NS-Tätersuche durch jüdische Überlebende im Nachkriegsösterreich

josef

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Wie jüdische Überlebende im Nachkriegsösterreich nach NS-Tätern suchten
Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Jüdische Historische Dokumentation, NS-Täter ausfindig zu machen, was schließlich in der Verhaftung Adolf Eichmanns gipfelte
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Im Gastblog zeigt die Historikerin Lea von der Hude, wie Holocaustüberlebende aufgrund von Untätigkeit anderer Stellen die Suche nach ihren Peinigern selbst vorantreiben mussten.
Anfang des Jahres 1946 gründete der Lehrer und Holocaustüberlebende Mejlech Bakalczuk in einem Lager für jüdische Displaced Persons (DP-Lager) im Linzer Stadtteil Bindermichl eine Historische Kommission, die Zeugnisse von Holocaustüberlebenden sammeln sollte. Bakalczuk leitete die Kommission gemeinsam mit dem aus Butschatsch stammenden Architekten und Überlebenden Simon Wiesenthal, der bereits die amerikanische Besatzungsmacht bei der Suche nach KZ-Personal unterstützte.

Anders als andere Jüdische Historische Kommissionen in Europa, die durch die Überlebendenberichte vor allem das Ausmaß des Massenmords aus jüdischer Perspektive dokumentieren wollten, erhoffte sich die Kommission in Österreich von den Zeugenaussagen vor allem Informationen zur Identifizierung und späteren Strafverfolgung der Täter.


Aufnahme von Tuviah Frydman aus dem Jahr 1960. Er trug mit seiner Arbeit unter anderem dazu bei, Adolf Eichmann in Argentinien ausfindig zu machen.
Harry Pot / Anefo, Turia Friedmann , hoofd Israelische veiligheidsdienst, Bestanddeelnr 911-3355, CC0 1.0

Auch in Wien gründete sich eine Gruppe zur Sammlung von Beweismaterial: Der aus Radom stammende Überlebende Tuviah Frydman hatte bis Februar 1945 das Ministerium für Öffentliche Sicherheit in Gdánsk bei der Suche nach deutschen Kriegsverbrechern unterstützt. Von der Bricha, der jüdischen Untergrundorganisation, die die Auswanderung in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina organisierte, erhielt Frydman vorläufige Listen österreichischer und deutscher NS-Verbrecher. Neben den zwei ehemaligen Partisanen Olek Gutman und Manus Diamant bestand die Wiener Gruppe um Frydman zu einem Großteil aus jüdischen Studierenden, die dem kürzlich gegründeten Verband Jüdischer Hochschüler Österreichs angehörten. Seit dem Frühjahr 1947 arbeiteten die Wiener und die Linzer Gruppe unter dem Namen Jüdische Historische Dokumentation (JHD) eng zusammen.

Heilige Pflicht" gegenüber den Ermordeten
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der JHD betrachteten die Suche nach den Tätern als ihre "heilige Pflicht" gegenüber den Millionen Ermordeten. Zentrales Anliegen war es, NS-Verbrecher ausfindig zu machen und möglichst viele Zeugenaussagen zu sammeln, um die Täter vor Gericht stellen zu können. Die Strafverfolgung von NS-Tätern im Nachkriegsösterreich verlangsamte sich rasch, darüber hinaus fielen die Urteile der österreichischen Gerichte häufig ausgesprochen milde aus.

Angesichts der Passivität und Nachsicht der österreichischen Behörden gegenüber den NS-Verbrechern mussten sich die Holocaustüberlebenden groteskerweise selbst für die Suche nach ihren Peinigern verantwortlich fühlen. Der Umstand, dass sich viele der Überlebenden als Displaced Persons nur noch für einen begrenzten Zeitraum in Österreich aufhalten und somit nicht mehr lange als Zeugen vor Ort zur Verfügung stehen würden, beeinflusste die Dringlichkeit ihrer Nachforschungen zusätzlich. Nicht zuletzt wollten sie die österreichische Öffentlichkeit mit dem Ausmaß des nationalsozialistischen Massenmords konfrontieren und das schon im Entstehen begriffene kollektive Schweigen über die Verantwortung Österreichs aufbrechen.

Gegen das kollektive Schweigen
Die Informationen der Überlebenden waren von zentraler Bedeutung für die Arbeit der JHD: Die vor allem in den DP-Lagern aufgenommenen Zeugenaussagen sollten eine vorzeitige Entlassung bereits inhaftierter Täter verhindern und in den Gerichtsverhandlungen als Beweismaterial dienen. Dabei gestaltete sich das Sammeln der Zeugenaussagen mitunter schwierig: Nicht alle Überlebenden wollten sich nach der Befreiung noch detailliert mit ihren Peinigern und den schmerzhaften Erinnerungen auseinandersetzen.

Zur Systematisierung der gewonnenen Informationen erstellte die JHD ein komplexes Karteisystem, bestehend aus Orts- und Personenregistern. Anfangs handelte es sich bei den gesuchten Personen vor allem um Täter niederer Dienstränge, mit denen die Überlebenden persönliche Begegnungen gehabt hatten und über die sie dementsprechende Aussagen tätigen konnten. Dieser Personenkreis umfasste anfangs vor allem SS-, SD- oder Gestapoangehörige und Polizeibeamte niederen Ranges sowie deren Ehefrauen, Angestellte der Besatzungs- und Zivilverwaltung, Lageraufseher oder ukrainische Milizionäre. Eine Veränderung hin zur Suche der JHD nach hochrangigeren NS-Vertretern setzte im Rahmen der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse ein.

Die Kommission in Wien und Linz arbeitete seit Anfang 1947 eng mit der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission in Warschau (CŻKH) zusammen. Im Vergleich zu Österreich hatte die polnische Kommission durch die Unterstützung der dortigen jüdischen Interessenvertretung größere Handlungsspielräume: So wurden Mitglieder der CŻKH sogar als Gutachter in Prozessen gegen NS-Verbrecher eingesetzt. Die Kommissionen in Polen und Österreich überstellten einander Beweismaterial und tauschten ihre Karteien von NS-Tätern aus. Nicht zuletzt war es die CŻKH, die die österreichische JHD darin unterstützte, NS-Verbrecher, die sich in Österreich aufhielten, an Polen auszuliefern.

Das Ende der Jüdischen Historischen Dokumentation
Die Zusammenarbeit der JHD mit den österreichischen Behörden erschwerte sich seit 1948 zunehmend – so wählten die lokalen Behörden vor allem die Taktik, die Auslieferungsverfahren österreichischer NS-Verbrecher möglichst weit in die Länge zu ziehen. Die enorme Passivität und bewusste Verzögerung der Verfahren durch die österreichischen Behörden, die politische Rehabilitierung von einer halben Million ehemaligen NSDAP-Mitglieder durch die Novelle des Verbotsgesetzes im Jahr 1947 sowie die fehlende Unterstützung durch die westalliierten Besatzungsmächte angesichts des sich zuspitzenden Kalten Krieges erschwerten die Arbeit der JHD zunehmend.

1952 löste sich die Wiener Kommission mit der Auswanderung Tuviah Frydmans nach Israel auf, wo dieser zunächst für die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem arbeitete und 1957 ein Such- und Dokumentationsbüro in Haifa eröffnete. Simon Wiesenthal löste die Linzer Kommission 1954 auf, gründete jedoch 1961 das Jüdische Dokumentationszentrum in Wien, in dem es ihm über mehrere Jahrzehnte gelang, hochrangige Kriegsverbrecher ausfindig zu machen, darunter etwa den Österreicher Franz Stangl, den ehemaligen Kommandanten der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka. Zeit seines Lebens prangerte Wiesenthal die Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Zweiten Republik an.

200 NS-Verbrecher aufgespürt
Eine genaue Zahl aller NS-Täter, die zwischen 1946 und 1952 von der JHD ausfindig gemacht und infolgedessen verhaftet werden konnten, liegt nicht vor. Wiesenthal selbst sprach 2003 in einem Brief an Frydman von etwa 200 Personen. In 64 Fällen ehemaliger österreichischer Schutzpolizisten, die in Ostgalizien Massenerschießungen durchgeführt hatten, erwirkte die JHD die Auslieferung an die zuständigen sowjetischen Behörden, die sie zeitweise in Sibirien inhaftierten. Das von der JHD zusammengestellte Beweismaterial wurde auch in Wiener Volksgerichtsprozessen gegen NS-Täter verwendet.

Darüber hinaus war die JHD an der Identifizierung des Österreichers Franz Murer beteiligt, eines der Hauptverantwortlichen für die Ermordung der jüdischen Bevölkerung in Wilna. Jahre später zahlte sich die Suche nach einem der meistgesuchten NS-Verbrecher aus: 1961 konnte Adolf Eichmann unter anderem durch die jahrelange intensive Suche Frydmans und Wiesenthals in Argentinien verhaftet und in Israel vor Gericht gestellt werden.

Schuldabwehr, Relativierung und Drohungen
Tuviah Frydman, Simon Wiesenthal sowie deren Mitstreiterinnen und Mitstreiter erkannten zu einem überaus frühen Zeitpunkt die Schuldabwehr, die sich hinter dem Mythos von Österreich als dem "ersten Opfer" des Nationalsozialismus verbarg. Auf die eine oder andere Weise habe jede Familie in Österreich "einen SS-, SA- oder Gestapomann oder Ariseur ihren Reihen", zitiert die Historikerin Laura Jockusch Wiesenthal.

Auch dass der Antisemitismus in Österreich keineswegs mit dem Zusammenbruch des "Großdeutschen Reiches" verschwunden war, musste die JHD erleben – nicht selten erhielten sie Drohbriefe, die Karikaturen aus dem ehemaligen NSDAP-Hetzblatt "Der Stürmer" enthielten. Im Nachkriegsösterreich, in dem die folgenden Jahrzehnte von Abwehr, Relativierung und Selbstviktimisierung geprägt waren, kämpfte die JHD im Namen der Ermordeten und Überlebenden für eine Bestrafung der Täter und gegen das beredte kollektive Schweigen.
(Lea von der Hude, 5.1.2024)

Lea von der Hude ist Doktorandin am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Sie beschäftigt sich vor allem mit der Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocausts sowie mit Geschichtspolitik und Gedächtnis in Deutschland und Österreich.

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