederaufbau beteiligt

Ganz unterschiedlich waren die Rollen der Kinder. In Städten nahmen diese oft die Funktion der Väter ein, „wo Kinder auch zur Überlebensarbeit beschäftigt wurden und am Schwarzmarkt handeln mussten“, sagt Eminger. Diese Kinder wären in ihrer Reife Gleichaltrigen damals „auch weit voraus“ gewesen. Am Land mussten die Kinder zwar auch mithelfen, viele Zeitzeugen beschrieben ihre Kindheit aber als „schönste Phase der größten Freiheit“, weil „weder die Schule noch die Eltern“ sie „kontrolliert haben“. Trotzdem stand die Familie im Vordergrund.

In manchen Orten kam es zu Plünderungen unter den Bewohnern, oft etwa bei Anwesen von ehemaligen Nazis, die nach dem Krieg geflüchtet und deren Häuser nun unbewohnt waren. Größere Einheiten wie eine Dorfgesellschaft, wo man einander half, bildeten sich hingegen erst wieder im Laufe der Zeit.

Erste freie Wahlen nach 13 Jahren
Eine Zäsur stellten laut Eminger schließlich die „immerhin seit 13 Jahren“ ersten freien Wahlen am 25. November 1945 dar. Bereits im Oktober übernahm Reither, der ebenfalls im KZ gewesen und erst im Sommer „sichtlich abgemagert und gezeichnet zurückgekehrt war“, das Amt des Landeshauptmanns von Figl, der sich laut Eminger „stets als Platzhalter“ gesehen hatte. Sowohl im Nationalrat als auch im Landtag erreichte die ÖVP eine Mehrheit. In Niederösterreich kamen die Sozialdemokraten immerhin auf 40 Prozent.

Wiener Zeitung
Die „Wiener Zeitung“ berichtete über die Wahlen

Die Kommunisten erreichten hingegen nur bescheidene zwei Mandate. Die KPÖ und die Sowjets waren bitter enttäuscht, erzählt Eminger: „Immerhin hat der kommunistische Widerstand während der NS-Zeit die Hauptlast getragen und die sowjetische Armee hat Österreich befreit, sie hätten sich wohl mehr Dankbarkeit erwartet, aber im Großteil des Landes war die KPÖ als Russenpartei verschrien.“

Identitätsfestigung erst ab den 1970ern
Die demokratischen Strukturen waren damit nach den Wahlen gefestigt. Doch der Wiederaufbau lief nur schleppend an, gerade in jenen Gegenden des Wein- und Industrieviertels, die zu Kriegsende besonders umkämpft gewesen waren. „Die industrielle Grundstruktur war stark betroffen, das war schon ein großer Rucksack an Problemen, die Niederösterreich nach 1945 aufgeladen bekommen hat.“

Ein Grund dafür war die Besatzung unter russischer Verwaltung. Es gab kaum Investitionen über den Marshall-Plan der Amerikaner, „weil sie verhindern wollten, dass die Russen davon profitieren“. Während also im Westen Österreichs das Wirtschaftswunder und der Wiederaufbau „fast Hand in Hand“ gingen, war der starke wirtschaftliche Aufschwung in Niederösterreich erst nach der Besatzungszeit ab 1955 möglich.

Wiederaufbau hieß damals vielmehr, die Landwirtschaft wieder ins Laufen zu bringen. Langsam wurde begonnen, die Felder zu bewirtschaften. Erst in den 1960er-Jahren setzte ein Trend zur Motorisierung ein und löste einen revolutionären Strukturwandel aus. Dadurch kamen viele, die bisher in der Landwirtschaft tätig gewesen waren, in der Industrie unter, die einen deutlichen Aufschwung erlebte.

Damit machte sich auch in Niederösterreich ein „bescheidener“ Wohlstand breit, der in den 1970ern weiter anstieg. In dieser Phase wurde auch die Identität Österreichs gefestigt. Zunächst gab es erste Erfolge beim Wiederaufbau, etwa den Bau des Kraftwerks Ybbs-Persenbeug, später folgten sportliche Erfolge bzw. der Heimatfilm. „Davon wurde das Österreich-Bewusstsein geprägt, sodass heute niemand mehr daran zweifelt.“

Neuhofen als Träger der „Ostarrichi-Idee“
Die Marktgemeinde Neuhofen wurde nach einer etwas ruhigeren Phase jedoch zum eigentlichen Träger der „Ostarrichi-Idee“, baute in den nächsten fünfzig Jahren mit Hilfe der Landesregierung eine Ostarrichi-Tradition auf und verstand es, dadurch allseits bekannt zu werden. Man ließ die Aktionen nämlich nicht ruhen, sondern griff sie nach 25 Jahren wieder auf.

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Museum Ostarrichi
In dieser Urkunde aus dem Jahr 996 wird der Name Ostarrichi erstmals offiziell erwähnt
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Das Ostarrichi-Museum in Neuhofen an der Ybbs

Franz Weingartner

„Man wollte der Ostarrichi-Urkunde mehr widmen als einen Gedenkstein“, erzählt Ludwig Ecker, der damals auch zuständiger Kulturgemeinderat war. 1971 wurde im Ort eine Ostarrichi-Gedenkstätte errichtet – ein kleines Haus, wo in den folgenden Jahren jeweils eine Sonderausstellung zu einem der neun Bundesländer stattfand.

25 Jahre später – 1996 – drehte sich schließlich die Landesausstellung um das Thema Ostarrichi. Aus der Gedenkstätte wurde ein Museum, in dem an die 1.000-jährige Geschichte Österreichs erinnert wird. Und bis heute ist im Kulturhof ein Platz erhalten, wo die neun Bundesländer mit einem bestimmten Dokument ihre Verbindung zur Region, aber auch zu Österreich symbolisieren, sagt Ecker: „Um damit die Identität Österreich zu unterstreichen.“
01.04.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at

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Ein Land auf der Suche nach seiner Identität
 

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#28
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Die tränenreiche Geschichte eines Bahnhofs
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Mehr als 100.000 Kriegsgefangene, 60.000 davon aus sowjetischen Lagern, kommen zwischen 1945 und 1955 am Bahnhof in Wiener Neustadt an. Für die einen ist der Moment mit Freudentränen verbunden, für die anderen mit Tränen der Enttäuschung.
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Über Wochen, Monate, sogar Jahre fuhr Rudolf Rosensteiner immer wieder zum Bahnhof Wiener Neustadt. „Weil er keine Ahnung hatte, ob und wann sein Sohn heimkommen würde“, erzählt sein Enkelsohn Michael Rosensteiner. Deshalb machte er sich jedes Mal, „wenn er wusste, dass ein Zug ankommen soll“, von Baden aus auf den Weg nach Wiener Neustadt.

Zuletzt hatte er seinen ältesten von drei Söhnen 1942 gesehen, als er die HTL in Mödling verlassen und sich zum Reichsarbeitsdienst gemeldet hatte – mit gerade einmal 16 Jahren. Von dort war er in die Deutsche Wehrmacht eingerückt, zunächst bei der Marine, schließlich war er zur Infanterie abgestellt worden und in die Sowjetunion (UdSSR) gegangen. „Die Buben waren damals leicht zu begeistern, weil sie etwas erlebt haben.“



Hunderte Soldaten kommen heim
Umso mehr hoffte Rosensteiner darauf, seinen Sohn nach dem Krieg endlich wiederzusehen. Der erste Transport traf am 28. Mai 1945 mit etwa 250 Männern aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft am Bahnhof Wiener Neustadt ein. Im Juni kehrten etwa 400 Männer bei zwei weiteren Heimkehrer-Transporten in ihre Heimat zurück, darunter vor allem Verwundete, Kranke und Schwache.

Stadtgemeinde Wiener Neustadt
Tausende Menschen warteten vor dem Bahnhof in Wiener Neustadt auf die Rückkehr von Familienangehörigen

Das Wiedersehen am Bahnhof war für alle „eine unglaublich emotionale Situation“, beschreibt Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung. Obwohl die Ankünfte meist überraschend und kurzfristig bekannt gegeben wurden, drängten sich stets hunderte Angehörige, überwiegend Frauen und Kinder, zu den Waggons – in der Hoffnung, den Vater, Ehemann oder Sohn nach Jahren der Trennung wiederzusehen.

Emotionale Familienzusammenführung
Die Wartenden riefen die Namen der von ihnen Gesuchten und Vermissten. Oft begann vor Ort die beiderseitige Suche nach Angehörigen und Hinweisen nach Menschen, die den Krieg überlebt hatten und die man nun zu finden hoffte. „Wir kennen die Bilder, da sind die Emotionen auf beiden Seiten wirklich gewaltig gewesen. Die größten Transporte fuhren am 3. und 7. Juli 1946 ein, wobei es sich um Entlassene aus der Kriegsgefangenschaft in Großbritannien handelte.“

Wiener Kurier
Auch die Zeitungen berichteten über die Heimkehrer

Bei den Ankünften der Heimkehrer-Transporte waren meist Repräsentanten der Stadt-, Landes- und Bundesregierung sowie der sowjetischen Verwaltung anwesend. Anlässlich des 25. Transports am 27. November 1947 begrüßte Bundeskanzler Leopold Figl die Heimkehrer, bei der Ankunft des 60. Transport am 21. 0ktober 1953 aus der UdSSR nahm Bundespräsident Theodor Körner die Begrüßung vor.

Banges Warten auf Angehörige
Unter den Wartenden war jedes Mal auch Rosensteiner, der hoffte, dass dieses Mal endlich sein Sohn unter den Heimkehrern sein möge oder er von anderen, die mit ihm im selben Lager gewesen waren, zumindest etwas über ihn erfahren könne. „Das hat natürlich nicht funktioniert“, sagt Rosensteiner, „trotzdem hat er weiterhin jeden Termin wahrgenommen, der überhaupt bekannt wurde.“

Stadtgemeinde Wiener Neustadt
Als die Züge in Wiener Neustadt ankamen, gab es für Soldaten und Angehörige kein Halten mehr

Die Ungewissheit über die Angehörigen belastete damals tausende Familien, weiß die Leiterin des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung: „Es hat immer wieder Menschen gegeben, die regelmäßig zum Bahnhof gefahren sind, in der Hoffnung, dass der Angehörige unter den Heimkehrern ist oder sie zumindest Hinweise bekommen, wo sich die Angehörigen befinden, ob sie überhaupt noch am Leben sind.“

„Skora damoi“ – „Bald geht es nachhause“
Die Repatriierung wurde zwar vom Innenministerium organisiert, trotzdem war nicht immer klar, wann Züge ankommen und wer unter den Heimkehrern sein würde. Gerade in den ersten Jahren nach dem Krieg gab es auch noch keinen Briefkontakt. Zudem wurden die Kriegsgefangenen immer wieder vertröstet, sagt Stelzl-Marx. „Auf die Frage, wann sie nachhause dürften, hieß es nur ‚Skora damoi‘ – ‚Bald geht es nachhause‘.“
Die Kriegsgefangenschaft selbst beschreibt Stelzl-Marx als eine „ganz harte Zeit“. Der Grund dafür waren vor allem die Rahmenbedingungen. Zum einen das raue Klima bzw. die extrem kalten Winter, in denen die zerstörte sowjetische Wirtschaft wieder aufgebaut werden musste. Die Kriegsgefangenen wurden im Straßen- und Bergbau eingesetzt und errichteten Gebäude, „die auch bis heute den Ruf haben, sehr gründlich und gut gebaut worden zu sein“.



Gleichzeitig war die Verpflegung äußerst schlecht, betont die Historikerin: „Viele kamen nicht zuletzt deshalb extrem abgemagert und sehr dünn aus der Kriegsgefangenschaft zurück, man spricht auch von einer völligen Auszehrung.“ Oft spielten auch Krankheiten und Unfälle eine Rolle.

„In der Sowjetunion ging es allen schlecht“
Die Historikerin weist jedoch auf einen konkreten Unterschied zum Deutschen Reich hin. Denn unter NS-Herrschaft waren sowjetische Kriegsgefangene gezielt als „Untermenschen“ angesehen und „absichtlich schlecht behandelt“ worden. Die Mortalitätsrate, etwa im Lager STALAG XVII B in Gneixendorf (Bezirk Krems), war bei 60 Prozent gelegen, bei Briten oder Amerikanern bei gerade einmal einem Prozent. Anders sei die Lage in der Sowjetunion gewesen, so die Historikerin: „In der Sowjetunion ist es generell allen Menschen schlecht gegangen.“
Ähnliches berichtet auch Michael Rosensteiner von der Gefangenschaft seines Vaters, der die meiste Zeit in Nischni Nowgorod – etwa 1.000 Kilometer östlich von Moskau – verbrachte und u.a. in einer Chemiefabrik Kessel reinigen musste. „Er hat erzählt, dass man, wenn man arbeiten wollte, nicht wirklich Hunger gelitten hat. Wirklich schlecht ist es nur jenen gegangen, die vor Stolz nicht arbeiten wollten.“

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Ein Portrait von Rudolf Rosensteiner, das ein ehemaliger Mithäftling zeichnete

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„Dem Kameraden Rosensteiner Rudolf aus Baden bei Wien aus Dankbarkeit gewidmet"

Doch vielen anderen Kriegsgefangenen sei es „noch viel schlimmer gegangen als meinem Vater“, ergänzt Rosensteiner. Viele seien an Krankheiten oder totaler Erschöpfung bei der Arbeit gestorben. Zwar sei auch sein Vater am Ende völlig abgemagert gewesen, allerdings hätte er sich immer zusätzlich Arbeit gesucht, die in der Regel auch mit einer Zusatzration Essen verbunden war. „Er hat sich immer gemeldet, ob zum Tapezieren oder als Installateur, obwohl er von alledem nichts verstanden hat, aber er wollte nur überleben.“

Vater erkannte Sohn nicht wieder
Im Februar 1948 war es auch für seinen Vater endlich so weit. Mit einem der letzten großen Heimkehrer-Transporte kam Rudolf Rosensteiner zurück. Allerdings hatte er sich so stark verändert, dass ihn der eigene Vater nicht mehr erkannte. „Er hat sich äußerlich so stark verändert, ich kann mir vorstellen, dass er eher ungepflegt und abgemagert war, dass mein Großvater am Bahnhof zunächst an seinem Sohn einfach vorbeigegangen ist.“ Der Sohn musste sich erst selbst bemerkbar machen, damit der Vater ihn wiedererkannte.

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Der Entlassungsschein von Rudolf Rosensteiner aus seiner Kriegsgefangenschaft

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Nach 1949 wurden die Heimkehrer-Transporte jedoch eingestellt. „Stalin sagte, es gebe in der Sowjetunion keine Kriegsgefangene mehr, sondern nur noch Kriegsverbrecher“, erklärt Stelzl-Marx, darunter waren sowohl Kriegsgefangene als auch Zivilisten, die während der sowjetischen Besatzungszeit in Niederösterreich etwa als Spione verhaftet, verurteilt und in die Sowjetunion geschickt wurden.

Der Niederösterreicher Herbert Kilian wurde als 19-Jähriger zu drei Jahren Gulag verurteilt, weil er dem Sohn eines sowjetischen Kommandanten eine Ohrfeige gegeben hatte. Der Vorwurf: Rowdytum. Drei Jahre verbrachte er zunächst auf der Kolyma-Fernstraße – am äußersten Rand der Sowjetunion – und danach noch einmal drei Jahre in sowjetischer Freiheit. „Erst sechs Jahr später ist er zurückgekommen, als 25-jähriger Mann ohne Ausbildung, der sich erst alles aufbauen musste.“

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Bundeskanzler Julius Raab empfängt den letzten Heimkehrer-Transport am Bahnhof in Wiener Neustadt

„Das waren erlogene Todesursachen“
Mehrere hundert andere Österreicherinnen und Österreicher wurden hingegen nach ihrer Verurteilung nach Moskau gebracht, erschossen und in ein Massengrab geworfen, weiß Stelzl-Marx. Deren tatsächliche Schicksale wurden erst in den letzten Jahren bekannt. Nach Stalins Tod wurde Österreich zwar über deren Tod informiert, „das waren aber erlogene Todesursachen. Was tatsächlich passiert ist, haben einige Familien erst jetzt erfahren.“

Die letzten Kriegsgefangenen kamen erst nach dem Staatsvertrag 1956 aus dem Osten in die Heimat zurück. Diese Gruppe nannte man aus gutem Grund die „Spätheimkehrer“. Sie hatten die Zwangsarbeit in den Lagern der Sowjetunion und damit Sibirien überlebt und litten unter den Folgen der Unterernährung sowie der körperlichen und seelischen Belastungen. In Summe waren etwa 130.000 Österreicher in sowjetischer Gefangenschaft gewesen, darunter an die 22.000 Niederösterreicher.

Diejenigen, die auf der Wiener Neustädter Heimkehrerstraße, wie die breite Straße vom Bahnhofsplatz zur Kollonitschgasse später genannt wurde, nun definitiv in die Freiheit entlassen wurden, waren zu Opfern zweier Diktaturen geworden. Die „Spätheimkehrer“ hatten ihre Familienangehörigen sogar über ein Jahrzehnt nicht gesehen.


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Rudolf Rosensteiner nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion

„Große Liebe“ war nach Rückkehr verheiratet
Rudolf Rosensteiner hatte sich zu diesem Zeitpunkt wieder einigermaßen in das „normale“ Leben integriert. In einer speziell für Heimkehrer eingerichteten Unterrichtsklasse machte er die Matura nach und stieg ins Berufsleben ein. „Die Wiedereingliederung ist ihm nicht so schwergefallen, aber natürlich hat sich sein Leben komplett verändert“, erzählt Sohn Michael. Vor dem Krieg hatte er seine „große Liebe“ kennengelernt, nach seiner Rückkehr musste er feststellen, dass sie mittlerweile verheiratet war.

Was sowohl seinen Vater als auch seine Mutter geprägt habe, sei die Ernährung. „Sie haben damals so viel gehungert, dass sie dem Zeit ihres Lebens alles untergeordnet haben “, erzählt Michael Rosensteiner, „das Wichtigste war, dass immer genug Lebensmittel da waren und genug gekocht wurde. Also der Hunger muss schrecklich gewesen sein.“

Von Alpträumen geplagt
Physisch gesehen hatte Rudolf Rosensteiner seine Kriegsgefangenschaft gut überwunden, doch psychisch litt er, wie so viele andere, noch Jahrzehnte an den Folgen. „Die schlimmsten Erinnerungen sind – da war ich sechs oder sieben Jahre alt –, dass wir zwei Mal oder auch öfters in der Nacht ins Schlafzimmer gestürmt sind, weil mein Vater, von Alpträumen geplagt, schweißgebadet aufgewacht ist und schrie.“
Die Erlebnisse hätten ihn bis weit in die 1970er-Jahre hinein verfolgt. Gesprochen wurde darüber aber nur „in weinseliger Runde, sonst eigentlich nicht“, erinnert sich sein Sohn, „da war er aber nicht allein. Die meisten wollten das einfach nur vergessen.“
04.04.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at

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Die tränenreiche Geschichte eines Bahnhofs
 

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#29
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
„Ura, Ura“, Vergewaltigung und Kinderliebe
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Niederösterreich ist ab 1945 vom NS-Regime befreit. Doch die folgende sowjetische Besatzung war für viele ebenso belastend. Die Jahre bis 1955 waren u.a. von Gewalt und Entführungen geprägt. Der bekannteste Fall ereignete sich an der Zonengrenze bei Enns.
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5. November 1948: Aus dem Auto des damaligen Wirtschaftsministers Peter Krauland wurde Margarethe Ottillinger an der Ennsbrücke bei St. Valentin (Bezirk Amstetten) – an der Grenze zwischen der amerikanischen und sowjetischen Besatzungszone – verhaftet. Die erst 29-jährige Wirtschaftsexpertin und Sektionschefin wurde ins sowjetische Hauptquartier nach Baden gebracht und dort zwei Monate verhört.
Zu Ottillingers Aufgaben gehörte es, den Wert deutschen Eigentums in Österreich festzustellen, das die sowjetische Besatzungsmacht beschlagnahmt hatte. Sie gerät ins Visier sowjetischer Behörden, zumal ihre Berechnungen für die Sowjets Nachteile brachten. Für die junge Frau blieb ab der Entführung die Uhr stehen: vollkommene Isolation, totale Ungewissheit, ständige Verhöre und die Androhung der Hinrichtung als Spionin.

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Margaretha Ottillinger (1949)

Ein Tod auf Raten
Dem Galgen entrann sie nur, weil Stalin 1948 gerade die Todesstrafe ausgesetzt hatte. Doch am 13. Mai 1949 wurde die junge Frau in ein russisches Gulag-Lager verschleppt und zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt: ein Tod auf Raten. Der Vorwurf: Spionage für die USA. Der Fall erregte im Nachkriegsösterreich zwar großes Aufsehen. Das mediale Echo war enorm, der politische Protest blieb aber gering – die Staatsvertragsverhandlungen sollten nicht gefährdet werden.

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Solche Zonenwechsel waren für die Bevölkerung jedoch generell „mit einem mulmigen Gefühl“ verbunden, erklärt Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, „weil sie nicht wussten was passiert, gibt es eine Liste, auf der mein Name steht, fehlt ein Stempel im Identitätsausweis.“ Denn immer wieder wurden Menschen aus dem Zug heraus verhaftet und im schlimmsten Fall auch in die Sowjetunion gebracht.

Klare Hierarchie zwischen Besatzern und Bürgern
Die Menschen waren zwar von den Nationalsozialisten befreit, „doch die erhoffte Freiheit gab es noch nicht“, fasst Stelzl-Marx zusammen. Während der Besatzungszeit habe es eine klare Hierarchie zwischen den Besatzern und der heimischen Bevölkerung gegeben. Vor allem in den Jahre 1945 und 1946 wurde eine „totale Kontrolle ausgeübt“ und „das Alltagsleben dominiert“, meint die Historikerin, was von der Bevölkerung als „belastend und unangenehm“ empfunden wurde.

Direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren immerhin 400.000 Rotarmisten im Land, die zwar gegen Ende 1945 auf die Hälfte halbiert wurden. „Das waren aber immer noch mehr, als die drei westlichen Besatzungsmächte zusammen hatten“. Die ausländischen Soldaten wurden „vielfach und zurecht als individuelle Bedrohung“ empfunden.

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Die Besatzungssoldaten waren nach dem Krieg in Niederösterreich omnipräsent - Donaubrücke Krems-Stein - Mautern

Im Alltag wirkte sich diese Präsenz unterschiedlich aus. Zunächst gab es vor allem mit Frauen und Kindern Berührungspunkte, die meisten Männer waren gefallen oder in Kriegsgefangenschaft. „Die Bandbreite reichte von Vergewaltigungen und Plünderungen bis hin zu ganz romantischen Liebesbeziehungen und zum Klischee des deutschsprechenden, kulturinteressierten und kinderlieben Offiziers“, fasst Stelzl-Marx zusammen. Bekannt ist auch ihr Verlangen nach „Ura, Ura“ (Anm.: Uhren).

Kontroversielle Erinnerungen
Ein ähnliches Bild hat auch der Regionalforscher Johann Hagenhofer aus Hochwolkersdorf (Bezirk Wiener Neustadt) in Erinnerung, der das Kriegsende und die Besatzungszeit als kleines Kind miterlebte. Zum einen sei es immer wieder zu Diebstählen, Gewalt oder auch Erschießungen gekommen, „etwa von Männern, die ihre Frauen oder Töchter beschützen wollten, oder auch wenn besoffene Russen beim Plündern gehindert wurden“, erzählt Hagenhofer.

Andererseits erzählt der heute 80-Jährige von einem sowjetischen Soldaten, „der mich immer auf seinen Schoß gesetzt hat, mir über den Kopf streichelte und weinte. Dem habe ich offenbar gefallen, vielleicht habe ich ihn an seinen Sohn erinnert.“ Hagenhofer betont deshalb, dass das oft einseitige Bild „plündernden und vergewaltigenden Russen“ nicht stimme: „Ich habe auf jeden Fall auch viele humane Russen kennengelernt.“

Genügend Zeit und Sprache
Von solchen positiven Erfahrungen weiß auch Stefan Eminger, Leiter des Referats für Zeitgeschichte im Landesarchiv von Zeitzeugen. Doch dafür seien zwei Voraussetzungen notwendig gewesen: Genug Zeit miteinander und gewisse Kenntnisse der russischen Sprache. In der ersten Phase war jedoch genau das Gegenteil der Fall, die sowjetischen Truppen wurden oftmals verschoben. „Und da war das Verhältnis stark von Misstrauen geprägt“, meint Eminger.

Die Folge waren nach einem entsprechenden Alkoholkonsum „regelrechte Jagden auf Mädchen“, die sich als Reaktion auch teilweise in verwinkelten Kellernischen einmauern ließen. Doch waren die sowjetischen Soldaten bei einer Familie länger untergebracht, „dann kam es auch dazu, dass sich die für ihre Leute auch gegen andere Soldaten eingesetzt haben und haben vor Scheunen Wache gehalten, wo sich Frauen versteckt haben“, erzählt Eminger.

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Mit genügend Zeit konnten zwischen den Besatzungssoldaten und Einheimischen durchaus vertrauliche Beziehungen entstehen

Zugleich konnte auch so manche Lappalie eine große Auswirkung haben, etwa wenn Österreicher Rotarmisten Alkohol ausschenkten und diese wegen des übermäßigen Konsums starben oder erblindeten, ergänzt Stelzl-Marx: „Das hatte schon Konsequenzen bis hin zur Verhaftung bzw. Verurteilung in ein Gulag-Lager.“ Das gleiche konnte passieren, wenn etwa wegen eines Autounfalls Rotarmisten verletzt wurden oder ums Leben kamen.

„Wie definiert man einen Spion?“
Omnipräsent war zwischen 1945 und 1955 auch das Thema Spionage. Zwar gab es durchaus Leute, die mit westlichen Nachrichtendiensten in Kontakt waren, oft aus wirtschaftlichen Gründen, weil sie dafür Geld erhalten hatten. Stelzl-Marx stellt aber die Frage: „Wie definiert man einen Spion?“ Denn anders als in Filmen sei es dabei um banale Informationen gegangen: „Wer sind die sowjetischen Offiziere in der Kommandantur oder welche Züge fahren Richtung Ungarn.“
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Beim Wechsel zwischen sowjetischer und amerikanischer Zone an der Ennsbrücke wurden immer wieder Menschen verhaftet

Aus heutiger Sicht seien das keine Informationen, für die man verhaftet bzw. verurteilt würde. Und auch viele Betroffene hätten die Gefahr damals unterschätzt, betont die Historikerin. Doch für die Sowjets war es mit Blick auf den Kalten Krieg anti-sowjetische Spionage. An die 2.000 Menschen wurden deshalb verurteilt, wobei die meisten in den vergangenen Jahren von russischer Seite rehabilitiert bzw. anerkannt wurde, „dass es sich um Unrechtsurteile gehandelt hat.“

Ottillingers gezeichnete Rückkehr
Das betraf auch Margarethe Ottillinger, die am 25. Juni 1955 mit einem der letzten Heimkehrer-Transporte schwerkrank nach Österreich zurückkehren durfte. Nach ihrer Rückkehr arbeitete sie in der neu gegründeten „Österreichischen Mineralölverwaltung“ (ÖMV), lange Zeit als einzige Frau im Vorstand. Während ihrer Gefangenschaft wurde sie tiefgläubig, weshalb sie nach ihrer Pensionierung dem „Dritten Orden der Servitinnen“ beitrat. Am 30. November 1992 starb Ottillinger.



Die wahren Hintergründe ihrer Entführung wurden lange Zeit nicht ganz geklärt. Erst der Historiker Stefan Karner von der Universität Graz arbeitete die jahrzehntelang unter Verschluss gehaltene KGB-Verhörprotokolle auf und stieß dabei auf Details in Ottillingers Umfeld. Anhand dieser Dokumente des KGB und der westlichen Geheimdienste ließ sich Ottillingers Verschwinden als Verkettung politischer und menschlicher Komponenten rekonstruieren.

Neid und Missgunst
Ottillingers Arbeit für den Wiederaufbau Österreichs mit Hilfe des amerikanischen Marshallplans und die geplante Kürzung der Stahlzuteilungen für die sowjetischen Betriebe in Ostösterreich machten sie für die Sowjets verdächtig und zur mutmaßlichen amerikanischen Spionin. Als mächtige junge Frau, die innerhalb der österreichischen Bürokratie viel Geld zu verteilen hatte, zog sie zudem in einer Männergesellschaft Neid und Missgunst auf sich. Anzeigen bei der sowjetischen Besatzungsmacht waren die Folge.

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Das Klischee von kinderliebenden sowjetischen Offizieren wird von Zeitzeugen immer wieder bestätigt, war aber nur die eine Seite der Besatzungssoldaten

Der Österreicher Alfred Fockler, der als amerikanischer Agent den Sowjets in die Hände fiel, wollte seinen Kopf aus der Schlinge ziehen, indem er Ottillinger schwer belastete. Zwei weitere Männer besiegelten Ottillingers Schicksal: Der russische Ingenieur Andrej Didenko, der sich in die junge Spitzenbeamtin verliebt hatte und dem sie bei der Flucht in den Westen behilflich war, und Minister Krauland, der tatenlos zusah, als seine Mitarbeiterin verschleppt wurde.

Ottillinger selbst erfuhr bis zu ihrem Tod 1992 nicht, warum sie sieben qualvolle Jahre in sowjetischen Straflagern verbringen musste. Mit dem Bau der kubistischen Wotrubakirche in Wien, für den sie sich engagierte, setzte sie ein sichtbares Zeichen für den unterdrückten Menschen in totalitären Regimen. Damit errichtete sie auch ihrem eigenen persönlichen Schicksal ein eindrucksvolles Denkmal.

Die Folgen der Besatzungszeit
Die Besatzungszeit selbst war mit dem Staatsvertrag 1955 zwar zu Ende, Österreich wieder ein freies Land. Doch die Nachwehen spürt man bis heute. Laut Stelzl-Marx kamen in dieser Zeit etwa 30.000 Besatzungskinder auf die Welt, etwa die Hälfte davon in der sowjetischen Besatzungszone: „Diese Kinder hatten mit unterschiedlichsten Formen der Diskriminierung und Stigmatisierung zu kämpfen, viele wurden als Kinder des Feindes gesehen.“

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Während der Besatzungszeit entstanden auch viele Beziehungen zwischen Soldaten und Frauen, auch wenn das von Moskau nicht gewünscht war

Gerade in der sowjetischen Besatzungszone seien Besatzungskinder „in einer vaterlosen Generation aufgewachsen, umgeben von einer Mauer des Schweigens und Tabus“, erzählt die Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung. Manche erfuhren etwa erst in der Schule, dass ihr Stiefvater gar nicht der leibliche Vater ist, sondern ein Rotarmist.

Kapitalistischer Westen vs. kommunistischer Osten
Auch deshalb, weil die sowjetischen Soldaten damals – „selbst wenn sie wollten“ – weder eine Österreicherin heiraten noch im Land bleiben durften. Ebenso durfte nach dem Abzug niemand in die Sowjetunion mitgenommen werden. „Stalin wollte keine Beziehungen, aus Angst, dass die Rotarmisten im Westen bleiben würden.“ Immerhin hatte das Leben im kapitalistischen Westen dem Kreml „absolut widersprochen.“

Umso vehementer seien viele Besatzungskinder bzw. die nächste und übernächste Generation jetzt auf der Suche nach ihren Wurzeln. In erster Linie gehe es ihnen „um die Frage der Herkunft und um die eigene Identität“, weiß Stelzl-Marx aus vielen Gesprächen. Untereinander gibt es zwar mittlerweile eine gute Vernetzung. Doch das Ziel jedes einzelnen sei, „die offene Lücke in ihrer eigenen Biografie zu schließen.“
08.04.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at

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„Ura, Ura“, Vergewaltigung und Kinderliebe
 

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#30
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Entnazifizierung: Rot-Weiß-Rot statt Hakenkreuz
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Nach dem Ende des NS-Regimes braucht es in Österreich einen klaren Schnitt. Die Entnazifizierung wird zunächst auch ernst genommen – manches hingegen nur der neuen Zeit „angepasst“, wie ein Gemälde aus Waidhofen an der Ybbs zeigt.
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Es ist ein monumentales Bild im Rathaussitzungssaal von Waidhofen an der Ybbs, sechs mal drei Meter groß. Der Titel: „Das schaffende und feiernde Waidhofen.“ Neben Schmieden, Holzfällern und einer Frau am Brunnen erkennt man im rechten Teil eine Parteifeier, bei der die Mitglieder alle ihre Parteiuniformen – SS- und SA-Uniformen – tragen. Im Zentrum sind der Adolf-Hitler-Platz sowie 19 Hakenkreuz-Fahnen zu sehen.
Das Bild stammt von Reinhold Klaus, einem ehemaligen NS-Sympathisanten und NSDAP-Vertrauensmann der Kunstgewerbeschule in Wien. In Auftrag gab es der damalige Bürgermeister von Waidhofen an der Ybbs, Emmerich Zinner, ein bekennender Nationalsozialist, erzählt Walter Zambal, ehemaliger Geschichtelehrer an der HTL in Waidhofen und Stadthistoriker.

„Das Bild muss bleiben“
1944 wurde das Werk im Sitzungssaal aufgehängt – seither ist es dort zu sehen, auch während der russischen Besatzung. Einige wollten das Bild damals schon abhängen, doch der damalige Stadtkommandant Leonow befand, dass dieses Bild eigentlich ein Kunstwerk sei. Er sagte „nein, das Bild muss bleiben“, schildert Zambal: „Man sieht, dass das stalinistische Kunstempfinden dem des NS also sehr ähnlich war.“ Allerdings musste das Bild der neuen Zeit angepasst werden.

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Das monumentale Bild im Rathaussitzungssaal in Waidhofen an der Ybbs

Daraufhin gab Leonow den Auftrag, das Bild übermalen bzw. die NS-Symbole verschwinden zu lassen. Der örtliche Maler Sergius Pauser ersetzte die ockerfarbenen Uniformen der Nazis durch „unschuldige Steirergewänder“, sagt Zambal, die Kunststudentin Hildegard Kaltenbrunner-Leutgeb entnazifizierte die Hakenkreuz-Fahnen, indem sie sie rot-weiß-rot übermalte.

DÖW: „Kann Bevölkerung nicht austauschen“
Eine banale Lösung für ein Problem, das sich damals nicht nur im Kleinen, sondern auf breiter Ebene stellte. „Wie macht man nach einer Diktatur weiter, die viele Jahre gedauert und viele Menschen betroffen hat, als Opfer oder als Täter bzw. Mittäter? Wie funktioniert so eine Gesellschaft unter demokratischen Bedingungen? Man kann die Bevölkerung ja nicht austauschen“, erklärt Winfried Garscha vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW).

Dafür brauchte es einen Mittelweg, der einerseits den Opfern signalisierte, „euer Leiden war nicht umsonst“, andererseits den Tätern zu verstehen gab, „was ihr getan habt, war falsch“. Eine Trennung der Gesellschaft wäre auf Dauer weder möglich noch sinnvoll gewesen, sagt Garscha. Deshalb wollte man den ehemaligen NSDAP-Mitgliedern klarmachen: Die neue Gesellschaft hat auch neue Regeln.

Ambitionierte Registrierung
Zunächst musste man feststellen, wer überhaupt ein Mitglied der „Massenpartei“ NSDAP war. In der sowjetischen Besatzungszone mussten sich die Betroffenen selbst melden. Der Clou dabei: Ehemalige Nazis waren von den Wahlen zunächst ausgeschlossen, also musste sich jeder bei der Gemeinde, der Wahlbehörde, selbst deklarieren. „Wenn gewählt wurde, obwohl man ein Mitglied war – und das kam über kurz oder lang heraus –, dann war das Wahlbetrug und somit ein Verbrechen“, erzählt Garscha.
Indem man die Verantwortung für die Registrierung in die Gemeinden verlagerte, konnten weniger Betroffene untertauchen. „Die neuen Bürgermeister kannten ihre Schäfchen, dadurch hatte man die Gewissheit, dass die Registrierung gut funktioniert.“ Denn alle waren sich einig, dass diejenigen, die das NS-Regime mitgetragen hatten, die neue Verwaltung nicht mitbestimmen sollen. In Niederösterreich wurden schließlich etwa 85.000 Menschen registriert.

Bei diesen Personen wurde zunächst zwischen jenen Mitgliedern unterschieden, die schon vor dem Anschluss Österreichs 1938 in der Partei waren, und jenen, die erst danach eingetreten waren. Diese erste Fassung des NS-Verbotsgesetzes wurde bereits am Tag vor der Kapitulation beschlossen, die NSDAP war damit verboten. Doch diese Unterscheidung war zu ungenau, meint Garscha, weil einige spätere Nazi-Größen erst ab 1938 der Partei beigetreten waren.

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In der zweiten Phase der Entnazifizierung ab 1946/47 – nach einer Gesetzesreform – wurde nach der Intensität der Mitgliedschaft und der damit verbundenen Verbrechen unterschieden. Somit gab es fortan belastete und minderbelastete Mitglieder, „in der Voraussicht, dass Minderbelastete nach und nach wieder in die Gesellschaft integriert werden“, sagt der Historiker. In Niederösterreich galten etwa 90 Prozent als minderbelastet.

Sondersteuer für Alt-Nazis
Wesentlich war diese Differenzierung auch, als es um den Wiederaufbau ging. Ehemalige NS-Mitglieder sollten für Schäden aufkommen. Zum einen wurden sie etwa zum Schutträumen verpflichtet. Andererseits führte die provisorische Regierung eine „Sühne-Leistung“, eine Strafsteuer, ein, die für die ehemaligen Nazis „deutlich spürbar“ war. Laut Garscha war das jene Maßnahme, die „tatsächlich im Sinne des Erfinders funktionierte.“

Zusätzlich wurden ehemalige Nazis aus Behörden und bestimmten Berufen entfernt, die als sehr sensibel galten, darunter Richter oder hohe Beamte. „Es war unmöglich, dass Richter weiter Recht sprechen, die zuvor in der Unrechtsjustiz involviert waren.“ Allerdings wurden Minderbelastete Ende der 1940er-Jahre in der Zivilgerichtsbarkeit untergebracht. In anderen Berufen wurde überhaupt weniger genau hingeschaut.

Auch deshalb, weil in vielen Bereichen, etwa in der Elektrizitätswirtschaft für den Bau der Donaukraftwerke, Spezialisten gebraucht wurden. Ein Austausch der „Eliten“ wäre in einem kleinen Land wie Österreich, „das eigentlich erst während der NS-Zeit den ersten Modernisierungsschub seit der Monarchie erlebt hat, nicht möglich gewesen“, meint Garscha. Auch in der Verwaltung wurden ab spätestens 1949 wieder Alt-Nazis eingestellt.

Überlastung der Gerichte
Gleichzeitig wurden aber durch diese genaue Aufarbeitung die Gerichte massiv bürokratisch belastet. Denn im Gegensatz zu Deutschland, wo ehemalige Nazis selbst ihre Unschuld beweisen mussten, waren dafür in Österreich Volksgerichte zuständig. Zunächst wurden dafür alle ehemals illegalen Mitglieder zu fünf Jahren Haft verurteilt, ins Gefängnis mussten sie aber nicht, stattdessen galt eben das Wahlverbot.

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Volksgerichtsverhandlung der wegen des Massakers in Stein angeklagten Täter im Landesgericht Wien

In Paragraph elf des NS-Verbotsgesetzes heißt es sinngemäß, dass nur jene angeklagt werden, die während der NS-Herrschaft schwere Verfehlungen begangen haben. In der Praxis bedeutete das 130.000 Verfahren, die „alles blockiert haben“, beklagt Garscha. Während die Gerichte also überprüften, ob „Illegale“ schwere Straftaten begangen hatten, konnten „die richtigen Kriegsverbrecher untertauchen“.

Das war laut Garscha auch eine der „wichtigen Lehren“ aus der damaligen Zeit. Denn schlussendlich wurden zwar etwa 13.600 Verurteilungen ausgesprochen, der Großteil ging jedoch auf formale Verfahren rund um Paragraph elf zurück. Nur etwa 2.000 Urteile betrafen Schuldsprüche wegen schwerer Verbrechen. 43 Personen wurden zum Tod, weitere etwa 300 Menschen zu lebenslangen bzw. langjährigen Haftstrafen verurteilt.
NS-Massaker vor Gericht
Für Aufsehen sorgten etwa der Prozess rund um das Massaker im Zuchthaus Stein (Bezirk Krems), bei dem gegen Kriegsende im April 1945 hunderte Gefangene, die zum Teil schon offiziell entlassen waren, wahllos erschossen wurden. Doch gerade einmal 14 Personen wurden letztendlich angeklagt, fünf zum Tod und fünf weitere zu lebenslanger Haft verurteilt.

Als spannend beschreibt Garscha auch einen Prozess, „der eigentlich nie geführt wurde“. Konkret ging es um Euthanasie-Fälle in Gugging (Bezirk Tulln) und Mauer-Öhling (Bezirk Amstetten). Angeklagt waren zwar mehrere Mitarbeiter der Gau-Gesundheitsverwaltung. Doch der Haupttäter Emil Gelny konnte untertauchen und ins Ausland flüchten. Bis zu seinem Tod im Jahr 1961 wurde er nie für die grauenvollen Taten, u.a. tödliche Stromschläge, belangt.

Wobei selbst viele Inhaftierte im Verlauf mehrerer Amnestien vorzeitig freikamen. Von den einst 300 zu lebenslangen bzw. hohen Haftstrafen Verurteilten waren 1955 nur noch 15 im Gefängnis. „Die Politik wollte sich bei der Verfolgung der NS-Verbrechen nicht mehr allzu sehr exponieren“, betont Garscha. Spätestens ab 1948 ging man auch davon aus, dass die Bevölkerung wollte, dass die Nazis freigelassen werden. „Hier hat man der Bevölkerung etwas unterstellt, was nie abgefragt worden ist.“

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Britischer Informationsdienst


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Innerhalb der Bevölkerung plädierte eine Mehrheit zunächst durchaus für eine harte Bestrafung der Nazis, nach dem Motto: „Jetzt werden sie endlich für das bestraft, was sie uns angetan haben, für die Zerstörung“, sagt Garscha. Doch je länger die Aufarbeitung dauerte, umso eher hatten die Menschen andere Probleme. Zugleich wollten viele diesen Teil der Geschichte „schnell vergessen“.

Wahlkampf beendet Entnazifizierung
Ab dem Jahr 1949 beendete schließlich ein Wahlkampf jegliche Ambitionen, das Thema konsequent weiterzuverfolgen. Stattdessen entbrannte unter allen Parteien ein Wettkampf um mögliche Wählerstimmen. Erstmals war dabei auch der Verband der Unabhängigen (VdU), der Vorläufer der Freiheitlichen Partei, zugelassen.

Zu diesem Zeitpunkt hätte die Politik auch schon gern die Volksgerichte abgeschafft, fügt der DÖW-Forscher hinzu, dagegen wehrte sich aber der Alliierte Rat. Die Gerichte mussten also weiterarbeiten, doch in der Praxis wurden kaum noch Verfahren geführt. Mit dem Abzug der Besatzungstruppen 1955 wurden die Volksgerichte deshalb abgeschafft.

Ein Resümee der Entnazifizierung fällt für Garscha zwiespältig aus. Zum einen war sie eine große Leistung, weil sie zum ersten Mal durchgeführt wurde. Andererseits gibt es zurecht viel Kritik, dass manche nicht hart genug bestraft wurden. „Es war ein erster Versuch“, der letztlich „in einem riesigen bürokratischen Aufwand mit relativ kleinem Erfolg“ endete. „Ein ganz wesentliches Problem war, dass man nicht in die Köpfe hineinschauen konnte.“

Viele ungestrafte Kriegsverbrechen
Unverständlich ist für den Historiker, dass 1957 nicht nur das NS-Verbotsgesetz – mit Ausnahme der Wiederbetätigung – abgeschafft wurde, sondern auch das Kriegsverbrechergesetz. Damit gab es plötzlich keine Möglichkeit mehr, Kriegsverbrechen zu verfolgen, etwa die „entsetzliche Folter in den Konzentrationslagern“, die im normalen Strafrecht als verjährt galten. Eine Ausnahme waren Morde, weil diese laut Strafrecht nicht verjähren können.

Auch in Waidhofen an der Ybbs war die NS-Zeit mit der Übermalung des Bildes nicht abgeschlossen. Denn mit der Zeit kamen die Hakenkreuze immer wieder durch. Das Bild musste deshalb mehrmals nachbearbeitet werden. Auch der Urheber selbst legte nach der NS-Herrschaft noch einmal Hand an, um das Bild mit Szenen des Theaterstücks „Unter den Linden“ umzumalen. Dabei wurde auch die Parteiszene verändert.

Politisch unumstritten
Eine politische Diskussion über die Genesis des Bildes gab es in Waidhofen an der Ybbs bisher nicht, sagt Zambal: „Man hat quasi durch das russische O.K., dass es Kunst ist, die Berechtigung gesehen, dass es hängen bleiben kann.“ Zudem regierte zwischen 1952 und 1973 ein Bürgermeister, der bis zum offiziellen Verbot 1959 öffentlich sein Ritterkreuz samt eingraviertem Hakenkreuz trug. „Der hatte wohl kein Interesse, dass das Bild verschwindet“, fügt Zambal hinzu.

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Die konstituierende Gemeinderatssitzung in Waidhofen an der Ybbs im März 2021 vor dem „schaffenden und feiernden Waidhofen“

Der Künstler, der später auch seinen Wohnsitz nach Waidhofen verlegte, wurde nach 1945 nach dem NS-Verbotsgesetz bei gekürzten Bezügen zwangspensioniert, aber kurze Zeit später teilrehabilitiert. In den Jahren 1956/1957 bekam Klaus den Auftrag für zwei Graffiti im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien, die laut Zambal bis heute dort hängen: „Krieg und Frieden“.

In Waidhofen ist der Künstler bis heute präsent, zuletzt mit einer Klaus-Ausstellung im Rathaus anlässlich seines 50. Todestages 2013, auch ein Weg ist nach ihm benannt. „Er ist also wieder in die Gesellschaft eingegliedert worden.“ Immerhin bleibt die Geschichte des Bildes derzeit erhalten, indem man zumindest bei Stadtführungen laut Zambal mit dem Thema „offen umgeht“.
11.04.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at

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Entnazifizierung: Rot-Weiß-Rot statt Hakenkreuz
 

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#31
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1950: Als Österreich gefühlt an der Kippe stand
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Steigende Lebensmittelpreise sorgten im Herbst 1950 für eine massive Streikwelle, auch in Wiener Neustadt spielten sich dramatische Szenen ab. Die These eines umfassenden kommunistischen Putschversuchs lässt sich gut 70 Jahre später nicht mehr halten.
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„Es war so arg, dass wir nicht mehr wussten, wie es denn eigentlich weitergehen wird“, sagte Hans Barwitzius, einst beim Gewerkschaftsbund und später Wiener Neustädter Bürgermeister (SPÖ), in einem ORF-Interview. In diesen Herbsttagen 1950 standen die meisten Betriebe und der Großteil des Alltagslebens in und rund um Wiener Neustadt still. Vorwiegend kommunistische Streikende hielten die Post besetzt, die Telefonleitungen waren tot, Straßen gesperrt.

Gerüchte gingen um, wie immer in Zeiten der Krise. Und die Bevölkerung hatte Angst, große Angst. Vor offenen Straßenschlachten, vor einem Eingreifen der sowjetischen Besatzungsmacht, vor einer Teilung Österreichs und einem möglichen Ende der Demokratie.

Unterschiedliche historische Auffassungen
Wie berechtigt diese Sorgen waren, darüber haben Historiker im Verlauf der Jahrzehnte häufig diskutiert. Immerhin war binnen weniger Tage von einem Putsch die Rede, den die Kommunisten unter sowjetischer Führung von langer Hand geplant hatten. Diese These lässt sich aus heutiger Sicht nicht länger aufrechterhalten. Doch alles der Reihe nach.

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Stadtarchiv Wr. Neustadt
Diese Aufnahmen zeigen kommunistische Demonstrationen in der Wiener Neustädter Innenstadt…


Stadtarchiv Wr. Neustadt
…im September und Oktober 1950


Die Nachkriegszeit war in Österreich eine Zeit des Mangels. Es gab zu wenige Lebensmittel, zu wenige Maschinen und Investitionen, zu wenige Arbeitsplätze. Zahlreiche Städte waren noch immer von Krieg und Bomben zerstört, allen voran Wiener Neustadt. Hier gab es auch um das Jahr 1950 noch die größten Schäden.

Im besetzten Österreich war die Inflation enorm, Preise für Grundnahrungsmittel stiegen in dramatische Höhen, der wiedereingeführte Schilling war noch nicht stabil. Die Vorläufer der Sozialpartner in Wien versuchten ab 1947, mit sogenannten Lohn- und Preisabkommen gegenzusteuern. Sie sahen vor, die Löhne nur teilweise anzuheben, um keine weitere Inflation zu verursachen. Gleichzeitig wurde der Arbeiterschaft die Deckung der Grundbedürfnisse garantiert.

Doch die Abkommen waren nicht unumstritten. Laufend kam es in den größeren Städten zu Betriebsversammlungen, Kundgebungen und Streiks. Nie war dieser Widerstand allerdings stärker als in den Tagen rund um das vierte Lohn- und Preisabkommen, das am 1. Oktober 1950 besiegelt wurde. Arbeiter bei der VOEST in Linz und später auch etwa in Betrieben in Wien, St. Pölten und Wiener Neustadt legten die Arbeit nieder. Was ursprünglich vom Verband der Unabhängigen (VdU), der Vorläuferpartei der FPÖ, ausging, wurde rasch von den Kommunisten übernommen. Eine führende Rolle nahmen dabei die sogenannten USIA-Betriebe ein.

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Bildarchiv der KPÖ
In Wien demonstrieren Zehntausende gegen das Lohn- und Preisabkommen
Bildarchiv der KPÖ
Vor dem Wiener Ballhausplatz wurde die Stimmung immer aufgeheizter

NS-Industrie in den Händen der Sowjets
Das Unternehmen USIA, eine russischsprachige Abkürzung für die sowjetische Eigentumsverwaltung in Österreich, wurde 1946 gegründet. Es war eine zentrale Säule der Reparationszahlungen nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes. Ehemals nationalsozialistische Firmen und Industriebetriebe wurden von der Besatzungsmacht geleitet, deren Gewinne flossen in die Sowjetunion ab.

161 dieser Betriebe gab es laut Florian Gimpl, der zu diesem Thema seine Diplomarbeit verfasst hat, alleine in Niederösterreich. Von einem Großteil von ihnen ging in diesem Bundesland auch die Streikbewegung 1950 aus. In Zahlen ausgedrückt: Insgesamt beteiligten sich an den Protesten Ende September bzw. Anfang Oktober in Niederösterreich 215 Betriebe mit 54.500 Beschäftigten, 95 Firmen davon bzw. 28.000 Arbeiter waren der USIA zuzurechnen.

In Wiener Neustadt hatte es während der Zeit des Dritten Reichs besonders viel Industrie gegeben, vor allem Rüstungsbetriebe. Hier waren folglich auch etliche Unternehmen von der USIA übernommen worden, darunter die Rax-Werke mit etwa 1.500 bis 2.000 Beschäftigten oder auch die Lichtenwörther Maschinenwerke mit 600 bis 700 Mitarbeitern. Sie bildeten 1950 Hochburgen des Widerstands.

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Industrieviertelmuseum/Stadtarchiv Wr. Neustadt
Die Wiener Neustädter Rax-Werke – hier bei Feierlichkeiten zum 1. Mai 1953 – standen unter sowjetischer Kontrolle…
Industrieviertelmuseum/Stadtarchiv Wr. Neustadt
…genauso wie die Strumpffabrik Paul Mayer

„90 Prozent waren anderer Meinung“
Kommunistische Arbeitervertreter sprachen sich von Beginn an am lautesten gegen das vierte Lohn- und Preisabkommen aus, doch in der Gesamtheit betrachtet waren sie in der Minderheit – zumindest laut Quellen wie Barwitzius, damals sozialistischer Gewerkschafter: „Zehn Prozent waren Kommunisten, 90 Prozent waren immer anderer Meinung.“ Doch plötzlich hätten die Kommunisten einen Generalstreik gefordert. „Da wurde es wirklich gefährlich. Die Trupps der Rax-Werke sind im Lastwagen in die verschiedenen Betriebe vorgefahren und haben dort einfach die Maschinen abgestellt.“

Das schilderte auch Zeitzeugin Grete Sgarz, zu dieser Zeit um die 20 Jahre alt, die damals in der privatwirtschaftlichen Textilfabrik Walek arbeitete: „Wir hatten ab 5.00 Uhr Frühschicht. Nach 9.00 Uhr hörten wir auf einmal, dass die Maschinen ausfallen.“ Zuerst habe man an einen Stromausfall gedacht, „aber auf einmal steht ein fremder Mann da und stellt uns die Maschine ab. Wir vier Frauen, die die Maschine bedient haben, haben uns auf den gestürzt wie Wilde“, doch es habe nichts gebracht. Die Arbeiterinnen wurden heimgeschickt, die Maschinen standen still.

An anderer Stelle wurde bereits versucht, die Mitarbeiter von den Betrieben fernzuhalten. „Wir hatten Frühschicht und fuhren um etwa 4.00 Uhr durch die Wiener Straße“, erzählte Sgarz’ Kollegin Ingeborg Mayerhofer. „Auf einmal war da eine Straßensperre mit Männern, die fragten, wo wir hinwollen. Wir haben uns sehr gefürchtet.“ In diesem Fall kam die Exekutive gerade noch rechtzeitig und die Situation endete glimpflich – doch das war nicht überall der Fall.

Immer mehr Gewalt im Spiel
Tumultartige Szenen spielten sich zu dieser Zeit vielerorts in Österreich ab, nirgends dürfte es so gefährlich gewesen sein wie in Wiener Neustadt. Streikende besetzten dort das provisorisch eingerichtete Postamt und kappten so die Telefonleitungen. Die überforderte Stadtpolizei schritt ein, es kam zu Prügeleien. Etliche weitere Betriebe wurden besetzt, einige leisteten Widerstand, auch hier kam es zu Gewalt.

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Die Zeitungen der damaligen Zeit zeichnen ein deutliches Bild der beiden Lager: Die „Österreichische Zeitung“ der Sowjetarmee etwa berichtet bereits am 27. September von Massendemonstrationen gegen das Lohn- und Preisabkommen
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Bürgerliche Medien, etwa die „St. Pöltner Zeitung“ einen Tag später, berichten hingegen weitaus sachlicher über den Pakt

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Von „unverantwortlichen Elementen“ dürfe man sich nicht verhetzen lassen, warnt „Das kleine Volksblatt“ am selben Tag

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Klargestellt wird einen Tag später immerhin, dass die Fleischpreise nicht weiter steigen sollen

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In die Mitte – wenn auch klar national orientiert – positionieren sich am 1. Oktober die „Oberösterreichischen Nachrichten“

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Doch die Kommunisten sind „zum Streik bereit“, erklärt die „Volksstimme“ am 3. Oktober

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Ein Streik, der von Beginn an fehlschlägt, wenn man dem „Wiener Kurier“ vom 4. Oktober glaubt

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Die sowjetischen Medien sehen das naturgemäß anders, hier etwa am 5. Oktober

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Doch gegen die Niederlage können sie sich nicht mehr stemmen, wie wiederum der „Kurier“ am nächsten Tag berichtet

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Dort spricht man eine Woche später bereits von „kommunistischen Terroraktionen“ samt „Unterstützung durch sowjetische Besatzungsstellen“

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Das „kleine Volksblatt“ geht am selben Tag einen Schritt weiter und bezeichnet die Streiks als kommunistischen Putsch

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In den kommunistischen bzw. sowjetischen Medien ist in diesen Tagen kaum noch etwas zum gescheiterten Streik zu lesen, lediglich die „anti-sowjetische Verleumdungskampagne“ wird „gebrandmarkt“

Daraufhin entschied sich Innenminister Oskar Helmer (SPÖ) in Wien für einen drastischen Schritt. Er schickte die Gendarmerie aus der Bundeshauptstadt nach Wiener Neustadt. Eine klare Verletzung des Besatzungsstatuts, das den Einsatz von ortsfremden Exekutivkräften verbot, erklärte Ferdinand Käs. Der ehemalige Widerstandskämpfer leitete damals diesen Gendarmerieeinsatz und wurde später Sektionschef im Innenministerium.

Heikler Einsatz der Gendarmerie
„Ich habe mich für den Auftrag in Wiener Neustadt damals freiwillig gemeldet. Als politisch denkender Mensch habe ich gewusst, wenn bei dieser Gelegenheit geschossen wird – bei der Wiedereroberung des Postamtes oder bei einer Fabrik –, könnte das das Einschreiten der Besatzungsmacht bewirken.“ Das wiederum hätte womöglich die Teilung Österreichs zur Folge gehabt. „Ich habe meinen Leuten gesagt, es darf erst geschossen werden, wenn ich als erster schieße“, schilderte Käs später in einem ORF-Interview.

Es kam tatsächlich erneut zu Straßenschlachten mit der Polizei. Geschossen wurde zwar nicht, doch die sowjetische Kommandantur mischte sich trotzdem ein. Sie bestellte Käs ein und schickte ihn und seine Männer zurück nach Wien. Käs fügte sich und räumte das Feld. Das Postamt ging wieder an die Streikenden.

Keine Unterstützung für Streikbewegung
Im Endeffekt begannen die Proteste trotzdem nach kurzer Zeit zu bröckeln, nicht nur in Wiener Neustadt. Die Unterstützung in der breiten Bevölkerung fehlte, zu sehr stand diese zur österreichischen Nation, zu sehr hatten allerdings auch die Arbeiterinnen und Arbeiter Angst um ihre Jobs.

„Es waren alle arm und du hast nur eine Lebensmittelkarte bekommen, wenn du arbeiten gegangen bist“, schilderte etwa Zeitzeugin Mayerhofer, „da wollte keiner mit der Arbeit aufhören“. Die Arbeitsplätze seien rar gewesen, die Arbeitslosigkeit hoch. „Da waren wir sehr glücklich, wenn wir eine Stelle bekommen haben, und wollten sie nicht verlieren.“ Die Arbeit sei damals lebensnotwendig gewesen, sagte auch ihre Kollegin Sgarz: „Wir wollten deshalb nicht streiken, wir wollten uns das nicht gefallen lassen.“

Tausende Gegendemonstranten auf dem Hauptplatz
Die Gegner der Streiks in Wiener Neustadt, darunter die sozialistischen und christlichsozialen Gewerkschafter, riefen letztlich zu einer Gegenkundgebung auf. Binnen weniger Stunden strömten Tausende zum Hauptplatz. SPÖ-Politiker Barwitzius erinnerte sich: „Das war eine Begeisterung, wie ich sie mein ganzes Leben nicht erlebt habe. Wir hatten das Gefühl, jetzt sind wir stark. Jetzt zeigen wir es den Russen, jetzt kann nichts mehr passieren.“

Stadtarchiv Wr. Neustadt
Die Streik-Gegner brachten in Wiener Neustadt binnen kürzester Zeit tausende Menschen auf den Hauptplatz

Wie knapp Österreich tatsächlich einer Teilung bzw. der Umwandlung in eine kommunistische Volksdemokratie entgangen war, blieb lange unklar. Erst Jahrzehnte später beleuchtete die Geschichtsforschung die damaligen Ereignisse im Detail. „Ich glaube, man muss 1950 zwei Erinnerungsebenen unterscheiden“, sagt Historiker Oliver Rathkolb vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien heute. Auf der subjektiven Ebene hätten die Menschen damals sehr wohl Angst vor einer Teilung gehabt, vor dem Ende des geeinten Österreichs. In Wien etwa, wo sich Spitzenpolitiker einer Masse an aufgebrachten Demonstranten gegenüber sahen, aber auch in Wiener Neustadt.

Sowjets wollten keine Teilung
Realpolitisch habe sich die Sache aber anders gestaltet – insbesondere nach der Sichtung von alten sowjetischen Dokumenten, sagt Rathkolb: „Man sieht ganz klar, eine Teilung passte nicht ins Konzept der Sowjetunion. Die Sowjetunion wollte damals den Status Quo, also die Besatzungszonen, aufrecht erhalten.“ Priorität hatte für Moskau damals die Deutschlandfrage, Österreich spielte im Vergleich nur eine nachgeordnete Rolle.
So habe die KPÖ etwa bereits 1948 in Moskau angefragt, ob eine Teilung auch für Österreich möglich sei – und sei damit bei den Sowjets abgeblitzt. Die Kommunistische Partei habe sich letzten Endes auch bei den Protesten 1950 verkalkuliert, „da nach einer kurzen Streikpause kein gesamtösterreichischer Protest entstanden ist“, so Rathkolb.

Auswirkungen hatte die gescheiterte Streikbewegung jedenfalls auf die österreichischen Gewerkschaften. Während die Kommunisten bei den Parlamentswahlen der Zweiten Republik von Anfang an enttäuscht hatten, waren diese in den Betriebsräten 1950 noch verhältnismäßig einflussreich. Hier baute die politische Konkurrenz auf die Empörung der Bevölkerung über den angeblichen Putschversuch. „Die sozialistische, aber auch die christlichsoziale Gewerkschaft nutzten die Situation, um die kommunistischen Betriebsräte aus der Gewerkschaft hinauszubekommen“, sagt Historiker Rathkolb. „Da wurde vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs Parteipolitik betrieben.“
15.04.2022, Felix Novak, noe.ORF.at
1950: Als Österreich gefühlt an der Kippe stand
 

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#32
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Als die grüne Grenze zur Todeszone wurde
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Anfang der 1950er-Jahre riegelt die Tschechoslowakei die Grenze zu Österreich immer weiter ab. Dörfer werden umgesiedelt, im kilometerbreiten Grenzstreifen herrscht nun Lebensgefahr. Für die historisch verwachsene Region ist das ein Schock.
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„Die Grenze hatte schon etwas Furchterregendes“, sagt Oliver Rathkolb heute. „Gleichzeitig hat sie einen magisch angezogen.“ In den 1950ern geboren, verbrachte er seine Kindheit und Jugend im nördlichen Waldviertel, direkt am Eisernen Vorhang. Eine prägende Institution für mehrere Generationen, auch für den Historiker. „Es ist wohl kein Zufall, dass meine Dissertation mit dem Kalten Krieg zusammenhängt“, sagt Rathkolb, der mittlerweile zu den führenden Köpfen der österreichischen Geschichtswissenschaften zählt.

Wer nach dem Zweiten Weltkrieg nahe der tschechoslowakischen Grenze aufwuchs, konnte die Weltpolitik vor der Haustüre beobachten. Und an großen weltpolitischen Ereignissen gab es im gesamten 20. Jahrhundert keinen Mangel, auch in der Nachkriegszeit nicht.

Erste Grenze nach Erstem Weltkrieg
Bereits damals verband eine wechselhafte Geschichte das nordöstliche Österreich mit dem Gebiet des heutigen Tschechien und der heutigen Slowakei. Geprägt durch die Zeit der Habsburgermonarchie, gab es zahlreiche familiäre und wirtschaftliche Beziehungen. Diese bestanden auch nach dem Ersten Weltkrieg fort, obwohl nun eine Staatsgrenze Österreich von der neuen Tschechoslowakei trennte.

Die Grenze war zu dieser Zeit noch vergleichsweise einfach zu queren. Bestes Beispiel ist Gmünd, das damals geteilt wurde – der nördliche Teil hieß ab 1920 Česke Velenicé. Zu einem wirtschaftlichen Zusammenbruch führten diese Maßnahmen aber nicht, noch immer war ein länderübergreifender Austausch möglich.

In der NS-Zeit wurde dieser Austausch weiter erleichtert. Nach dem Ende der tschechoslowakischen Demokratie und der Errichtung des sogenannten Protektorats Böhmen und Mähren Ende der 1930er-Jahre „war die Grenze überhaupt offen“, sagt Historiker Rathkolb von der Universität Wien. „Es wurden ja auch Teile des Gebiets einfach dem Gau Niederdonau zugeschlagen – und auch nach 1945 war es noch de facto eine grüne Grenze.“

Sozialistische Wende in der Tschechoslowakei
Der Wandel begann 1948, wenn auch vorerst nur langsam. Die Kommunisten ergriffen in Prag die Macht, damit schloss sich die Tschechoslowakei dem entstehenden Ostblock an. Zu dieser Zeit führte das neue Regime auch erste Strafen für den illegalen Grenzübertritt ein, „aber nach wie vor war die Grenze relativ durchlässig“, sagt Rathkolb.

1949 und 1950 wurden die Gesetze mit immer schärferen Mitteln durchgesetzt. Militärische Grenzwachen wurden installiert, ganze Kompanien an die Grenze verlegt. „Gleichzeitig begann man mit der Errichtung von Zäunen“, erklärt Rathkolb. Dörfer und Kleinstädte wurden ausgesiedelt, das Betreten des kilometerbreiten Grenzstreifens war Unbefugten streng verboten. „Dann kam es auch zur Verlegung von Minen – man merkt also, ab 1950 wurde die Grenze in vielen Bereichen zu einer Todeszone“, so der Historiker.

wikimedia commons/Pudelek (Marcin Szala)CC BY-SA 3.0
Zusätzlich zu den meterhohen Stacheldrahtzäunen – dem Symbol des Eisernen Vorhangs schlechthin – kamen unter anderem auch Minen zum Einsatz

Das Regime in Prag „war mit den zunehmenden Fällen illegaler Grenzdurchbrüche und der großen Anzahl von Personen, welche erfolgreich über die bewachte Grenze flüchteten, unzufrieden“, schreibt auch der slowakische Historiker Peter Mikle in seinem Beitrag für ein Projekt mehrerer deutscher Forschungseinrichtungen. An der Grenze zur heutigen Slowakei wurden die ersten Grenzbefestigungen rund um Bratislava errichtet, nahe den Gemeinden Petržalka, Jarovce, Rusovce und Čunovo. „Es handelte sich um Holzräderzäune mit Stacheldraht in Höhe von zwei bis drei Metern.“

Schießbefehl für die Grenzwache
Formal festgeschrieben wurde der weitere Ausbau der Fluchtabwehranlagen 1951, als das kommunistische Regime in Prag das Gesetz Nr. 69/1951 „Zum Schutz der Staatsgrenze“ verabschiedete. Es verpflichtete jeden Bürger und jede Bürgerin dazu, die tschechoslowakische Grenze zu schützen, und verbot ihnen eine Annäherung ohne behördliche Erlaubnis. Wenig später erlaubte die Regierung in Prag auch ausdrücklich den Einsatz von Schusswaffen, um illegale Grenzübertritte zu verhindern. Es herrschte endgültig Lebensgefahr, ein Fluchtversuch erforderte maximale Risikobereitschaft.

„Mit der Errichtung der Grenzzäune brachen das private und das ökonomische Leben in der Region zusammen“, sagt Rathkolb. Er spricht gleichzeitig von einer „Statistik des Grauens“, wenn es um die Opfer des Eisernen Vorhangs geht. Knapp 50.000 Menschen wurden ab den 1950ern in Grenznähe festgenommen, knapp 150 beim Versuch der Überquerung erschossen, weitere knapp Hundert starben durch Stromschläge. Die meisten Todesopfer gab es allerdings nicht unter den Flüchtigen, sondern unter den Grenzschützern, etwa bei Unfällen mit Minen und als Folge von Schussverletzungen.

Ein Grenzschützer verlässt seinen Posten
Bereits kurz nach der Befestigung Anfang der 50er-Jahre kam es im äußersten Norden und Osten von Österreich zu aufsehenerregenden Fluchtversuchen und zu tödlichen Zwischenfällen. Zwei dieser Geschichten handeln von Alois Jeřábek und Emil Švec. Jeřábek, 1927 in Brno geboren, war Soldat der tschechoslowakischen Grenzwache. Nach mehreren Monaten im Einsatz entschied er sich, zu desertieren. Im Jänner 1953 wagte er die Flucht über die Grenze nach Österreich.

Archiv des Sicherheitsdienstes
Alois Jeřábek wurde nach seinem Fluchtversuch verhaftet und hingerichtet

„Er nahm dem Schützen, der mit ihm auf Wache war, das Patronenmagazin weg, damit dieser nicht auf ihn schießen konnte“, sagte der tschechische Militärhistoriker Ivo Pejčoch einmal gegenüber Radio Prague International, dem Auslandssender des öffentlich-rechtlichen tschechischen Rundfunks.

Als er das österreichische Staatsgebiet erreichte, habe er sich in Sicherheit geglaubt. „Aber die nächste Patrouille verfolgte ihn und bei einer Schießerei ziemlich tief im österreichischen Hinterland wurde er in die Lunge getroffen“, sagte Pejčoch. Die früheren Kameraden brachten den flüchtigen Deserteur zurück in die Tschechoslowakei "und im Dezember 1953 wurde er nach einem politischen Prozess hingerichtet“.

Flucht mit dem Flugzeug zur Schädlingsbekämpfung
Wenige Jahre später, 1959, flüchtete Emil Švec in einer spektakulären Aktion nach Österreich, in diesem Fall vom Gebiet der heutigen Slowakei aus. Als Widerstandskämpfer gegen das kommunistische Regime war er bereits zu sechs Jahren Haft verurteilt worden. Nach seiner Entlassung entschied er sich zur Flucht – der „abenteuerlichsten“, wie die Austria Presse Agentur am 3. August 1959 schrieb: „Er hat auf dem Flugplatz in Senica eine Maschine vom Typ ‚Fieseler Storch‘, die zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt war, gestohlen und war damit über dem Grenzgebiet von Hohenau nach Österreich geflogen. Er landete heute kurz nach 04.00 Uhr in der Nähe von Wilfersdorf im Bezirk Mistelbach und bat die dortigen Gendarmeriebeamten um politisches Asyl.“

wikimedia commons/Archiv der Gerhard-Fieseler-StiftungCC BY-SA 3.0
Bei seiner Flucht verwendete Švec eine umgerüstete Militärmaschine des ursprünglich deutschen Flugzeugtyps „Fieseler Storch“

Später erzählte Švec, die Gendarmeriebeamten hätten ihm die Geschichte zuerst gar nicht geglaubt. Auf seine Erklärung, er sei gerade mit einem Flugzeug aus der Tschechoslowakei geflohen und auf einem Acker gelandet, hätten sie ihn nur verblüfft angestarrt und „Wooos?“ gesagt, schilderte er kurz vor seinem Tod gegenüber der „Presse“. Angeblich seien damals bereits tschechoslowakische Jagdflugzeuge aufgestiegen, um seine gestohlene Maschine abzuschießen.

Drei Jahre nach seiner Flucht, als er bereits in Wien lebte, wurde Švec vom tschechoslowakischen Geheimdienst mit einem Vorwand an die Grenze gelockt. Ein Spezialkommando entführte den politischen Flüchtling, in seiner früheren Heimat landete er erneut im Gefängnis.

ORF
Der hohe Grenzzaun war in Gmünd Teil des Stadtpanoramas und in den Köpfen der Bevölkerung ständiger Begleiter

Neue Normalität für Bevölkerung „am Ende der Welt“
Die zunehmende Todesgefahr an der Grenze war auch der österreichischen Bevölkerung bewusst, nicht zuletzt jener in Gmünd. Immer wieder starben Menschen in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Siedlungen, insbesondere nach dem Prager Frühling 1968. Die Gmünder sahen das Flutlicht der Grenzanlagen, vereinzelt waren auch Schüsse zu hören.

Trotz stetiger Abwanderung blieben in den Jahren nach der Abschottung große Teile der Bevölkerung in der kleinen Stadt am Ende der westlichen Welt. Sie lernten mit der neuen Situation zu leben – die Grenze wurde langsam ein Teil von ihnen. Zugleich verblassten die jahrzehntelangen Erinnerungen an die andere Seite der Grenze immer mehr. Letztlich verschwand Česke Velenicé vollends hinter dem scheinbar endlosen Stacheldrahtzaun.
18.04.2022, Felix Novak, noe.ORF.at
Als die grüne Grenze zur Todeszone wurde
 

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#33
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Als Österreich das letzte Mal Hunger litt
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Heute ist eine Versorgung mit Grundnahrungsmitteln selbstverständlich, aber noch vor 75 Jahren gab es Hunger, auch in Niederösterreich. Selbst Jahre nach dem Krieg, Anfang der 1950er, schrieben die Behörden zwei vegetarische Tage pro Woche vor.
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„Wir hatten in Wr. Neustadt fast gar nichts zum Essen“, berichtete Zeitzeugin Maria Stummfoll. Der Hunger sei in diesen Wochen und Monaten sehr groß gewesen. „Mein Kind war sehr krank, sie war im Spital mit der Ruhr, und wir hatten keine Milch, wir hatten nichts.“ Der Arzt habe gemeint, „wenn sie nicht bald Milch und Zucker bekommt, stirbt sie mir“, erzählte Stummfoll unter Tränen im Interview für die Dokumentation „Österreich II“ von Journalistenlegende Hugo Portisch. „Da war ich gezwungen, hinaus aufs Land zu gehen, um zu schauen, dass ich Milch bekomme. Die Bauern waren aber nicht freundlich zu uns, sie haben uns oft die Tür zugemacht oder haben uns weggejagt.“

Häufig sei die junge Mutter damals 20 Kilometer zu Fuß gegangen, nur um das Allernotwendigste zu erhalten. „Am liebsten war den Bauern, wenn man ihnen Gold gegeben hätte, aber das haben wir leider nicht gehabt.“ Sie habe schon früh ihre goldene Armbanduhr hergegeben, „dafür habe ich einen Kilo Zucker bekommen, damit mein Kind überleben konnte. Es war ganz, ganz furchtbar“, sagte Stummfoll.

„Ein großes Sorgenkind außer Wien war Wr. Neustadt, denn diese Stadt war ja fast vollständig zerstört und aller Hilfsquellen entblößt“, erinnerte sich Andreas Korp, der in der ersten Zeit für die Lebensmittelversorgung in der neuerrichteten Zweiten Republik verantwortlich war, später in einem ORF-Interview. Fast täglich sei der damalige Bürgermeister Rudolf Wehrl (SPÖ) zu ihm gekommen, um Lebensmittel für seine Stadtbevölkerung zu erbitten.
Stadtarchiv Wiener Neustadt
Wr. Neustadt wurde bei den Luftangriffen der Alliierten in den letzten Kriegsjahren am schwersten beschädigt

Keine Hilfe von oben und außen
Die Situation rund um Wien war in den Tagen der Befreiung vielerorts dramatisch. Infrastruktur war zerstört, landwirtschaftliche Flächen lagen zum Teil brach, Lebensmittellager der Zivilbevölkerung wurden von Soldaten aller Länder geplündert. Die Funktionäre der NS-Verwaltung waren entweder geflüchtet, verhaftet oder tot, die alliierten Kräfte und die Vertreter des neuen Österreichs konnten sie nicht so schnell ersetzen. Dadurch war die Bevölkerung in erster Linie auf sich selbst gestellt, jeder musste auf die eigenen Vorräte und sein Netzwerk zurückgreifen.

In den Geschichtsbüchern werde die Befreiung meist als großer Umbruch dargestellt – „wenn man sich die Zeit allerdings aus der Alltagsperspektive der Bevölkerung anschaut, dann war es weniger ein Einschnitt als vielmehr eine Kontinuität der Mangelgesellschaft“, sagt Wirtschafts- und Sozialhistoriker Ernst Langthaler von der Johannes-Kepler-Universität Linz. Bereits in den letzten Kriegsjahren hätten die zugeteilten Lebensmittelmengen abgenommen „und das setzt sich in den ersten Nachkriegsjahren fort“, so Langthaler.

ORF
Die Österreicherinnen und Österreicher hatten in der Nachkriegszeit meist nur rudimentäre Gerätschaften zur Verfügung

Doch auch die Bauern hatten Schwierigkeiten. Die Kriegshandlungen im Frühjahr 1945 fielen ausgerechnet in die übliche Anbauzeit, dadurch kam es in etlichen Regionen zu Ernteausfällen. Außerdem fehlten die Arbeitskräfte, sagt auch Historiker Ernst Bruckmüller von der Universität Wien. Die überlebenden Männer seien erst im Lauf der nächsten Jahre zurückgekommen und „die Frauen und Mädchen trauten sich nicht auf die Felder“.

Eine Aushilfe hätten die „volksdeutschen“ Flüchtlinge und Vertriebenen aus Rumänien und der Tschechoslowakei geboten – „sie mussten an sich nach Deutschland gehen, aber der Landwirtschaftsminister wollte sie möglichst lange hier behalten“, sagt Bruckmüller.

Lebensmittelmarken bestimmen den Alltag
Die wenigen Lebensmittel, die über der Theke abgegeben wurden, waren nur gegen Marken zu bekommen. Das Rationierungssystem mit Lebensmittelkarten hatte es bereits während des Kriegs gegeben, die Besatzungsmächte führten es nach kurzer Zeit erneut ein. Unklar war zuerst, in welchem Ausmaß die vier Alliierten für die Lebensmittelversorgung verantwortlich waren, insbesondere für jene in Wien. Nach einigen Monaten, in denen die Sowjets im Osten alleine zuständig waren, einigte man sich darauf, dass jeder für seine eigene Besatzungszone sorgen müsse. Für Wien bedeutete das vier Lebensmittellieferanten.
wikimedia commons/Lestat (Jan Mehlich)CC BY-SA 3.0
Bereits in der NS-Zeit gab es eine Begrenzung der Nahrungsmittelvorräte

Das System der Lebensmittelkarten wurde in den folgenden Jahren immer wieder angepasst; so wurden im zeitlichen Verlauf immer mehr Berufsgruppen unterschieden, die Anspruch auf unterschiedliche Rationen hatten, je nach körperlicher Belastung. Voraussetzung für einen Anspruch war schon nach kurzer Zeit der Arbeitswille – wer also nicht arbeiten wollte oder diesen Willen nicht glaubwürdig machen konnte, der drohte zu verhungern.

„Nicht einmal Hälfte des Minimums zum Vegetieren“
Für Normalverbraucher waren 1945 nur etwa 800 Kalorien pro Tag vorgesehen. Die Folge: Jeder, der sich nicht anderweitig Lebensmittel besorgen konnte, hungerte. Man habe „nicht einmal die Hälfte des Minimums zum Vegetieren“, beklagte Staatssekretär Korp damals.

„Von 800 Kalorien kann man nicht überleben“, sagt auch Historiker Langthaler. Hunger habe daher für die Arbeiter und die ländliche Unterschicht zum Alltag gehört. „Ein Gutteil des Tagesablaufs bestand darin, sich die tägliche Ernährung zu organisieren, wie das damals hieß“, so Langthaler. Neben offiziellen Marken und dem Schwarzmarkt habe dazu auch das Betteln und Stehlen gehört: „Lebensmitteltransporte wurden überfallen und geplündert, einfach aus der Not heraus“.

Die Todesfälle häufen sich
Im Herbst 1945 war klar, dass die Ernte nicht ausreichen würde und dringend Lebensmittel aus dem Ausland gebraucht wurden. Schlimmer noch als in der Bundeshauptstadt war die Situation in den größeren niederösterreichischen Städten: „Die Ernährungslage Niederösterreichs ist katastrophal. Die Bevölkerung, besonders in den industriellen Bezirken Wr. Neustadt, St. Pölten, Baden und Neunkirchen, leidet seit Monaten Hunger und es häufen sich die Todesfälle, die auf Hungerödem zurückgehen“, schrieb das Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) in einer damaligen Einschätzung.

„Unter Bedachtnahme auf die unzureichende Nahrungsmittelaufbringung wurden für das Land Niederösterreich Rationssätze festgelegt, die weit unter den für Wien geltenden Normen liegen und nicht nur für eine Reproduktion der Arbeitskraft, sondern auf die Dauer auch für die Erhaltung des Lebens völlig unzureichend sind“, schrieb das WIFO, „aber selbst diese weit unter dem physiologischen Mindestbedarf bemessenen Rationen können nicht eingehalten werden“.


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Leopold Figl ( l.) musste sich als Bundeskanzler in den Anfangsjahren der Zweiten Republik immer wieder um die Lebensmittelversorgung kümmern

Internationale Hilfe sichert Überleben
Auch 1946 und 1947 seien die Ernten noch schlecht gewesen, sagt Bruckmüller: „Trockene Vegetationszeiten und sehr kalte Winter bedeuteten geringe Erträge an Getreide und Erdäpfeln.“ Mit der eigenen Produktion konnte Österreich nur ein Drittel des Nahrungsmittelbedarfs decken, ergänzt Historikerkollege Langthaler. Dass die Menschen in den Städten nicht massenhaft verhungerten, lag nur an Hilfslieferungen aus dem Ausland.

Anfang 1946 trafen die ersten Transporte der Vereinten Nationen (United Nations Relief and Rehabilitation Administration; kurz: UNRRA) ein. Neben Lebensmitteln wurden auch landwirtschaftliche Maschinen geliefert – knapp 14.000 alleine für Betriebe in Niederösterreich und Wien, wie es bei der Landwirtschaftskammer heißt.

Erst 1948 besserte sich die Situation spürbar, „vor den Wahlen 1949 konnten einige Nahrungsmittel schon ohne Karten bezogen werden“, sagt Bruckmüller. Während die Landbevölkerung sich mittlerweile wieder ohne größere Probleme versorgen konnte, ging der Hunger in den Städten vielfach weiter. Zu knapp war das Angebot der offiziell „aufgerufenen“ Waren, die man mit Lebensmittelkarten beziehen konnte.

Neue Blüte für den Schwarzmarkt
Immer größere Bedeutung kam mittlerweile dem inoffiziellen Geschäft zu. „Die drakonischen Strafen der Nationalsozialisten hielten den Schwarzmarkt bis 1945 in Grenzen, die junge Republik ging weniger wild dagegen vor“, so Historiker Bruckmüller, der in St. Leonhard am Forst (Bezirk Melk) aufgewachsen ist.

Sein Großvater „fuhr als Fleischhauer und Viehhändler jede Woche nach Wien, mit Schlachtvieh, und nahm zuweilen etwas für den Schwarzmarkt mit“. Bruckmüllers Vater habe so etwa für ein Stück Geselchtes einen Wintermantel erworben. „In Wien gab es eine recht arme Großtante, die von einem Stück Speck, das sie ‚schwarz‘ aus St. Leonhard erhalten hatte, wochenlang zehrte. Sie schnitt sich täglich nur ein winziges Stück herunter, gerade für den Geschmack und ein wenig Kraft“, erzählt der Historiker aus seiner Familiengeschichte.

In den Jahren nach Kriegsende gingen umgekehrt die Städter immer wieder aufs Land, um zu „hamstern“, so Bruckmüller: „Da wechselte manches Schmuckstück den Besitzer gegen ein wenig Mehl oder Erdäpfel.“ Auch dabei musste man aber vorsichtig sein: Größere Mengen Gemüse, Obst oder gar Fleisch wurden auf dem Weg nach Wien beschlagnahmt.

Die Versorgungslage wurde zwar im Lauf der Zeit besser, „zu Beginn der Fünfzigerjahre beginnen dann schon Phänomene, die in den Medien als Fresswelle bezeichnet werden“, so Langthaler. „Es begann dann tatsächlich eine Zeit, in der sich zumindest der Mittelstand luxuriöseres Essen leisten konnte. Dadurch wurden Schnitzel und Schweinsbraten von einem weit entfernten Traum zu etwas, das man sich immer öfter leisten konnte.“

Kampf gegen „illegales Schnitzel“
Gerade hier, beim Fleisch, kam es 1951 allerdings noch einmal zu Engpässen. Das „Wirtschaftsdirektorium“ aus Vertretern der Regierung und der Sozialpartner versuchte gegenzusteuern. Der Dienstag und der Freitag wurden zu „fleischlosen Tagen“ erklärt, an denen Verkauf und Zubereitung von Fleisch verboten waren, sowohl im Handel und der Gastronomie als auch in privaten Haushalten. „Das Wirtschaftsdirektorium rechnet mit der Einsicht der gesamten Bevölkerung (…), da sonst das Lebensmittelbewirtschaftungsgesetz mit allen Strafbestimmungen in Anwendung gebracht werden müßte“, hieß es am 21. August 1951 in der „Wiener Zeitung“.

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Kritik daran kam aus unterschiedlichen Richtungen. Die „Österreichische Zeitung“ der KPÖ nannte die Maßnahme „Augenauswischerei“. Aufgrund der hohen Lebensmittelpreise gebe es „für die breite Masse der Werktätigen schon jetzt nicht zwei, sondern mindestens fünf fleischlose Tage in der Woche“.

Die „Salzburger Nachrichten“ orteten als Ursachen der „Fleischkrise“ Misswirtschaft und Preistreiberei der Bauern: „In Wien sah man seit zwei Wochen kein einziges Schwein mehr auf dem Viehmarkt von St. Marx. Aber ‚unter der Budel‘ und in jeder Gaststätte gibt es Schweinefleisch, freilich überteuert.“ Ungeklärt sei, „wie die Behörden diesen Beschlüssen Wirksamkeit zu verschaffen gedenken, außer sie wollten an den Dienstagen und Freitagen ‚Häferlgucker-Rollkommandos‘ auf die Hausfrauen und Bäuerinnen loslassen“, schrieben die „Salzburger Nachrichten“ süffisant.

ORF
Offiziell gehandeltes Fleisch war Anfang der Fünfzigerjahre Mangelware

Trotz des Widerstands blieben die erzwungenen vegetarischen Tage bis 1952 aufrecht. Allerdings: „Die allgemeine Wirtschaftslage verbesserte sich ab Beginn der 1950er-Jahre stetig“, heißt es bei der Landwirtschaftskammer. „Angetrieben wurde diese Entwicklung durch die Stabilisierung des Schillings, die auch den Anstieg von Löhnen und Preisen eindämmte.“

Der Beginn der „Hörndlbauern“ und „Körndlbauern“
Doch auch in der Landwirtschaft entspannte sich die Lage. Kriegsgefangene kehrten zurück „und auch Betriebsmittel für die Landwirtschaft waren wieder besser verfügbar, also Treibstoff, Handelsdünger und Maschinen“, sagt Historiker Langthaler. Damit habe eine Spezialisierung begonnen, die bis heute andauert. „Das, was wir unter dem Begriff ‚Hörndlbauer‘ und ‚Körndlbauer‘ kennen, also Bauern, die sich entweder auf Viehhaltung oder Getreidebau spezialisieren, das zeichnete sich ab den Fünfzigerjahren ab.“

1953 schließlich wurde das System der Lebensmittelkarten komplett abgeschafft, Nahrungsmittel konnten von nun an frei verkauft werden. Spätestens jetzt war der – hoffentlich – letzte große Hunger in Österreich Geschichte.
22.04.2022, Felix Novak, noe.ORF.at
Als Österreich das letzte Mal Hunger litt
 

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#34
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Als der Kamp eine Region unter Strom setzte
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In den 1950ern, der Anfangszeit des Eisernen Vorhangs, war es für das Waldviertel schwierig, vom Aufschwung zu profitieren. Ein wirtschaftliches Großprojekt – die Kraftwerkskette am Kamp – sollte die Region auf mehrere Arten beleben.


EVN Archiv, Maria Enzersdorf
Arbeiterwohnlager, Kraftwerk Ottenstein (9. Mai 1955)

EVN Archiv, Maria Enzersdorf
Schalthaustrakt, Kraftwerk Ottenstein (13. Juli 1955)

EVN Archiv, Maria Enzersdorf
Wachsende Blöcke von der Wasserseite, das Krafthaus im Hintergrund, Sperre Ottenstein (9. September 1955)

EVN Archiv, Maria Enzersdorf
Krafthauskeller, Kraftwerk Ottenstein (1. Dezember 1955)

EVN Archiv, Maria Enzersdorf
Baustelle mit Krafthaus, Staumauer und Betonfabrik, Kraftwerk Ottenstein (5. Dezember 1955)

EVN Archiv, Maria Enzersdorf
Turbinengehäuse, Kraftwerk Ottenstein (11. April 1956)

EVN Archiv, Maria EnzersdorfF
Abend der Eröffnung, Kraftwerk Ottenstein (6. Juli 1957)

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Als der Kamp eine Region unter Strom setzte
 

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#35
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Als Wien plötzlich um drei Viertel schrumpfte
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In der NS-Zeit war Wien die flächenmäßig größte Stadt des „Dritten Reichs“. 1938 hatten die Nationalsozialisten fast 100 niederösterreichische Orte eingemeindet. Erst 1954 war dieses Experiment zu Ende. Wien schrumpfte – doch skurrile Spuren blieben bis heute.
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„Logisch war es nicht wirklich“, sagt Historiker Christian Rapp vom Haus der Geschichte Niederösterreich in einer ORF-Dokumentation über die NS-Pläne eines „Groß-Wien“. Raumplanerisch sei dieses Vorhaben überhaupt nie sinnvoll gewesen – „Wien war mehr oder weniger eine stagnierende Stadt ohne ein riesiges Wachstum“.

Trotzdem beschloss die nationalsozialistische Führung bereits kurze Zeit nach dem „Anschluss“ 1938 eine Maßnahme enormen Umfangs. Vorbilder waren frühere Pläne, die die Nationalsozialisten nach der Machtergreifung 1933 in Deutschland umgesetzt hatten, etwa jene eines „Groß-Hamburg“ 1937. Auf lokale und regionale Befindlichkeiten nahm man hier wie dort kaum Rücksicht.

Am 15. Oktober 1938 trat in Wien die größte Neuordnung seit Jahrzehnten in Kraft. 97 Gemeinden aus dem niederösterreichischen Umland waren von einem Tag auf den anderen Teil der Metropole, darunter Schwechat, Klosterneuburg und Mödling. Das Stadtgebiet reichte von Fischamend bis Purkersdorf, von Guntramsdorf bis Enzersfeld. Zum Teil ländlich geprägte Ortschaften wurden zu neuen Bezirken zusammengefasst – statt 21 gab es von nun an 26 von ihnen in Wien.

Kartogr. Anstalt G.Freytag & Berndt A.G.
Die Dimensionen des damaligen „Groß-Wien“ muten aus heutiger Sicht gigantisch an

Per Federstrich zur sechstgrößten Stadt der Welt
Die ehemalige österreichische Bundeshauptstadt zählte plötzlich gut 200.000 Einwohnerinnen und Einwohner mehr, damit knackte sie erstmals seit dem Ende der Monarchie die Zwei-Millionen-Marke. Wien war nun die sechstgrößte Stadt der damaligen Welt. Noch eindrucksvoller waren die Dimensionen der Gebietserweiterung: Die Stadt war plötzlich fünfmal so groß wie zuvor, mit mehr als 1.200 Quadratkilometern wurde aus Wien die flächenmäßig größte Stadt des sogenannten Dritten Reichs.

„Es war nicht die Liebe der Nationalsozialisten zu Wien, das kann man auf jeden Fall sagen“, erklärt Werner Michael Schwarz, Historiker des Wien Museums, in der ORF-Doku. Vielmehr hätte die NS-Führung bereits militärische Absichten verfolgt, Wien sollte zu einer Kasernenstadt mit Flughäfen und anderer militärischer Infrastruktur werden. „Es ging hauptsächlich um den schon geplanten Krieg“, sagt Schwarz. So wurde etwa bereits kurz nach dem „Anschluss“ 1938 mit dem Bau eines militärischen Flugplatzes auf dem Gebiet des heutigen Flughafens Wien-Schwechat begonnen.

ÖNB/Anno
Die gleichgeschalteten Medien begrüßten die Pläne der Nationalsozialisten

Als politische Hauptstadt sei Linz in der NS-„Ostmark“ bevorzugt worden, Wien sollte eher den Status einer deutschen Kulturhauptstadt bekommen, sagt Heide Liebhart, Leiterin des Bezirksmuseums Liesing. Der heutige 23. Wiener Gemeindebezirk trug beispielsweise damals die Nummer 25 und umfasste neben der bisherigen niederösterreichischen Stadt Liesing auch unter anderem die Gemeinden Atzgersdorf, Breitenfurt, Perchtoldsdorf und Siebenhirten.

U-Bahn bis nach Mauer und Inzersdorf
„Dieser Teil von ‚Groß-Wien‘ war bis zum Kriegsende ein besonders großflächiger Bezirk“, so Liebhart. Hier habe es unterschiedliche Industriezweige gegeben, „aber für die Nationalsozialisten war der Bezirk hauptsächlich wegen des Erdöls interessant – man hatte ja in Vösendorf ein großes Ölfeld – und wegen der weiten Flächen für militärische Planungen“.

Im Stadtgebiet ihres „Groß-Wien“ planten die Nationalsozialisten zahlreiche Großprojekte – „Monsterprojekte“, wie Liebhart sie nennt. Unter anderem sollte damals ein großes U-Bahn-Netz entstehen. „Von der Wiener Innenstadt heraus bis nach Mauer sollte eine Linie fahren“, erzählt die Historikerin. „Eine zweite Linie sollte vom Stadtzentrum bis nach Inzersdorf geführt werden. Beides wurde aber nie umgesetzt.“

Bezirksmuseum Hietzing
Die Pläne einer U1 und einer U3 in den Süden von Wien wurden in dieser Form nie umgesetzt

Mit voller Kraft zurück zum Jahr 1937?
Nach dem Untergang des NS-Regimes und der Befreiung durch die Sowjets 1945 stellte sich rasch die Frage, wie sich Wien, nunmehr erneut Bundeshauptstadt, weiter entwickeln sollte. Sollte man die NS-Pläne eines „Groß-Wien“ rückgängig machen? Die neuen demokratischen Organe und die Besatzungsmächte beantworteten diese Frage mit einem klaren „Jein“.

Wien wollte das größere Stadtgebiet anfangs zwar nicht abgeben, doch die Alliierten sahen in ihrem Zonenabkommen eine Rückabwicklung hin zu den Grenzen des Jahres 1937 vor. Das führte zu einer skurrilen Situation: Für die Besatzungszonen galten diese Grenzen bereits wieder, für die Stadtverwaltung aber nicht – dort gab es immer noch 26 Bezirke.

„Sie musste sich also um das ganze Gebiet zwischen Schwechat und Klosterneuburg, Purkersdorf und Groß-Enzersdorf kümmern, auch planerisch und baurechtlich“, schrieb Stadthistoriker Kurt Stimmer in einer Abhandlung über die Stadtplanung der Nachkriegszeit. „In der Praxis bedeutete dies, dass die Grenzen in manchen Außenbezirken quer durch einen Bezirk verliefen. So war der Bezirk Penzing französisch, aber die Bezirksteile Hadersdorf-Weidlingau und Purkersdorf sowjetisch. Simmering war britisch, der Bezirksteil Albern jedoch sowjetisch.“

ORF/Felix Novak
Der Hans-Werndl-Hof, heute im 23. Wiener Gemeindebezirk gelegen, wurde im Jahr 1928 im niederösterreichischen Atzgersdorf mit Geld aus Wien errichtet. Die Planungen stammten noch aus der Zeit vor der Trennung der Bundesländer 1922. Benannt wurde der Komplex 2015 nach dem sozialdemokratischen Atzgersdorfer Bürgermeister der Zwischenkriegszeit, der damals auch Abgeordneter des niederösterreichischen Landtags war

Eine „österreichische“ Lösung
Im November 1945 wurde die Situation noch komplizierter – und skurriler. „Mehrere Orte, die 1937 zu Niederösterreich gehört hatten, aber mit Wien eng verbunden waren, wurden Wiener Wahlkreisen angeschlossen“, schrieb Stimmer. „Nun gab es bereits drei unterschiedliche Grenzen zwischen den beiden Bundesländern.“ Bald sollte es noch eine vierte geben. Nach zahlreichen Diskussionen einigten sich die Landtage für Niederösterreich und Wien im Juni 1946 gemeinsam mit dem Nationalrat auf ein „Gebietsänderungsgesetz“, das zwei Monate später in Kraft treten sollte. Es sah eine „Ausgemeindung“ von 80 Orten vor, 17 sollten bei Wien bleiben.

Doch bis zur tatsächlichen Umsetzung sollte es noch Jahre dauern. Nun waren die Sowjets, die am meisten betroffen gewesen wären, doch dagegen. Sie wollten schlicht die Zonengrenzen nicht neu ziehen – immerhin war die Bundeshauptstadt zu diesem Zeitpunkt viergeteilt, bei einer Rückabwicklung hätte es daher völlig neue Zonenabschnitte gegeben – laut Stimmer „zum Nachteil der sowjetischen Zone“.

Republik Österreich
1946 wurde das „Gebietsänderungsgesetz“ beschlossen, erst 1954 schaffte es allerdings den Weg ins Bundesgesetzblatt

Schwierige Zeit für Lokalpatrioten
Gänzlich anderer Meinung war man in so mancher betroffener Ortschaft – zu stark war in Teilen der Bevölkerung der Lokalpatriotismus. Friedrich Paast, Ortschef in Maria Enzersdorf, zeigte sich später in einem ORF-Interview entrüstet: „Das, was bei der Eingemeindung passiert ist, war doch eine Vergewaltigung. Wir hatten einfach das Gefühl, wir gehören seit jeher zu Niederösterreich.“

Aufgrund der formalen Zugehörigkeit zu Wien habe er nicht den Bürgermeistertitel getragen, sondern jenen des Ortsvorstehers: „Wir haben uns sehr selbstständig gefühlt. Ich war dann aber Bürgermeister von einer Ortschaft, die nicht selbstständig war.“ Maria Enzersdorf und die anderen Gemeinden im Umland seien lediglich die „Fassung der Perle Wien“ gewesen, „wie es damals so großsprecherisch geheißen hat“, erinnerte sich Paast Anfang der 1980er-Jahre in einem Interview für die Dokumentation „Österreich II“.

Geld für den Wiederaufbau habe es in dieser Zeit kaum gegeben: „Wir waren in jeder Hinsicht abhängig von Wien und Wien hatte selbst so viele Sorgen.“ In den innerstädtischen Bezirken habe es enorm viel Zerstörung gegeben, weitaus mehr als am Stadtrand. In Maria Enzersdorf etwa habe es nur fünf vollständig zerstörte und 122 beschädigte Häuser gegeben – „das ist kein Vergleich“, so Paast: „Die hatten wahrhaftig andere Sorgen als wir und dachten natürlich zuerst an sich selbst.“
Bezirksmuseum Hietzing
1948 war „Groß-Wien“ auf der Karte immer noch klar zu erkennen

Parteipolitische Schachzüge in Gemeinden und Ländern
„Die Rückgliederung der Gemeinden nach Niederösterreich war nicht ganz so friktionsfrei, wie das heute aussieht“, sagte Historiker Johannes Hawlik einst in einem ORF-Interview. „Einige Gemeinden wollten bei Wien bleiben und einige Gemeinden wollten wieder weg.“ Entscheidend war nicht nur das regionale Zugehörigkeitsgefühl, sondern auch die Parteipolitik.

Manche Orte waren von Industriebetrieben geprägt und damit meist sozialdemokratisch, andere eher landwirtschaftlich und damit konservative Hochburgen. Ein politischer Drahtseilakt: Auf der einen Seite wollten die ÖVP- bzw. SPÖ-dominierten Bundesländer keine Wählergruppen des politischen Mitbewerbs aufnehmen, auf der anderen Seite fürchteten die Gemeinden, sich plötzlich im Land des parteipolitischen Gegners wiederzufinden.

Proteste, vor allem in Schwechat, zeigten keine Wirkung. Die Stadt Wien sah sich bei der neuen Aufteilung grob benachteiligt und tat dies auch in Form einer einstimmigen Resolution kund: Der Wiener Landtag erklärte „als Vertreter der gesamten Wiener Bevölkerung, dass diese Festsetzung der Grenzen nicht den Bedürfnissen der Stadt Wien und dem Willen der Bevölkerung entspricht. Große Siedlungsgebiete der werktätigen Bevölkerung der Stadt Wien werden durch die im Gesetz vorgesehenen Gebietsänderungen von der Stadt Wien abgetrennt, obzwar die Bevölkerung dieser Gebiete fast einhellig dagegen Stellung genommen hat“ – insbesondere jene in Schwechat.


ORF
Die Orte rund um Wien waren zum Teil städtisch, zum Teil ländlich geprägt

Stadtplaner „wussten nicht, wofür sie planten“
Erst acht Jahre nach dem entsprechenden Gesetz fand Österreich einen Kompromiss mit den sowjetischen Besatzern. Bis dahin „dauerte der Zustand, dass die betroffene Bevölkerung in Unsicherheit über die Zuständigkeit verschiedener Behörden lebte und die Stadtplaner nicht wussten, für welches Gebiet sie planten“, schrieb Stimmer.

Am 1. September 1954 gab die Sowjetunion ihr Veto auf. Der Staatsvertrag war zu dieser Zeit bereits absehbar, zur Überbrückung wurde eine Zwischenlösung mit Konstruktionen gefunden, „die verhinderten, dass sowjetisch besetzte Orte zu einer anderen Zone kamen. So wurden z.B. vorläufig Albern zum 2. Bezirk und Hadersdorf-Weidlingau zum 10. Bezirk gerechnet“, hielt der Historiker fest.

ORF
Ihren eigenen „Österreich ist frei“-Moment erlebten die Klosterneuburger schon 1954

Schräge „Groß-Wien“-Relikte der Gegenwart
Damit war das nationalsozialistische „Groß-Wien“ endgültig Geschichte. Einige Überbleibsel dieser Pläne sind allerdings noch heute zu sehen. So stehen etwa in den niederösterreichischen Gemeinden Breitenfurt und Groß-Enzersdorf Wohnhausanlagen „der Gemeinde Wien“, die Anfang der 1950er-Jahre im Stadtgebiet errichtet wurden.

Ein weiteres skurriles Relikt von „Groß-Wien“ war der Bezirk Wien-Umgebung, der vier völlig isolierte Gebiete rund um die Bundeshauptstadt umfasste. Ende 2016 wurde er aufgelöst – und ganz neue Possen begannen – mehr dazu in Ansturm auf „WU“-Wunschkennzeichen (noe.ORF.at; 31.1.2017).

Noch ein Projekt, das ursprünglich von den Nationalsozialisten geplant worden war, sorgt heute weiterhin für Schlagzeilen. Sie wollten zusätzlich zur Westautobahn einen Autobahnring rund um „Groß-Wien“ bauen. „Teilweise wurde er später durch die A21 und durch die S1, die wir heute haben, umgesetzt“, sagt Historikerin Heide Liebhart. Emotional wird die Diskussion rund um den Lobautunnel geführt, den geplanten Lückenschluss des S1-Rings. Ein spätes Überbleibsel der ehemals sechstgrößten Stadt der Welt.
29.04.2022, Felix Novak, noe.ORF.at
noe.ORF.at
 

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„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Als sich Schwechats „Tor zur Welt“ öffnete - Teil 1
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In den 1950er Jahren, als Österreich unabhängig wurde, brauchte Wien einen neuen, modernen Flughafen. Man entschied sich dazu, einen Militärflugplatz bei Schwechat auszubauen, auf dem das NS-Regime zuvor ein Zwangsarbeiterlager betrieben hatte.

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„Die Hakenkreuzfahnen flattern wie feurige Zungen über den maiengrünen Feldern der Schwechater Ebene. Südlich schimmern die letzten Alpengipfel in firnigem Glast, im Nordosten sieht man in lichtem Sonnennebel die Ausläufer der Karpaten, die bereits zur Tschechoslowakei gehören.“ In fragwürdiger Prosa und mit übertriebenem Pathos beschrieb der „Völkische Beobachter“ am 15. Mai 1938 den Spatenstich des neuen Luftwaffenstützpunktes Schwechat-Ost/Heidfeld.

Zum Festakt war Hermann Göring, Oberbefehlshaber der NS-Luftwaffe und einer der engsten Mitarbeiter Adolf Hitlers, persönlich angereist. Er habe die Überzeugung, „dieser Fliegerhorst hier werde eine Trutzburg des Willens sein zum Schutze der Schaffenden Wiens“, wurde Göring vom NS-Propagandablatt zitiert.

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ILF-Archiv, Nachlass Dr. Hubert Prigl
1938 wehten auf dem Gebiet zwischen Schwechat und Fischamend Hakenkreuzfahnen
ILF-Archiv, Nachlass Dr. Hubert Prigl
Den Spatenstich des neuen Fliegerhorstes begingen die Nationalsozialisten mit einer Militärparade

ÖNB/Anno
Auch die „Illustrierte Kronen Zeitung", damals Teil des NS-Propagandasystems, berichtete von den Feierlichkeiten

ÖNB/Anno
Zusätzlich zum Spatenstich in Schwechat nahm Göring auch an jenem für eine Flak-Kaserne am Wiener Küniglberg teil – dort, wo heute das ORF-Zentrum steht

ÖNB/Anno
„Alle wollen heuten den Feldmarschall, ihren ‚Hermann‘, sehen", schreibt das NS-Blatt „Völkischer Beobachter"

ILF-Archiv, Nachlass Dr. Hubert Prigl
Messerschmidt-Flugzeuge der NS-Luftwaffe auf dem Fliegerhorst in Schwechat

ILF-Archiv, Nachlass Dr. Hubert Prigl
Pläne der Alliierten des damaligen Stützpunkts

Bereits Jahrzehnte zuvor, in der Monarchie, hatte es Pläne für einen größeren Flugplatz in Schwechat gegeben, erzählt Flughafenhistoriker Rainer Stepan: „Sogar Kaiser Franz Joseph ist gekommen, als ein berühmter französischer Flieger hier war und seine Flugkünste vorgestellt hat.“ Allerdings: Das Gelände gehörte damals dem Brauereiimperium Dreher, „und man hat sich nicht hergetraut, aber der Wunsch der Fliegerei war in Schwechat schon lange da“. Erst mit den Nationalsozialisten sollte sich das ändern, „Göring war die Firma Dreher egal“, stellt Stepan fest.



Es sollte der Auftakt zum dunkelsten Kapitel der Luftfahrtgeschichte in Schwechat sein, das nach der Gebietsreform 1938 Teil von „Groß-Wien“ war. Allerdings spielte der Standort im „Dritten Reich“ nur eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger sollte für Wien der Flughafen Aspern im Norden der Stadt sein. Schwechat-Ost und andere kleinere Militärflugplätze wurden nach dem Abschluss der Bauarbeiten 1940 dem Luftgaukommando XVII unterstellt, Aspern fungierte in dieser Gruppe als „Leithorst“.

Wien-Aspern sollte drittgrößter NS-Flughafen werden
Folglich floss das meiste Geld der Nationalsozialisten auch in den Norden Wiens und nicht nach Schwechat. Mit Aspern hatte man Großes vor: Ein elliptisches Rollfeld im Ausmaß von 2.000 mal 1.600 Metern sollte im Zentrum des drittgrößten Flughafens des „Deutschen Reichs“ stehen. Aus diesen zivilen Ausbauplänen wurde jedoch nichts, die militärische Nutzung jedes Flugplatzes stand im Vordergrund.

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In den 1930er-Jahren war „Flughafen Wien" gleichbedeutend mit „Flughafen Wien-Aspern"
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Für den Standort Aspern im Norden von Wien hatten auch die Nationalsozialisten große Pläne

wikimedia commonsCC BY-SA 4.0
Zumindest die zivilen Vorhaben für Aspern konnten im beginnenden Zweiten Weltkrieg aber kaum umgesetzt werden

Tatsächlich kamen die Fliegerhorste rund um Wien zum Kriegseinsatz. Im April 1941, zu Beginn des Balkan-Feldzuges, wurden Angriffe auf die jugoslawische Hauptstadt Belgrad geflogen. Die Folge waren enormes Leid unter den Zivilistinnen und Zivilisten, aber auch ein militärischer Erfolg, denn nur wenige Wochen später kapitulierte das Land.

Vom Fliegerhorst zur Waffenfabrik
Die Luftwaffenstützpunkte der „Ostmark" verloren in der folgenden Zeit ihre direkte militärische Bedeutung. Das gipfelte 1942 sogar darin, dass die Luftwaffe ihre beiden Fliegerhorste Schwechat-Heidfeld und Schwechat-Süd (Zwölfaxing) den aus Norddeutschland übersiedelnden Heinkel-Flugzeugwerken als Werkflugplätze überlassen musste“, schreibt Franz J. Gangelmayer in seinem Buch „Wien in der nationalsozialistischen Ordnung des Raums“. „Damit wurde Wien und seine Umgebung doch noch Zentrum der großdeutschen Luftfahrtindustrie.“

Im weiteren Kriegsverlauf nahm die Produktion von Flugzeugen am Standort immer weiter zu. „Während Schwechat-Heidfeld als Nachtjägerwerk fungierte, wofür extra eine 1.500 Meter lange Betonpiste gebaut wurde, diente Schwechat-Süd der Fertigung viermotoriger Bomber“, so Gangelmayer.

Massenhafter Tod im KZ „Schwechat II“
Mit dem Ausbau der Produktionskapazitäten erhöhte sich in den Flugzeugwerken auch das Leid der Zwangsarbeiter. Ab August 1943 kamen hier KZ-Häftlinge zum Einsatz, „Schwechat II“ war somit ein Außenlager des Konzentrationslagers Mauthausen. Der Flughafen Wien listet auf seiner Website insgesamt 2.656 KZ-Häftlinge, 3.170 ausländische Zwangsarbeiter, 900 Kriegsgefangene und 5.500 inländische Arbeiter auf. Sie mussten auf dem Gelände des heutigen internationalen Flughafens sieben Tage pro Woche 12,5 Stunden pro Tag arbeiten.

Die Arbeitsbedingungen, etwa das Ausmaß der Mahlzeiten, hing bei den Zwangsarbeitern von deren Herkunft bzw. „rassischer“ Zuordnung ab, „während die Bedingungen der KZ-Häftlinge alle gleich unmenschlich und die Überlebensdauer sehr niedrig war“, wie es beim Flughafen heißt. So habe ein KZ-Häftling damals maximal drei bis fünf Monate überlebt. Zahlreiche weitere Todesfälle gab es gegen Ende des Kriegs auf den Todesmärschen Richtung Mauthausen.


ILF-Archiv, Nachlass Dr. Hubert Prigl
Luftaufnahmen um 1945 zeigten die Dimensionen des Fabriksgeländes

Bereits einige Monate zuvor, im Frühjahr und Sommer 1944, hatten alliierte Bomberverbände am Fabriksgelände schwere Schäden verursacht. Die Produktion war daraufhin verlegt worden, in die Seegrotte Hinterbrühl (Tarnbezeichnung „Languste“), in den Brauereikeller Schwechat sowie nach Floridsdorf. Die NS-Zeit „war das dunkelste Kapitel“, sagt der Historiker Stepan. „Es hat sich dort Fürchterliches abgespielt. Man kann gar nicht glauben, wozu der Mensch fähig ist.“ Im Frühjahr 1945 schließlich wurde die Region von der vorrückenden Roten Armee befreit.

Ziesel und Hamster auf Rollfeld
Das wiederauferstandene Österreich wurde in der ersten Zeit mit einem absoluten Flugverbot belegt. In Schwechat habe damals eine ländliche Idylle geherrscht, erinnerte sich ein Flugverkehrskontrolleur in Alfred Komareks Buch „Rings um Wien“: „Auf dem Rollfeld und den beiden Graspisten tummelten sich neben den Feldhasen Karnickel, Ziesel, Hamster und Feldmäuse, nisteten Feldlerchen und Rebhühner, regten Bussarde und Falken ihre Schwingen, die sonnenwarme Betonpiste war oft von Scharen von Wildtauben bevölkert, und zeitig in der Frühe konnte man sogar Fischreiher beobachten, die von den nahen Donauauen auf Besuch gekommen waren, um im hohen Gras das Stehen auf einem Bein zu praktizieren.“

ILF-Archiv, Nachlass Dr. Hubert Prigl
Das Areal bei Schwechat war rund um das Kriegsende in einem äußerst schlechten Zustand

In den ersten Wochen und Monaten der Zweiten Republik rückten die zerstörten Anlagen erneut in den Fokus. Die vier alliierten Mächte (UdSSR, USA, Großbritannien, Frankreich) hatten Österreich und auch die Bundeshauptstadt Wien aufgeteilt, letztere lag aber mitten in der sowjetischen Zone.

Im Juli 1945 einigten sich die vier Länder auf folgende Lösung: Die Sowjets würden von nun an die Flughäfen Aspern und Bad Vöslau (Bezirk Baden) nutzen, die US-Amerikaner jenen in Langenlebarn-Tulln und die Briten und Franzosen jenen in Schwechat. Den Betrieb übernahm dort die britische Royal Air Force (RAF). Der Flughafen wurde aber nicht nur militärisch genutzt. Bereits im Frühjahr 1946 führte British European Airways (BEA) die ersten zivilen Flüge durch. Wenig später folgten die Air France sowie weitere west- und nordeuropäische Fluglinien wie etwa die Scandinavian Airlines (SAS).

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Flughafen Wien
Der Flughafen Schwechat stand in der Besatzungszeit unter britischem Kommando

ORF
1947 kam es hier zur Ablöse…

ORF
…des britischen Kommandanten

Flughafen Wien
Der Flughafen hatte im Vergleich zu späteren Zeiten nur geringe Ausmaße

Flughafen Wien
Wollte man den Flughafen verlassen, kam man in die sowjetische Zone

Flughafen Wien
Bereits Anfang der 1950er-Jahre starteten und landeten hier auch zivile Maschinen, etwa jene der Air France…

Flughafen Wien
…oder der Swiss Air

Ein Flughafen vor dem Schloss Schönbrunn
Doch dabei sollte es nicht bleiben, schreibt Erwin A. Schmidl in seinem Buch „Österreich im frühen Kalten Krieg 1945-1958“: „Um Wien wenigstens mit einmotorigen Verbindungsflugzeugen erreichen zu könnten, bauten die Westalliierten zwei kleine Landepisten: eine amerikanische am Donaukanal in Nußdorf und eine britische am Wienfluss, direkt vor Schloss Schönbrunn.“

Dieses Kapitel schildert auch Historiker Stepan: „Die Amerikaner und Briten hatten erkannt, dass sie sonst immer durch die sowjetische Zone fahren mussten, auch mit heiklen Gästen.“ Das sei oft nicht möglich oder peinlich gewesen. „Darum haben sie für ihre heiklen Gäste die Privatflugplätze direkt in ihren Zonen gebaut.“

Vorbereitungen für eine Wiener Luftbrücke
Die Spannungen nahmen in dieser Zeit zu, schildert der Historiker: „Die Sowjets versuchten immer wieder – freilich erfolglos –, die Abmachungen auf Versorgungs- und Verbindungsflüge einzuschränken, und protestierten beispielsweise gegen die Benützung der beiden Flugplätze durch zivile Verkehrsmaschinen oder durch Kampfflugzeuge.“ Die westlichen Siegermächte bauten ihre Transportkapazitäten immer weiter aus, auch in Schwechat. Im Notfall einer Blockade nach Berliner Vorbild sollte ein möglichst großer Teil der Wiener Bevölkerung aus der Luft versorgbar sein.

1953 wurde bereits Österreichs bevorstehende Unabhängigkeit im Luftverkehr vorbereitet. Eine neue Wiener Flughafenbetriebsgesellschaft entstand, zu 50 Prozent vom Bund und zu je 25 Prozent von den Ländern Wien und Niederösterreich getragen. Ein Jahr später – als Schwechat wieder Teil von Niederösterreich wurde – übernahmen die Österreicher den Betrieb des Flugfelds von den Briten.
Fortsetzung siehe Teil 2
 

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„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Als sich Schwechats „Tor zur Welt“ öffnete - Teil 2
Auch Österreichs Luftraum war frei
Im Jahr des Staatsvertrags, 1955, wurde der Standort des künftigen größten Flughafens des neuerdings souveränen Österreichs fixiert. Eine Zeit lang sei auch Deutsch-Wagram im Rennen gewesen, berichtet Flughafenhistoriker Stepan. Schließlich habe man sich aber doch für Schwechat entschieden, „weil das einerseits von Wien aus sehr günstig gelegen, andererseits auch von der Bodengestaltung her geeignet war“.

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ILF-Archiv, Nachlass Dr. Hubert Prigl
Diese Ausmaße hatte der Flughafen Wien-Schwechat im Jahr 1956, kurz nach dem Staatsvertrag
ILF-Archiv, Nachlass Dr. Hubert Prigl
Geplant waren damals zwei parallele Startbahnen
ILF-Archiv, Nachlass Dr. Hubert Prigl
Der damalige erste Tower des Flughafens…
wikimedia commons/Maarten Visser from Capelle aan den IJsselCC BY-SA 4.0
…wurde erst 2016 abgerissen

In den folgenden Jahren, während in Schwechat bereits regulärer österreichischer Zivilflugbetrieb stattfand, wurde die Start- und Landebahn immer weiter ausgebaut und auch die Bauarbeiten an den neuen Flughafengebäuden begannen.

Parallel dazu wurde an einer eigenen österreichischen Fluglinie gearbeitet – nach bester österreichischer Manier dem Proporzsystem entsprechend. Auf Seite der ÖVP entstand „Air Austria“, auf Seite der SPÖ „Austrian Airways“ – abheben konnten allerdings beide nicht. Erst nach der Fusion gab es 1958 die ersten regulären Flüge der neuen Austrian Airlines – einer „überparteilichen“ Fluglinie.

Viele Bauvorhaben, noch mehr Passagiere
1960 schließlich war dieser Meilenstein der österreichischen Luftfahrtgeschichte geschafft, der Flughafen Wien-Schwechat wurde mit den politischen Spitzen der Republik feierlich eröffnet. Interessant sei an der Konstruktion vor allem das „sehr progressive Hängedach“ gewesen, sagt Historiker Stepan.„Bei Wien ist ein Flughafen entstanden, der allen Anforderungen des Flugverkehrs unserer Zeit entspricht“, erklärte Bundespräsident Adolf Schärf bei der Eröffnung. Die neue Einrichtung sichere nicht nur der Bundeshauptstadt, sondern der ganzen Republik ihre Stellung im zwischenstaatlichen Luftverkehr. „Möge der neue Flughafen in Frieden seiner Aufgabe dienen, ein Tor Österreichs zur Welt zu sein.“

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Flughafen Wien
Der Gebäudekomplex entsprach zur Eröffnung 1960 dem Stand der Technik und der Architektur
ORF
Diese Letter sollten von nun an jahrzehntelang alle Ankommenden begrüßen…
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…auch wenn im Jahr der feierlichen Eröffnung noch nicht alle Baustellen abgeschlossen waren
ORF
Im Vergleich zu späteren Ausmaßen handelte es sich um einen relativ kleinen Komplex…
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…der ganz auf die Bedürfnisse der Autofahrer ausgerichtet war
ORF
Der zweite Tower ersetzte den kleinen bisherigen der Briten
ORF
Daneben gab es auch für Besucher Aussichtspunkte
ORF
Das Innere des Gebäudes war von einer großen Glasfront dominiert…
ORF
…von der aus sich das Geschehen am Flugfeld beobachten ließ
ORF
Von oben hatte man jedoch einen deutlich besseren Ausblick
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Die Start- und Landebahn war zu diesem Zeitpunkt bereits mehrfach verlängert worden
ORF
Bei der Eröffnung 1960 war auch politische Prominenz geladen…
Flughafen Wien
Die Sicherheitsvorkehrungen waren mit den heutigen nicht vergleichbar
Flughafen Wien
Die damalige Abflughalle dürfte vielen bekannt vorkommen…
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Heute noch zu sehen, freilich mit anderem Tower im Hintergrund

Bald schon wurde dieses „Tor zur Welt“ allerdings zu klein. Die Passagierzahlen waren in den Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs rasant angestiegen. Gut 300.000 Fluggäste gab es bereits 1959, 25 Jahre später sollten es schon zwei Millionen sein.
Deshalb kamen noch im Verlauf der 1960er Jahre die ersten Zubauten, und auch die Planungen für eine zweite Piste wurden gestartet. Sie wurde 1977 in Betrieb genommen – unter heftigen Protesten von Anrainerinnen und Umweltschützern, wie Alfred Komarek in seinem Buch berichtet.

Blüte der Luftfahrt, aber ohne Aspern
Dieses Jahr gab aber nicht nur einen Vorgeschmack auf das, was rund um die geplante dritte Piste noch kommen sollte, sondern beendete auch gleichzeitig ein anderes wichtiges Kapitel der österreichischen Luftfahrtgeschichte: jenes in Aspern. Nach dem Krieg vor allem als Sportflughafen genutzt, hatte die Einrichtung über die Jahrzehnte immer mehr an Bedeutung verloren. Im Jahr 1977 übersiedelten die Sportflugzeuge nach Bad Vöslau. Der dortige Flughafen gehört nach wie vor zu jenem in Schwechat.

Für Passagiere war hingegen Schwechat nun das Maß aller Dinge. In einem kleinen Land war es das Tor zur großen Welt. Hier starteten und endeten nicht nur Urlaubs- und Geschäftsreisen, hier wurden auch Staatsgäste empfangen. Und es diente als starkes Symbol für die wirtschaftliche und politische Erfolgsgeschichte, die die Zweite Republik in den wenigen Jahrzehnten seit der NS-Diktatur hingelegt hatte.
03.05.2022, Felix Novak, noe.ORF.at
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Als sich Schwechats „Tor zur Welt“ öffnete
 
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„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
1956: Als Traiskirchen über Nacht Asylsymbol wurde
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1956 hat der Ungarnaufstand die junge Zweite Republik vor eine Bewährungsprobe gestellt. Hunderttausende Menschen strömten über die Grenze nach Österreich. Buchstäblich über Nacht wurde aus einer alten Traiskirchner Schule das wichtigste Asylzentrum Österreichs.
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Alles begann mit drei Mitarbeitern. An einem Sonntag Anfang November trafen sie zur Mittagszeit in Traiskirchen (Bezirk Baden) ein. Ihre Mission: eine Kadettenschule, die aus der Zeit der Monarchie stammte, binnen weniger Stunden für Tausende Flüchtlinge auszustatten, erzählte der damalige Lagerleiter, ein gewisser Sektionsrat Dr. Vlach, Ende 1956 in einem ORF-Radiointerview. „Es war nichts hier, nur die kalten Mauern. Es gab kein Gas, kein Licht, kein Wasser, keine Kanalisierung, die Kloanlagen waren in Unordnung und es gab vor allem kein Stroh, denn die Leute mussten ja liegen.“

Der Kraftakt gelang, auch mithilfe der Traiskirchner Zivilbevölkerung, die bei handwerklichen Tätigkeiten half. In der Nacht vom 4. auf den 5. November 1956, wenige Stunden nach Beginn der Arbeiten, trafen bereits 4.200 Flüchtlinge aus Ungarn mit Sonderzügen und Postbussen im neuen „Aufnahmelager“ Traiskirchen ein.

„Mit Stolz“ könne er sagen, dass es an diesem Tag zumindest gelungen sei, diese Flüchtlinge „aufzunehmen, auf Stroh zu legen und mit den notdürftigsten menschlichen Dingen auszustatten“, so Vlach. Am nächsten Morgen soll die Zahl der Flüchtlinge bereits auf 6.000 angewachsen sein. Die Bevölkerungszahl der Stadtgemeinde Traiskirchen hatte sich buchstäblich über Nacht verdoppelt.

Vorbereitungen auf den Erstfall
Dass es eine Flüchtlingsbewegung geben würde, war den Verantwortlichen im Innenministerium (BMI) schon seit Tagen bewusst gewesen. Ende Oktober war es in Ungarn zum Aufstand gekommen, pro-westliche Intellektuelle hatten den Reformer Imre Nagy in Budapest zum Ministerpräsidenten gekürt und eine Neutralität Ungarns nach österreichischem Vorbild gefordert. Nach einem mehrtägigen Schreckmoment war Moskau mit extremer Brutalität eingeschritten. Am 4. November hatten 4.000 sowjetische Panzer die ungarische Hauptstadt umstellt. Die Folgen: blutige Straßenkämpfe, die für Tausende Menschen den Tod bedeuteten.


wikimedia commons/CIA
Sowjetischer Panzer in Budapest

Die Katastrophe im Nachbarland hatte sich in den Monaten zuvor abgezeichnet, wird Österreichs späterer Kanzler Fred Sinowatz in Otto Klambauers Buch „Der Kalte Krieg in Österreich“ zitiert. Die zunehmende Spannung sei hierzulande bekannt gewesen, „durch die immer wieder bestehenden Kontakte der Burgenländer mit Ungarn“. Die Verantwortlichen in Österreich wussten demnach, dass ihr Land im Fall einer Eskalation direkt betroffen sein würde – nur die Dimensionen dieser Betroffenheit unterschätzten sie massiv.

Erste Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention
Erst im Vorjahr, 1955, war Österreich wieder unabhängig geworden und in diesem Jahr war auch die Genfer Flüchtlingskonvention in Kraft getreten. Darin hatte sich die Republik dazu verpflichtet, schutzbedürftige Flüchtlinge aufzunehmen. Nun also, wenige Monate später, stand bereits die erste große Bewährungsprobe bevor. Das Innenministerium unter Oskar Helmer ging im November 1956 von 40.000 Flüchtlingen aus, werden sollten es schließlich etwa 180.000 und damit fast fünfmal so viele.

Auf der hastigen Suche nach geeigneten Quartieren stießen die Behörden bald auf den leerstehenden Gebäudekomplex in Niederösterreich. „Der damalige Innenminister, Oskar Helmer, war Niederösterreicher und so kam natürlich Traiskirchen ins Spiel“, sagt Wolfgang Taucher, Spitzenbeamter und Asylexperte im Innenministerium, der die Einrichtung in Traiskirchen seit den 1980er-Jahren kennt. Das vorgesehene Areal hatte zum Zeitpunkt der Ungarnkrise schon eine bewegte 60-jährige Geschichte hinter sich.

Von der Monarchie über die NS- zur Besatzungszeit
Sie begann um die Jahrhundertwende. Damals beschloss die Heeresverwaltung Österreich-Ungarns, die Ausbildungsstätte für Angehörige der Artillerie von Wien ins Umland zu verlegen, konkret nach Traiskirchen. Die Militärs fanden dafür knapp 20 Hektar Grund und begannen mit den Bauarbeiten. 1903 wurde der Komplex, der neben Ausbildungseinrichtungen und Mannschaftsquartieren auch Geschützhallen und Pferdeställe umfasste, eröffnet.

Rund um das Ende der Monarchie 1918 wurden die meisten militärischen k.u.k. Standorte geschlossen, darunter auch jener in Traiskirchen. In der beginnenden Ersten Republik wurde versucht, die Räumlichkeiten zivil zu nutzen, insbesondere als Eliteschule. Wie Doris Waldhäusel in ihrer Diplomarbeit 2015 schreibt, entstand eine „Staatsstiftungsrealschule“, die später zuerst in „Staatserziehungsanstalt“ umbenannt wurde, dann in „Bundeserziehungsanstalt“, im Austrofaschismus in „Mittelschulakademie“ und in der NS-Zeit erneut in „Staatserziehungsanstalt“ bzw. „Nationalpolitische Lehranstalt“ (NAPOLA).

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Plan der k.u.k. Artillerie-Kadettenschule in Traiskirchen
Stadtarchiv Traiskirchen/Günther Puchinger
Teil davon war unter anderem die „Reitschule“
Stadtarchiv Traiskirchen/Günther Puchinger
Später wurde das Areal zuerst als „Bundeserziehungsanstalt"…
Stadtarchiv Traiskirchen/Günther Puchinger
…und deutlich später als Flüchtlingslager genutzt

Als zivile Einrichtung ungeeignet
Ein Hauptzweck in den ersten Zwischenkriegsjahren war, das Lehrpersonal und zum Teil auch die Schülerinnen und Schüler aus der Zeit der militärischen Nutzung weiter zu beschäftigen bzw. auszubilden. Die Räumlichkeiten, die ja für die Schulung an Artilleriegeräten eingerichtet worden waren, waren für einen zivilen Schulbetrieb allerdings völlig ungeeignet. Deshalb wurde das Areal in den 1920ern erstmals umfassend saniert und umgestaltet.

In der Besatzungszeit nach 1945 verschlechterte sich der Zustand des Komplexes allerdings rapide. Die ehemalige Kadettenschule wurde in diesen Jahren von der Sowjetarmee als provisorische Kaserne für mehrere Tausend Soldaten genutzt, die offenbar kaum auf die Erhaltung des Gebäudes achteten. Als sie 1955, im Jahr des Staatsvertrags, abzogen, wurde das Areal an die Stadtgemeinde Traiskirchen übergeben.

Ein jahrzehntelanges Provisorium
Nun also sollten hier schutzsuchende Ungarinnen und Ungarn unterkommen – provisorisch, wie es damals hieß. Als vorübergehende Lösung war Traiskirchen vom ersten Tag an vorgesehen. Diesen Status sollte es in der Folge jahrzehntelang beibehalten. Nichts hält schließlich länger als ein Provisorium.

Stadtarchiv Traiskirchen
Die ehemalige Kadettenschule wurde über Nacht zum größten Flüchtlingsquartier Österreichs

Von Anfang an war Traiskirchen also überfüllt. „Die erste Frage: ‚Wieviel Platz hamma?‘ – Die Antwort kam prompt: ‚Keinen.‘ Und dann wurden wieder hundert oder zweihundert Menschen in die Quartiere hineingepresst“, zitiert Waldhäusel einen damaligen Bericht von Friedrich Kern.

Pro Tag kamen in diesen Wochen 5.000 Menschen über die ungarische Grenze. Sie wurden vor allem, aber nicht nur, nach Traiskirchen gebracht. Nach einigen Tagen habe sich die Zahl der Flüchtlinge in der ehemaligen Kadettenschule bei etwa 3.000 eingependelt, die alle zwei Wochen wechselten. „Um Mitternacht machten sich die Beamten, mit Taschenlampen bewaffnet, auf den Weg durch die Schlafräume; um 4.00 Uhr morgens hatten sie sich durch Tausende Flüchtlinge hindurchgezählt, und um 5.00 Uhr waren alle Zahlen wieder überholt. Dann begann das Zählen von vorne“, heißt es in der Diplomarbeit.

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Der charakteristische Zaun der Einrichtung war bereits damals vorhanden
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Die Bevölkerung, heute würden sie die Medien Zivilgesellschaft nennen, verteilte unter anderem Kleidung und Decken

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Viele Kinder waren in den ersten Wochen und Monaten in Traiskirchen untergebracht

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Der provisorische Charakter des Flüchtlingslagers war an allen Ecken und Enden zu sehen

Große Anteilnahme der Bevölkerung
Die Hilfsbereitschaft Österreichs gegenüber den ungarischen Flüchtlingen 1956 ist längst Teil der kollektiven Erinnerung – und tatsächlich war diese in den ersten Wochen der Krise stark ausgeprägt. Immerhin war das Artilleriefeuer in Ungarn bis nach Traiskirchen zu hören, wie sich Fritz Knotzer im Gespräch mit noe.ORF.at erinnert.

Der spätere sozialdemokratische Langzeitbürgermeister war damals zwölf Jahre alt. Er berichtet von großen Anstrengungen der Traiskirchnerinnen und Traiskirchner, das Lager binnen kürzester Zeit herzurichten und die Situation für die Flüchtlinge zu verbessern. Sie hätten „alles gebracht, was sie entbehren konnten, ob das Matratzen waren oder Kleidungsstücke“ – und das, obwohl Österreich damals bei weitem noch kein wohlhabendes Land gewesen sei.

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Im Dezember 1956 wurde für die ungarischen Flüchtlinge ein gemeinsames Weihnachtsfest organisiert – eine Tradition, die in Traiskirchen in der Folge beibehalten wurde
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Große Teile der Bevölkerung wollten „den Nachbarn“ helfen, das merkte auch Anstaltsleiter Vlach, der Ende 1956 zusätzlich zu seinen 25 Angestellten 80 Ehrenamtliche zur Verfügung hatte: „Diese freiwilligen Helfer leisten ganz ausgezeichnete Dienste.“ Es habe sich um einen „Tag-und-Nacht-Einsatz“ gehandelt, von Pfadfindern etwa oder von Studierenden.

Hilfsbereitschaft mit Ablaufdatum
Einer dieser Studenten in Traiskirchen war ein gewisser Heinz Fischer, späterer SPÖ-Politiker und Bundespräsident der Republik. „Man hat sich gemeldet und dann einen bestimmten Auftrag bekommen“, erzählte der Politiker 2016 in einem Interview für eine ORF-Dokumentation. „Es war meistens etwas zu verteilen, Essen, bestimmte Kleidungsstücke – es ist kalt geworden –, oder auch Decken.“ Er habe an die Flüchtlinge auch Bücher verteilt, erinnerte sich Fischer, „westliche Literatur auf Deutsch und Englisch. Ich glaube, das hat die amerikanische Botschaft zur Verfügung gestellt.“

Die österreichische Hilfe für die ungarischen Vertriebenen sei damals gut gegangen, aber nur „weil es eine intensive, aber nicht unbegrenzte und horizontlose Anstrengung war. Viele davon sind ja dann weitergezogen in die USA, nach Kanada, nach Australien, nach Großbritannien. Es war ein erfolgreicher Kraftakt, eine Willkommenskultur, die sich bewährt hat“, sagte Fischer, der knapp 60 Jahre nach seinem Einsatz, 2015, im höchsten politischen Amt eine weitere große Flüchtlingskrise zu bewältigen hatte.

Nur ein Bruchteil blieb
Tatsächlich war Österreich während der Ungarn-Krise 1956 in erster Linie ein Transitland. Von den 180.000 Ankommenden wurden 160.000 in anderen europäischen Ländern und in Übersee aufgenommen. Binnen kurzer Zeit wurden zwar in ganz Österreich mehr als 250 Unterkünfte geschaffen, darunter viele Kasernen im Wiener Umland, doch nur ein Bruchteil der Flüchtlinge blieb hier länger als ein paar Wochen oder Monate.


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Der Alltag war und ist vom Abwarten geprägt

Trotzdem kam es auch zu Konflikten mit der österreichischen Bevölkerung. Bereits im Jänner 1957 berichtete der Wiener Bürgermeister Franz Jonas etwa von Beschwerden darüber, „dass die ungarischen Flüchtlinge gratis Straßenbahn fahren“. „Würde man den Gerüchtefabriken glauben, dann verbrächten 169.500 Flüchtlinge den ganzen Tag im Kaffeehaus“, zitierte das „profil“ einst einen damaligen Bericht der „Arbeiter-Zeitung“. Auch die Kriminalität der Vertriebenen war bereits Thema: In Baden und Bad Vöslau hätten sich demnach Weinbauern über in Traiskirchen untergebrachte Flüchtlinge beschwert, die beim Traubendiebstahl ertappt worden waren.

Migrationspolitische Probleme als Konstante
Tatsächlich gab es damals im Wesentlichen dieselben Probleme, die auch heute noch mit dem Lager in Traiskirchen und ihren Bewohnerinnen und Bewohnern verbunden werden. Sie hatten kaum Beschäftigungsmöglichkeiten, waren mit der Unsicherheit ihres Status überfordert, hatten zum Teil traumatische Erlebnisse hinter sich. Die heruntergekommene ehemalige Militäreinrichtung weckte zudem in etlichen Fällen Erinnerungen an kommunistische Gefängnisse.

Es kam zu Alkoholexzessen und im Verlauf der Zeit auch zu immer mehr Suizidversuchen. Ein großer Teil der Flüchtlinge verfiel in Apathie. Obwohl die Asylsuchenden offiziell nicht arbeiten durften, versuchte ein Teil von ihnen trotzdem, sich mit Schwarzarbeit etwas zu verdienen – wovon wiederum Teile der heimischen Bevölkerung profitierten.

Seismograph für politische Erschütterungen
Traiskirchen wurde in den kommenden Jahrzehnten zum Seismographen für politische Erschütterungen. Wenn es irgendwo auf der Welt größere Umstürze gab, war die Stadtgemeinde im Süden von Wien fast zwangsläufig betroffen. Zusätzlich zu den weiter eintreffenden osteuropäischen Flüchtlingen, etwa nach dem Prager Frühling 1968 und noch mehr rund um das Jahr 1990, kamen auch erstmals Vertriebene von anderen Kontinenten.

Erstes Beispiel war Uganda, später folgten etwa Chile und Mexiko. Im Rahmen der internationalen Gemeinschaft verpflichtete sich die Zweite Republik immer wieder dazu, ein bestimmtes Flüchtlingskontingent aus Krisenregionen aufzunehmen. Hier war die Integration oft noch schwieriger – auch, weil die Österreicherinnen und Österreicher den fremden Kulturen noch reservierter gegenüberstanden.

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Das Lager in Traiskirchen blieb auch weiterhin ausgelastet, hier etwa bei einem Besuch 1969

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Nur mit dem Allernotwendigsten reisten die Flüchtlinge an

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Viele Familien mussten auf engstem Raum leben

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Wer Glück hatte, bekam eines der "Familienzimmer" zugeteilt

Besonders kritisch wurde es erst Ende der 1980er-Jahre, als der rumänische Diktator Nicolae Ceaușescu gestürzt wurde. Anhänger und Gegner des kommunistischen Regimes flohen gleichermaßen nach Österreich, die Erzfeinde standen sich nun unter anderem in Traiskirchen gegenüber. In der Einrichtung kam es zu etlichen Gewalttaten – und auch Fritz Knotzer, der damalige Bürgermeister der Stadt, erhielt Morddrohungen und Polizeischutz.

„Das ist kein Flüchtlingslager mehr“
Im Verlauf der Jahrzehnte besserte sich aber auch die Infrastruktur des einstigen Provisoriums, das Verwaltungspersonal konnte auf immer mehr Erfahrungen zurückgreifen. „Das ist kein Flüchtlingslager mehr“, stellt Taucher, Leiter der Gruppe „Asyl und Rückkehr“ im Innenministerium, fest. Um das Jahr 1990 herum habe es Bestrebungen seines Ressorts gegeben, die Unterkunft zu einer modernen Betreuungseinrichtung umzugestalten, die für Asylwerber alle relevanten Einrichtungen an einer Stelle versammle.

Etwa 750 Menschen werden in Traiskirchen aktuell betreut, „das ist eine absolut verträgliche Zahl“, meint Taucher. Die Geschichte der Einrichtung merke man aber nach wie vor an allen Ecken und Enden des Geländes – auch, wenn man die historischen Details nicht kenne.
Das wird alleine schon an den einzelnen Häusern des Areals erkennbar, die seit der Zeit der Schuleinrichtung nach wichtigen Österreichern benannt sind, nach dem Komponisten Franz Schubert, dem Mediziner Theodor Billroth oder auch dem Freiheitskämpfer Andreas Hofer.

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Die „Erstaufnahmestelle Ost“ heute – der charakteristische Zaun ist geblieben

„Traiskirchen war immer im Mittelpunkt der Flüchtlingsgeschichte dieses Landes“, so der Beamte. „Ohne mich anmaßen zu wollen, mich in die Situation eines Traiskirchners zu versetzen, aber das ist doch etwas, auf das die Traiskirchner ein Stück weit stolz sein können.“
06.05.2022, Felix Novak, noe.ORF.at
Als Traiskirchen über Nacht Asylsymbol wurde
 

josef

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#39
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
SOS-Kinderdorf Hinterbrühl: Als ein hundertfaches Zuhause entstand
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Eine österreichische Idee sollte in der Nachkriegszeit die Kinderfürsorge revolutionieren und die Welt erobern. Nach Versuchen in Tirol entstand 1957, unter dem Eindruck der Ungarnkrise, in der Hinterbrühl (Bezirk Mödling) das europaweit größte SOS-Kinderdorf.
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„Ich war im Kinderdorf aufgehoben wie sonst nirgends. Wenn ich hierher komme, dann bin ich daheim“, sagt Hermann Lager. 1958 bei Krems geboren, kam er im Alter von fünf Jahren gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder ins Kinderdorf Hinterbrühl. Die beiden hatten gerade ihre Eltern verloren und gehörten zu den ersten, die in die neue Einrichtung im Wienerwald zogen.

„Ich lebte seit 1963 im SOS-Kinderdorf bei meiner Mutti, die aus dem Burgenland kam und Kroatin war, sehr konservativ und katholisch, aber eine wunderbare Frau“, erzählt Lager. Sie habe ihn und seinen Bruder zu empathischen Menschen erzogen und ihnen zentrale Werte vermittelt. Noch heute habe er Kontakt mit seiner „Familie“ aus dem Kinderdorf – mit Menschen, mit denen er das Schicksal geteilt habe, sagt Lager in einem Interview für die Organisation – „wobei ‚Schicksal‘ nicht angebracht ist. Es war unser Glückszustand, in einem Kinderdorf groß geworden zu sein.“

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Hermann Lager zeigt alte Fotos aus seiner Kindheit und Jugend im SOS-Kinderdorf Hinterbrühl

„Wollen allen Fürsorgekindern geholfen haben“
„Wir wollen zuerst einmal dem Kind helfen und dann ein Modell sein“, sagte Hermann Gmeiner, Gründer des Konzepts, 1960 in einem Radiointerview. In allen europäischen Ländern sollte zumindest ein Dorf entstehen, „als Modell einer neuzeitlichen Fürsorge“. Familiärer als alle bisherigen Kinderheime sollte es werden, in kleineren Einheiten, erklärte der Vorarlberger. Sein ambitioniertes Ziel: „Mit den SOS-Kinderdörfern wollen wir eines Tages allen Fürsorgekindern geholfen haben.“

Nach seinem Kriegsdienst war Gmeiner 1945 nach Österreich zurückgekommen und hatte ein Medizinstudium begonnen. „Wie viele junge Männer hat er nicht so recht gewusst, was er mit seinem Leben weiter anstellen sollte“, sagt Clemens Klingan, heute Geschäftsführer der SOS-Kinderdörfer im Nordosten Österreichs und in Tirol, gegenüber noe.ORF.at. Neben seinem Studium hatte er schon Kontakt mit Jugendlichen. „Ihm ist damals aufgefallen, wie viele Straßenkinder es gab. Das dürfte ihn tief bewegt haben“, sagt Klingan.

Die Visionen des Herrn Gmeiner
Dann habe er mit seinem Umfeld überlegt, wie er das Problem lösen könne. „Aus vielen Berichten von Zeitzeugen wissen wir, dass Gmeiner ein sehr impulsiver und emotionaler Mensch war und vor allem ein Mensch, der immer sehr große Visionen hatte“, so der Funktionär der SOS-Kinderdörfer. Kurz entschlossen gründete Gmeiner 1949 gemeinsam mit einigen Mitstreitern, darunter auch Frauen, „die die Fachlichkeit reinbrachten“, den Verein „Societas Socialis“, der später zum SOS-Kinderdorf werden sollte.

Die ersten fünf Kinder kamen noch im selben Jahr in Imst in Tirol unter. Erste Wahl sei die Gemeinde nicht gewesen, erzählt Klingan, „eher ein Zufallstreffer, weil zehn andere Gemeinden auf das Schreiben von Gmeiner nicht reagiert hatten“. In Imst sei der Bürgermeister aber selbst Waisenkind gewesen. „Dadurch hatte er einen Zugang zu der Idee.“ Gebaut wurde ohne fixe Spendenzusagen, nur für eine kleine Anzahlung hatte man genug Geld. Die Bauunternehmer vertrauten laut Klingan darauf, dass der Organisationsgründer die Spenden für weitere Arbeiten in Zukunft schon irgendwie zusammenbekommen würde.

Von Beginn an wurde Gmeiner von allen, auch den Kindern, „Direktor“ genannt. Während die betreuten Kinder jeweils ihre „Kinderdorf-Mutter“ hatten, fungierte der Gründer der Organisation als eine Art übergeordnete Vaterfigur. Kritik daran ließ er nicht gelten. „Ich weiß, dass man sich auch daran stoßen kann“, sagte ein Vertrauter von Gmeiner einmal, „aber wieso soll man nicht eine Persönlichkeit, die wie ein Vater zu einem ist, Direktor nennen? Jedenfalls besser, als man sagt zu jemandem Vater, der wie ein Direktor zu einem ist.“

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In Imst erinnert heute ein Denkmal an den Ehrenbürger Hermann Gmeiner

Eine Idee entfaltet sich
Gmeiners Konzept ging jedenfalls nach und nach auf. 1951 lebten im ersten Kinderdorf in Imst bereits 40 Kinder, 1954 waren es 130. Gleichzeitig versuchte Gmeiner, immer mehr Standorte aufzubauen. Eine besondere Rolle sollte Wien bzw. das Wiener Umland spielen.

Gmeiner sei insbesondere „von der Ungarn-Katastrophe beeindruckt“ gewesen, sagte sein enger Mitarbeiter Hans Reinprecht 1960 im selben Radiobeitrag. Damals sei in Imst, in Altmünster und in Lienz gebaut worden, die Organisation habe kaum Geld gehabt. Gmeiner hingegen, der das Leid der Zigtausenden Ungarnflüchtlinge sah, beschloss, am Wiener Stadtrand ein großes Kinderdorf zu errichten.

Er habe gewusst, dass dieses Projekt „viele Millionen verschlingen wird, ein Geld, das nicht da war“, so Reinprecht, „und trotzdem war er fest entschlossen, dieses Dorf zu bauen. Wir wollten es ihm alle ausreden, aber er hat das einfach herrisch durchgesetzt.“ Der Erfolg sei schließlich auf seiner Seite gewesen.

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Der Vorarlberger Hermann Gmeiner, genannt der „Direktor“, im SOS-Kinderdorf in Hinterbrühl
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Der Standort war mit einem großen Festakt eröffnet worden

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Er umfasste bald schon etwa 30 Häuser

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Später wurde die Einrichtung in der Hinterbrühl auch von bekannten Persönlichkeiten besucht, darunter die niederländische Prinzessin Margriet…

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…und sogar vom Dalai Lama

1957 wurde mit dem Bau begonnen, „am Ende der zweiten Bauetappe 1962 war das Kinderdorf mit 28 Familienhäusern eines der größten in Europa“, sagt Judith Heissenberger, heute pädagogische Leiterin in Hinterbrühl.

Ein Hort des NS-Widerstands
Das Areal in der Wienerwaldgemeinde hatte bereits zuvor historische Bedeutung erlangt. Während der NS-Zeit hatte dort Karl Motesiczky gemeinsam mit dem befreundeten Ehepaar Ella und Kurt Lingens Widerstand geleistet und jüdische Familien versteckt. Teile der Familie Motesiczky kamen im Konzentrationslager ums Leben, die übrigen Familienmitglieder emigrierten nach Großbritannien.

„Wir hatten das große Glück, dass sie mit ihrem Grund und Boden etwas Gutes tun wollten“, sagt Heissenberger. „Das Grundstück ist heute in einer so guten Lage, es ist ein so guter Ort für die Kinder, wie wir ihn heute nie mehr herstellen könnten“, ist sich Geschäftsführer Klingan sicher.

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„Stolperstein“ für Karl Motesiczky beim SOS-Kinderdorf Hinterbrühl

200 junge „Dorf“-Bewohnerinnen und -Bewohner
Etwa 100 Kinder sollten um das Jahr 1960 herum im „Dorf“ ein neues Zuhause finden, phasenweise waren es später mehr als 200. „Es gab zusätzlich auch eine heilpadägogische Station, wo Kinder vorübergehend aufgenommen werden konnten“, erklärt die pädagogische Leiterin, „das war in dieser Zeit auch eine Innovation“.



Es habe sich dabei um ein Diagnosezentrum gehandelt, in dem man Kindern und Jugendlichen mit erhöhtem therapeutischen Bedarf unterstützten wollte, sagt Geschäftsführer Klingan: „Für die damalige Zeit hat man schon sehr rasch erkannt, dass man eine gute Diagnostik braucht, um zu erkennen, was diese Kinder in der Betreuung benötigen.“

Als Nachfolgeeinrichtung wurde später das „Bienenhaus“ gegründet, ein Klinikum für schwer traumatisierte Kinder mit sowohl sozialpädagogischem als auch therapeutischem Bedarf. Aktuell gebe es in der Hinterbrühl zu diesem Zweck zwei Kleingruppen, in der jeweils nur vier Kinder betreut werden, so Klingan.

Der Spielplatz der Gemeinde
Probleme mit der übrigen Bevölkerung in der Hinterbrühl habe es von Beginn an nicht gegeben, meint Heissenberger. Im Gegenteil: „Es gab immer eine sehr enge Verbindung mit der Gemeinde.“ Man veranstalte auch heute noch gemeinsame Feiern und auch sonst seien die Kinderdorf-Kinder im Ort integriert, etwa in den öffentlichen Schulen oder als Ministranten in der Pfarre. „Ich treffe sogar immer wieder Menschen aus der Gemeinde Hinterbrühl, Erwachsene, die sagen, sie hätten ihre ganze Kindheit im Kinderdorf verbracht, weil man sich hier am Gelände so gut austoben konnte – obwohl sie bei ihren Eltern zu Hause gelebt haben.“

Immer wieder habe man auch kurzfristig Flüchtlingsfamilien auf dem Areal aufgenommen, auch aktuell gibt es in der Einrichtung mehrere ukrainische Bewohnerinnen und Bewohner. Besonders schön sei es, sagt Geschäftsführer Klingan, dass seit der Fluchtbewegung 2015 noch immer eine afghanische Familie hier lebe – „der Vater der Familie ist jetzt Dorfmeister im SOS-Kinderdorf Hinterbrühl, das sind unsere Haustechniker. Er ist extrem beliebt, er ist ein toller Mensch und passt richtig gut rein.“

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Das SOS-Kinderdorf in der Hinterbrühl heute

Weltweite Hilfsorganisation
Die Organisation bietet mittlerweile eine Vielzahl an unterschiedlichen Unterstützungsmöglichkeiten an, von der klassischen Kinderdorf-Familie über betreute Wohngemeinschaften von Jugendlichen bis hin zur Entlastung von Kindern und deren leiblichen Eltern im gleichen Haushalt, etwa in Form der mobilen Familienhilfe. Zusätzlich gibt es SOS-Ambulatorien in Wien und Kärnten sowie die Hotline „Rat auf Draht“, eine Kooperation mit dem ORF, oder auch die Sozialeinrichtung Jugendstreetwork.

In Summe befanden sich 2020 in ganz Österreich etwa 1.850 Kinder und Jugendliche im vollen Erziehungsmodell. International lebten in diesem Jahr mehr als 65.000 junge Menschen in Betreuungseinrichtungen der österreichischen Hilfsorganisation. Insgesamt habe man mit den eigenen Unterstützungs- und Betreuungsangeboten weltweit knapp 1,2 Millionen Menschen erreicht, heißt es im aktuellen Jahresbericht auf der Website von SOS-Kinderdorf. Demnach wurden 2020 Spenden in der Höhe von knapp 40 Millionen Euro lukriert.

Ein Sozialprojekt mit Schattenseiten
In der Organisation gibt es allerdings auch Schattenseiten. In 20 Ländern in Afrika und Asien sollen in Einrichtungen von SOS-Kinderdorf betreute Kinder und Jugendliche jahrelang Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch gewesen sein, diese Missstände machte SOS-Kinderdorf Österreich im Vorjahr selbst bekannt. Damals wurden eine „schonungslose Aufarbeitung“ sowie ein Entschädigungsfonds angekündigt – mehr dazu in Gewalt, Missbrauch in SOS-Kinderdörfern (news.ORF.at; 6.5.2021).

Wenige Monate später nahm zudem die Staatsanwaltschaft in Deutschland Ermittlungen zu möglichen Missständen auf. Die Vorwürfe betrafen eine Einrichtung in Bayern. Auch hier kündigte die Organisation eine Aufarbeitung an.

Die Geschichte der SOS-Kinderdörfer in Österreich arbeitete der Innsbrucker Historiker Horst Schreiber auf. Er wurde 2012 von der Organisation selbst damit beauftragt, eine wissenschaftliche Studie über die Erziehungspraktiken der Einrichtungen und der Heilpädagogischen Station Hinterbrühl zu erstellen. Sie umfasste den Zeitraum der 1950er- bis 1990er-Jahre. Das Ergebnis ist das Buch „Dem Schweigen verpflichtet. Erfahrungen mit SOS-Kinderdorf“, in dem detailliert über Missstände berichtet wird.

„Es gab im Laufe der Jahrzehnte auch Kinder und Jugendliche, die Negatives erlebt haben. Deren Erfahrungen von Leid, Unrecht oder Gewalt sind ebenfalls Teil der Geschichte von SOS-Kinderdorf“, heißt es dazu von der NGO. Man wolle sich als „lernende Organisation“ der eigenen Geschichte bewusst werden.

Die erste Generation altert
Abseits dieser Gewalterfahrungen gibt es viele positive Erfahrungsberichte von SOS-Kinderdorf-Kindern. Gut 60 Jahre nach der Gründung in Hinterbrühl haben die ersten von ihnen längst das Pensionsalter erreicht. Die Verbindung gehe in vielen Fällen aber nicht verloren, erzählt Heissenberger. Immer wieder gebe es Feste, bei denen sich Ehemalige treffen könnten, darunter eines bei den Feierlichkeiten zum 60. Jubiläum 2017 – „ein sehr schöner und berührender Moment“, erinnert sich die pädagogische Leiterin.

Wichtig sei diese Verbindung auch, wenn im Dorf gebaut wird. „Wir haben noch Häuser, die sozusagen noch aus der Gründungszeit sind“, erklärt Heissenberger. „Wenn so ein Haus verändert oder vielleicht sogar abgerissen werden muss, dann ist das immer ganz wichtig, mit den Menschen vorab Kontakt aufzunehmen, die in diesen Häusern aufgewachsen sind.“ Es sei schließlich für viele Jahre ihr Zuhause gewesen. „Da merken wir immer, wie wichtig für diese Menschen die Verbindung zum Kinderdorf immer noch ist und auch bleiben wird.“
09.05.2022, Felix Novak, noe.ORF.at
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#40
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Als das Heer zurück nach Wr. Neustadt durfte - Teil 1
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1958 ging in Wr. Neustadt die älteste Militärakademie der Welt wieder in Betrieb. Kurz vor Kriegsende zerstört, war sie nach 1945 wieder aufgebaut worden. Das auferstandene Bundesheer brauchte jeden Offizier, den es bekommen konnte – Zeitzeugen erinnern sich.
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Als die Theresianische Militärakademie in Wiener Neustadt am 14. Dezember 1951 den 200. Jahrestag ihrer Gründung beging, gab es keinen Festakt. Das historische Gebäude, die „Burg“, lag damals in Schutt und Asche, ein österreichisches Militär existierte nicht. Die alliierten Streitkräfte hatten die deutsche Wehrmacht nach dem Ende des Kriegs aufgelöst, ein eigenes Heer für das besetzte Österreich erlaubten sie nicht.

Die historische Einrichtung hatte zu diesem Zeitpunkt schon viel miterlebt. 1751 von Kaiserin Maria Theresia als Reformprojekt gegründet, war sie mehr als ein Jahrhundert lang die wichtigste Ausbildungsstätte der k.u.k. Armee – ursprünglich „für 200 Offizierskadetten, davon 100 Adelige und 100 Söhne von verdienten Offizieren“, heißt es auf der Website des Bundesheers.


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Bereits im 18. Jahrhundert wurden in Wiener Neustadt Offiziere ausgebildet

Untergebracht war die Militärakademie von Beginn an auf jenem Gelände, auf dem seit dem 13. Jahrhundert die mehrfach zerstörten Burgen von Wiener Neustadt standen. 1768 erneut von einem Erdbeben zerstört, wurde das Gebäude in veränderter Form wieder aufgebaut, diesmal angepasst an die Erfordernisse einer militärischen Ausbildungsstätte.

Eine kurze Phase der Republik
Eine solche blieb die älteste Militärakademie der Welt auch nach dem Ende der Monarchie – baulich praktisch unverändert. Das neue Bundesheer der Ersten Republik führte die Tradition fort und bildete hier bis zum 12. März 1938 ebenso seine Offiziere aus.

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Die Wiener Neustädter Burg Ende des 19. Jahrhunderts

Am Tag des „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche Reich wollten Nationalsozialisten auch in die Theresianische Militärakademie einziehen. Der damalige Kommandant der Einrichtung, Rudolf Towarek, stellte sich ihnen jedoch entgegen. „Schon vorher hatten zwei SS-Männer versucht, auf dem Rákóczi-Turm die Hakenkreuzfahne zu hissen, was Towarek jedoch untersagte“, heißt es dazu im Bundesheer-Medium „Truppendienst“. Der Kommandant positionierte Soldaten mit geladenem Gewehr vor dem Tor.

Tatsächlich gelang es ihnen mit Bajonetten, die Nationalsozialisten kurzzeitig zurückzudrängen. „Erst in den Abendstunden – als die ‚Machtübernahme‘ in Österreich vollzogen war – musste die Hakenkreuzfahne auf Weisung der Nationalsozialisten in der Theresianischen Militärakademie auf der Burg gehisst werden“, heißt es im Bericht. Towarek verweigerte den Eid auf den „Führer“ und wurde zwangspensioniert.

NS-Ausbildungsstätte mit dem „Wüstenfuchs“ Rommel
Von nun an stand die Wiener Neustädter Burg unter dem Kommando des NS-Regimes. Dessen militärische Absichten wurden alleine schon mit einer Umbenennung der Einrichtung deutlich. So hieß die Theresianische Militärakademie ab 1938 „Kriegsschule“.


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Ein Zeitungsbericht der NS-Propaganda aus dem Jahr 1938 zeigt den Besuch des Oberbefehlshabers der Wehrmacht, Walther von Brauchitsch, in Wiener Neustadt

Ein besonderes historisches Kapitel begann im Herbst desselben Jahres. Als Kommandant der Wiener Neustädter Kriegsschule wurde nämlich ein gewisser Erwin Rommel eingesetzt, der wenige Jahre später mit seinen Afrikafeldzügen als „Wüstenfuchs“ bekannt werden sollte. Rommel wurde 1938 mit seiner Familie in einer Villa im nahegelegenen Akademiepark einquartiert.

Die ersten 200 „Oberfähnriche“ der Kriegsschule verabschiedete er am 14. August 1939, berichtete der „Völkische Beobachter“. Eine Woche später, am 22. August, verließ Rommel selbst die Einrichtung. Er hatte nun Wichtigeres zu tun – immerhin begann wenige Tage darauf mit dem Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Die Familie des hohen Wehrmachtsoffiziers blieb hingegen noch bis 1943 – wenige Monate vor dem erzwungenen Suizid Rommels – in Wiener Neustadt.

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Ab 1938 wehte die Hakenkreuz über dem Eingang der Wiener Neustädter Militärakademie
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Wenige Monate später übernahm Erich Rommel, später der weltweit wohl bekannteste Wehrmachtsgeneral, das Kommando in Wiener Neustadt (hier mit seiner Frau Lucie Maria und seinem Sohn Manfred, dem späteren Oberbürgermeister von Stuttgart)

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Die Familie Rommel lebte in dieser Villa im Akademiepark

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Ab 1. März 1940 begann man die Heeres-Unteroffiziers-Vorschule für den Wehrkreis XVII in der Neustädter Burg neu aufzustellen

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Sie existierte bis 1942, dann wurde sie nach München verlegt

Die Ausbildungseinrichtung der Wehrmacht in der Burg wurde 1940 als Heeres-Unteroffiziers-Vorschule neu aufgestellt, bevor sie 1942 nach München verlegt wurde. Wiener Neustadt war zu dieser Zeit längst zu einem der Zentren der NS-Waffenindustrie geworden, insbesondere die Flugzeugwerke spielten für die strategischen Kriegsüberlegungen des Regimes eine große Rolle.
Angriff auf Wiener Neustadt
Deshalb geriet die Stadt auch bald ins Fadenkreuz der Alliierten. Als Wiener Neustadt 1943 in die Reichweite von Bomberverbänden kam, begann eine Zeit der Zerstörung. Bis zum Ende des Kriegs wurden hier 55.000 Bomben abgeworfen, insgesamt kamen etwa 2.000 Menschen ums Leben.
Wiener Neustadt war die meistzerstörte Stadt Österreichs und gehörte neben Tokio, Hiroshima, Nagasaki, Dresden, Düren, Paderborn und Coventry zu jenen Städten, welche die größten Schäden im Luftkrieg während des Zweiten Weltkrieges hinnehmen mussten. Auch die Burg war betroffen, allerdings erst in den letzten Tagen des Kriegs. Anfang April 1945 geriet sie bei den Kämpfen in Brand. Der Gebäudekomplex wurde dabei praktisch vollständig zerstört.

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Heeresbild- und Filmstelle
In den letzten Kriegstagen im April 1945 wurde die ehemalige Militärakademie von alliierten Bomberverbänden getroffen
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Die Treffer verursachten ein Feuer, das erst nach Tagen erlosch

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Das historische Gebäude der Wiener Neustädter Burg brannte komplett aus

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An eine baldige erneute Nutzung war nicht zu denken

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Auch die benachbarte Rommel-Villa war zerstört

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Die Familie des Generals war bereits 1943 weggezogen

Direkt nach dem Krieg kümmerte man sich kaum um die Ruine. In Wiener Neustadt fehlte es an allem und eine ehemals militärische Einrichtung genoss keine hohe Priorität. Das änderte sich erst, als ein möglicher Staatsvertrag in Sichtweite kam.

Ein Bundesheer ohne Wehrmachtsoffiziere?
Mitte der Fünfzigerjahre war die Situation eine heikle: Knapp 20 Jahre lang hatte das österreichische Bundesheer nicht existiert. Dementsprechend war die Suche nach Personal für das wiedererrichtete Heer nicht einfach – insbesondere, wenn man all jene mit Berührungspunkten zur NS-Ideologie ausklammerte. Die alliierten Mächte hatten sich in den Jahren nach ihrem Sieg klar gegen eine Militarisierung Österreichs ausgesprochen. Man wollte unter allen Umständen verhindern, dass sich Österreich mit einer neuen Wehrmacht sofort wieder Deutschland anschließt und den Krieg fortsetzt.

Im Geheimen hatten die nunmehr österreichischen Behörden allerdings jahrelang die Wiedererrichtung einer militärischen Organisation vorbereitet, unter dem Anschein der zivilen Verwaltung bzw. etwas später mit der sogenannten B-Gendarmerie. Immerhin war ihnen bereits klar, dass das eigene Heer eine Vorbedingung für ein neutrales Österreichs sein würde. Dieses müsste immerhin die Möglichkeit haben, das eigene Staatsgebiet im Fall einer Aggression zu verteidigen.

Noch komplexer wurde die Lage dadurch, dass sich die USA zunehmend für eine Wiederbewaffnung Österreichs einsetzten, während die Sowjetunion deutlich zurückhaltender blieb. Im Fall eines sowjetischen Angriffs auf den Westen wollten die US-Amerikaner in Österreich einen Puffer schaffen, der den Vormarsch zumindest verzögern würde. „Ein militärisches Vakuum wollte man in Österreich nicht“, schreibt Peter Alexander Barthou in seiner Diplomarbeit zu dem Thema.

„Oberstenparagraph“ als Hürde für das neue Bundesheer
Im Staatsvertrag 1955 spiegeln sich all diese Überlegungen wider, vor allem im Artikel zwölf. Im sogenannten Oberstenparagraph heißt es, Österreicher, „die in der Zeit vom 13. März 1938 bis zum 8. Mai 1945 in der deutschen Wehrmacht im Range eines Obersten oder in einem höheren Range gedient haben“, seien vom Dienst im Bundesheer ausgeschlossen.

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Diese Klausel sollte dafür sorgen, dass weder überzeugte Nationalsozialisten noch politische Wendehälse, die in der Wehrmacht Karriere gemacht hatten, das neue Heer prägen. Nur Soldaten, die zur österreichischen Nation standen, waren willkommen. Allerdings: „Durch die Festlegung des ‚Oberstenparagraphen‘ wurde Österreich vom Zugriff auf eine Militärelite abgeschnitten, die es für den Neuaufbau eines Bundesheeres hätte brauchen können“, schreibt Barthou.

Stattdessen sollte Österreich in erster Linie auf Offiziere aus dem Bundesheer der Ersten Republik zurückgreifen, die von Nationalsozialisten ab 1938 aus politischen Gründen abgesetzt („gemaßregelt“) worden waren. 20 Jahre später waren diese aber fast zur Gänze im Pensionsalter und deren Zahl reichte für das Bundesheer nicht aus.

Lehren aus den Februarkämpfen 1934
Dazu kamen innenpolitische Faktoren, allen voran die SPÖ. Sie war vom Trauma des österreichischen Bürgerkriegs 1934 geprägt, als Bundesheer-Soldaten auf Gemeindebauten geschossen hatten. Ein derartiges Szenario wollte man in Zukunft unbedingt verhindern – das erschien so manchem wichtiger als die nationalsozialistische Vergangenheit der Wehrmachtsangehörigen. „Man versuchte, aus dem Potential, das ausreichend zur Verfügung stand, parteinahe Offiziere herauszusuchen“, schreibt Barthou diesbezüglich in seiner Arbeit.

Deshalb fanden die Parteien zum Teil Umgehungskonstruktionen für ehemalige Wehrmachtsoffiziere. So war man etwa der Ansicht, dass das Dienstverbot „in den österreichischen Streitkräften“, das der Staatsvertrag vorschrieb, nicht für alle Teile des Heeres galt. „Der Begriff Streitkräfte wurde mit kämpfender Truppe gleichgesetzt, was in der Verwaltungstradition Österreichs dazu führte, dass die formaljuristisch abgegrenzte Heeresverwaltung somit nicht von Artikel 12 erfasst war.“

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Im September 1955 wurde das Wehrgesetz verabschiedet, das die Grundzüge des neuen Bundesheers festlegen sollte
Fortsetzung siehe Teil 2:
 
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