Überlebende haben das KZ Gusen als „die Hölle aller Höllen“ beschrieben. Die Todesraten waren zeitweise höher als im Zwillingslager Mauthausen. Ab 1944 entstand in Gusen die größte unterirdische Rüstungsfabrik des Deutschen Reichs. Trotz seiner überragenden Bedeutung als Tatort nationalsozialistischer Verbrechen forcierte die Republik Österreich in der Nachkriegszeit das Vergessen. Eine Quellendokumentation ist nun Teil eines großangelegten Versuches, Gusen als Gedächtnisort fruchtbar zu machen.
Die Häftlingskarte der Zwangsprostituierten Wanda S. überliefert nicht nur ihr Aussehen, sondern auch, wozu sie im KZ Gusen gezwungen wurde: „Bordellfrau“ ist in sauberer Handschrift auf der Karteikarte vermerkt. Als „geheim“ eingestufte Tatortfotos aus dem Amtsgericht Mauthausen dokumentieren tödliche Unfälle bei der Zwangsarbeit im Steinbruch.
Anhand von Quellen wie diesen ermöglicht der Band „Konzentrationslager Gusen. 1939–1945“ das Eintauchen in die Arbeits- und Funktionsweise eines Ortes, in dem nach dem Willen der Nationalsozialisten Verfolgte aus 27 Nationen gequält und ermordet wurden. Insgesamt waren im KZ Gusen rund 72.000 Menschen inhaftiert. Nur etwa die Hälfte von ihnen überlebte.
Um die wenigen baulichen Überreste der Lager Gusen I bis III im oberösterreichischen Mühlviertel entfalteten sich im Nachkriegsösterreich oft beschämende Aktivitäten. Etwa die Einrichtung einer Champignonzucht in den unterirdischen Stollen, in denen KZ-Häftlinge bei der Zwangsarbeit umgekommen waren.
Was von Gusen übrig blieb, sind vor allem über die ganze Welt verstreute Fotos, Verwaltungs- und Prozessakten, Tagebücher, Zeichnungen, Erinnerungen von Zeitzeugen und sogar Musiknoten, die den Massenmord, aber auch den Willen zum Überleben dokumentieren. Die im Band versammelten Quellen führen nah an die Menschen von damals heran – an die Opfer und an die Täter.
Das Notizbuch des KZ-Häftlings Germano Facetti mit Teilen seiner Häftlingsuniform (in: „Konzentrationslager Gusen 1939–1945 – Eine Dokumentation“, S. 98), Museu d’Història de Catalunya
Häftlinge beim Bau des KZ Gusen, Frühjahr 1940 (in: „Konzentrationslager Gusen 1939–1945 – Eine Dokumentation“, S. 27)
Der Italiener Facetti hielt die Ankunft eines „Räumungstransportes“ weiblicher KZ-Häftlinge im April 1945 fest (in: „Konzentrationslager Gusen 1939–1945 – Eine Dokumentation“, S. 98)
Eine Zeichnung Facettis, die die Allgegenwärtigkeit des Todes im KZ Gusen veranschaulicht (in: „Konzentrationslager Gusen 1939–1945 – Eine Dokumentation“, S. 99), Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau
„Veränderungsmeldungen“ überliefern den Häftlingsstand des KZ Gusen und geben Auskunft über Namen und Nationalität der im KZ Getöteten (in: „Konzentrationslager Gusen 1939–1945 – Eine Dokumentation“, S. 75)
International verstreute Quellen
Die internationale Zerstreuung der Quellen war eine Herausforderung für das Publikationsteam, berichtet Gregor Holzinger, der Leiter der Forschungsstelle der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, im Gespräch mit ORF Topos. Möglich war das Projekt durch die vorangegangene jahrzehntelange weltweite Sammlungstätigkeit der Gedenkstätte. Zudem wurden in einem einjährigen Projekt aus dieser Sammlung Objekte und Dokumente mit Gusen-Bezug herausgefiltert.
Bedeutende Quellen hätten vor allem Häftlinge selbst bewahrt, betont Holzinger. Sie retteten gegen Kriegsende unter Lebensgefahr Beweismittel vor der Vernichtung durch die SS. Etwa die Totenbücher, die die Ermordung Zehntausender bezeugen. Drei dieser Totenbücher fanden ihren Weg sogar nach Australien, wo sie der ehemalige Gusener Häftlingsschreiber Zdzisław Marian Rakowski dem Roten Kreuz übergab.
Die Herkunft der in Gusen Inhaftierten war international – unter ihnen befanden sich Mitglieder der polnischen Intelligenz, republikanische Spanier, sowjetische Kriegsgefangene, aber auch Juden aus ganz Europa. Menschen, die die Nationalsozialisten aus politischen oder rassischen Gründen vernichten wollten. Mit den Überlebenden zerstreuten sich die Zeugnisse nach der Befreiung 1945 in alle Welt.
Quellen zu „allen Aspekten“ des Lagers
Der nun erschienene Forschungsband versammelt Material von Überlebendenverbänden, Privatpersonen, internationalen und lokalen Archiven und soll an „alle Aspekte“ des Lagers von seiner Gründung 1939 bis zur Befreiung durch die Amerikaner am 5. Mai 1945 heranführen, so die Herausgeber.
Unaufgeregt und wissenschaftlich sauber kontextualisiert der Band Quellen durch Aufsätze, die in zehn Themengruppen angeordnet sind. Die gewählte Methode, sich dem Schreckensort ausgehend von den Quellen anzunähern, geht zuweilen auf Kosten der Übersichtlichkeit, ermöglicht aber auch interessierten Laien ein fast immersives Eintauchen in die verästelten Details des Lageralltags.
Beklemmend ist beispielsweise die Beschreibung der Häftlingspost als Disziplinierungsinstrument. Aufgerollt wird das anhand des wie durch ein Wunder erhalten gebliebenen (und zensierten) Schreibens eines polnischen Häftlings an seine Eltern: „Bin gesund und fühle mich wohl“, schrieb Stefan Trynka 1941 aus dem Vernichtungslager.
Angehörige der Lager-SS posieren mit Anrainern des KZ Gusen, Sommer 1941 oder 1942 (in: „Konzentrationslager Gusen 1939–1945 – Eine Dokumentation“, S. 137), KZ Gedenkstätte Mauthausen
Das Fotoalbum des SS-Angehörigen Artur Schulz. Die Fotos zelebrieren militärische Schneidigkeit und die Kameradschaft unter den in Gusen eingesetzten SS-Männern (in: „Konzentrationslager Gusen 1939–1945 – Eine Dokumentation“, S. 117).
Bundesarchiv, Außenstelle Ludwigsburg, B 162/4756
Anklageschrift 1959 gegen Karl Chmielewski, Leiter des KZ Gusen von 1940 bis 1942. Chmielewski war nach Kriegsende untergetaucht und wurde erst 1959 angeklagt (in: „Konzentrationslager Gusen 1939–1945 – Eine Dokumentation“, S. 126).
Anklageschrift 1959 gegen Karl Chmielewski, Leiter des KZ Gusen von 1940 bis 1942. Chmielewski war nach Kriegsende untergetaucht und wurde erst 1959 angeklagt (in: „Konzentrationslager Gusen 1939-1945 – Eine Dokumentation“, S. 127).
Anklageschrift 1959 gegen Karl Chmielewski, Leiter des KZ Gusen von 1940 bis1942 (in: „Konzentrationslager Gusen 1939–1945 – Eine Dokumentation“, S. 128)
Anklageschrift 1959 gegen Karl Chmielewski, Leiter des KZ Gusen von 1940 bis 1942 (in: „Konzentrationslager Gusen 1939–1945 – Eine Dokumentation“, S. 129)
Das Todeslager
„Vernichtung durch Arbeit“ stand im Zentrum des KZ Gusen. Diese Botschaft können die publizierten Quellen allerdings nur ansatzweise gewichten. Hier übernehmen ein ausführlicher wissenschaftlicher Kommentar und die beigefügte Chronologie.
Die Begleittexte zeigen, wie Gusen ab 1943 zu einem der wichtigsten Zentren der Rüstungsproduktion des Deutschen Reiches expandierte. Für qualifizierte Häftlinge stiegen die Überlebenschance durch die Fertigung von Gewehrteilen für die Steyr Daimler Puch AG und die Arbeit am Jagdflugzeug Me 109 für die Messerschmitt GmbH. Um die Rüstungsproduktion vor den alliierten Luftangriffen zu schützen, mussten Häftlinge unterirdische Stollen anlegen. Diese gefährliche Arbeit ließ die Todesraten von Gusen wieder in die Höhe schnellen.
Kranke und Schwache wurden in Gusen aussortiert und ermordet – in der 34 Kilometer entfernten Tötungsanstalt Hartheim und an Ort und Stelle durch Vergasungswagen und Zyklon B-Versuche. Besonders sadistisch waren die „Todbadeaktionen“ in den Jahren 1941 bis 1942, bei denen kranke Häftlinge mittels eiskalter Brausebäder ermordet wurden. Kaum Überlebenschancen hatten sowjetische Kriegsgefangene, die gezielt getötet wurden.
Medizinische Versuche und Willkürakte
Flankiert wurden diese Tötungsmaßnahmen von medizinischen Versuchen an Häftlingen und durch persönliche Willkürakte der SS-Belegschaft und der Kapos. Im Jänner 1945 starben Hunderte Häftlinge im Rahmen einer „Desinfektion“ des Lagers. Sie mussten bei starkem Frost nackt im Freien übernachten. Daneben grassierten Hunger und durch mangelnde Hygiene ausgelöste Epidemien wie Fleckfieber.
Dass Gusen von Anfang an als Vernichtungslager geplant war, darauf lässt der Schriftverkehr zwischen der Firma J. A. Top & Söhne und der SS-Bauleitung Mauthausen schließen. Gleichzeitig zur offiziellen Eröffnung im Mai 1940 wurde für Gusen ein eigener Krematoriumsofen bestellt.
Schlampiger Umgang mit der Nazi-Vergangenheit
In Österreich wurde die Erinnerung an das ehemals härteste Lager der Nationalsozialisten bald getilgt. Barbara Glück, die Direktorin der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, meint in einem
Video der Gedenkstätte, Gusen sei „ein Spiegelbild dessen, wie Österreich generell mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte umgegangen ist“.
Eine erste Basis für das Vergessen von Gusen legten aber schon die sowjetischen Besatzer. Sie führten als Reparationsleistung die KZ-Steinbrüche als sowjeteigene USIA-Betriebe weiter. Durch Plünderungen und Verkauf verschwanden schon 1945 Teile des Lagers. Im Herbst 1947 unternahmen die Sowjets einen Sprengungsversuch des Stollens „Bergkristall“, der die unterirdische Rüstungsproduktion beherbergt hatte.
Nach dem Abzug der Alliierten 1955 wurde Gusen an die Republik Österreich zurückgestellt. Das vier Kilometer entfernte KZ Mauthausen sollte als Gedenkstätte erhalten bleiben, für das Zwillingslager Gusen gab es keine Auflagen. Die Republik Österreich parzellierte das Gebiet der Lager Gusen I und II und verkaufte es billig als Baugrund.
Die Republik Österreich verkaufte ab den 1950er Jahren Teile des KZ-Geländes von Gusen als Baugrund
Mauthausen Memorial 2.1.022.147
Damit war der Grundstein für einen Jahrzehnte schwärenden Konflikt gelegt. „Buchstäblich auf den Fundamenten“ des ehemaligen Lagers, so das Herausgeberteam des vorliegenden Forschungsbandes, entstand in den 1950er Jahren eine Wohnsiedlung. Auch das ehemalige Lagerbordell, in dem Wanda S. und andere Frauen als Zwangsprostituierte ausgebeutet worden waren, wurde zum Wohnhaus. Das Jourhaus, die ehemalige Kommandantur des KZs, gelangte ebenfalls in private Hände.
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Das 1942 eingerichtete Häftlingsbordell im KZ Gusen. Zehn weibliche Häftlinge wurden hier als Zwangsprostituierte eingesetzt. picturedesk.com/laif/Berthold Steinhilber
Heute dient das ehemalige Bordell als Wohnhaus (Foto 2006), Arolsen Archives
Die Häftlingspersonalkarte der Zwangsprostituierten Wanda S. (in: „Konzentrationslager Gusen 1939–1945 – Eine Dokumentation“, S. 164), Arolsen Archives
Auf der Rückseite der Karteikarte ist der Einsatz von Wanda S. als „Bordellfrau“ dokumentiert (in: „Konzentrationslager Gusen 1939–1945 – Eine Dokumentation“, S. 164), Amical de Mauthausen
Der Eingangsbereich des KZ Gusen, auch genannt „Jourhaus“, picturedesk.com/laif/Berthold Steinhilber
Heute dient das „Jourhaus“ als repräsentatives Wohnhaus (Foto 2006)
Der Konflikt um das Krematorium
Um den Krematoriumsofen, das markanteste Relikt des KZ Gusen, begann in den 1950ern eine Wohnsiedlung zu wachsen. Dieses Krematorium war von Überlebenden, vorwiegend aus Polen und Frankreich, bereits Ende der 1940er zur inoffiziellen Gedenkstätte transformiert worden. Diese wurde zunehmend zum „Dorn im Auge“ von lokalen und nationalen Behörden, erzählt Forschungsleiter Holzinger im Gespräch mit ORF Topos. Die Republik Österreich erteilte schließlich der zuständigen Gemeinde die Abrissbewilligung für das Krematorium.
Nach internationalen Protesten und einer Spendensammlung entstand gegen den Willen der damaligen Regierenden rund um das Krematorium das 1965 eingeweihte „Memorial“. Der Bau geht auf eine Mailänder Architektengruppe zurück, von der zwei Mitglieder ebenfalls Häftlinge in Gusen gewesen waren. Erst 1997 erklärte sich die Republik Österreich verantwortlich für seine Erhaltung.
Der Krematoriumsofen des KZ Gusen ist heute Zentrum des „Gusen Memorial“
picturedesk.com/AFP/Joe Klamar
Die KZ-Gedenkstätte steht heute inmitten einer Wohnsiedlung
Weiterentwicklung zum internationalen Gedenkort
Seitens des offiziellen Österreich erfolgte in den vergangen drei Jahrzehnten Schritt für Schritt eine Abkehr von der Politik des aktiven Verdrängens. Die Republik hat mittlerweile Grundstücke der ehemaligen Lager zurückgekauft. Seit 2011 gibt es ein „Bürger*innenbeteiligungsprojekt“, das alle Beteiligten – von den Anrainern bis zu den diplomatischen Vertretungen der Herkunftsländer der Opfer – an einen Tisch gebracht hat.
Gegenseitiger „Respekt“ und das Ziel, die leidvolle Geschichte an die Jugend weiterzuvermitteln, stehen bei der künftigen Erweiterung der Gedenkstätte Gusen im Vordergrund. 2025 soll mit der Realisierung begonnen werden.
10.11.2024, Silvia Heimader (Text, Gestaltung), ORF Archiv, Mona Harfmann (Redaktion), ORF Topos