VERGESSENES WIEN Dokumentation von Kelleranlagen, Luftschutzbunkern, Stollensystemen und Kriegsrelikten in Wien

josef

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#3
IM KELLER
Mit Instagram durch Kellerlabyrinthe und private Luftschutzbunker
Jeremy Plaidl und Tina Baumann erkunden vor wachsendem Social-Media-Publikum die Unterwelt Wiens. Auf Tiktok und Instagram nehmen sie die Zuseherinnen und Zuseher mit
Man ist ja vorsichtig geworden in diesem Land, sobald man von Leuten, die ihre Unternehmungen mit "Eng, feucht und dreckig" bewerben, in einen Keller eingeladen wird, man denkt sofort an Josef Fritzl in Amstetten oder an Ulrich Seidls Film Im Keller. Aber diese beiden hier sind unverdächtig, mit uns irgendetwas Jeffrey-Dahmer-mäßiges anstellen zu wollen, wovon erst unsere Knochen erzählen würden, in ein paar hundert Jahren.
Tina Baumann, 26 und Archäologin, sowie ihr Freund Jeremy Plaidl, 27 und gelernter Lokführer, erkunden die Wiener Unterwelt vor wachsendem Social-Media-Publikum ("Hi! Ich bin Jerry …") und warten nun auf uns vor der Apotheke zum Heiligen Geist in der Wiener Operngasse, die es seit 1211 gibt. Den Keller darunter, den sie uns heute zeigen wollen, gibt es ein bisschen weniger lange, aber mindestens auch seit 1870. Das war das Jahr, in dem der Schillerhof errichtet wurde, und in dem ist die Apotheke heute untergebracht.


Auf ihren Touren durch nicht öffentlich zugängliche Wiener Kellerräume stoßen Tina Baumann und Jeremy Plaidl immer wieder auf Schätze.
Christian Fischer

Ältere Semester der Stadt mögen noch an die Schmutzer-Brüder aus Wien-Meidling oder an den Roten Heinzi denken, wenn von der Wiener Unterwelt die Rede ist. Und noch ältere schlicht an den Sammelbegriff "Bunker", der, so Jeremy, die häufigste Assoziation wäre mit allem, was unterhalb des Straßenniveaus liegt. Dabei wäre die Wiener Unterwelt "extrem vielfältig": Von vergessenen Lagerräumen über seit Jahrzehnten unberührte Wirtshauskeller oder verlockende Weinkeller bis hin zu zugemüllten Kellerabteilen, als Oldtimergaragen dienenden Gewölben oder Luftschutzkellern fände sich schlicht alles. Oder eben auch dieser selten gut erhaltene, riesige und gar nicht mal klaustrophobische Apothekenkeller, der das Gegenteil des Mottos "Eng, feucht und dreckig" ist, das Jeremy sogar als Tattoo am tiefen Rücken trägt.

Unterirdisches Labyrinth
Geradezu majestätisch sind nämlich seine weiten Räume, die sich über zwei Untergeschoße ausdehnen, mit feinsäuberlich geordneten Tinkturgläsern und -fässern in bestens erhaltenen Regalen oder einem Arbeitstisch, an dem schon Johann von Beethoven zugange war, und auch der Holzaufzug funktioniert noch einwandfrei. Das aber, sagen sie, wäre die Ausnahme und alleine der Apothekerin zu verdanken, die sich vorbildlich um die denkmalgeschützten Gewölbe kümmere. Ansonsten wäre die Wiener Unterwelt vor allem "ein zugemüllter Fleckerlteppich, ein Zusammenwurf unterschiedlicher Epochen". Und genau darum hätte sie so viel zu erzählen.


Der Holzaufzug funktioniert noch einwandfrei.
Christian Fischer

Ein typischer Erster-Bezirk-Keller wäre labyrinthmäßig angelegt, erzählen sie, weil mit den Jahren Bau auf Bau auf Bau errichtet wurde. Gehörten anfangs zu vielen kleinen Kellern viele kleine Häuser, so wurden diese mit der Zeit abgerissen und größere Gebäude daraufgesetzt. Die Keller darunter freilich blieben und wurden verbunden, Wände wurden durchbrochen oder durchschnitten, hier wurde etwas abgetrennt und dort etwas zugemauert. Es gab winzige Kellerwohnungen, in denen dutzende Leute unter erbärmlichsten Bedingungen hausten, meist Leiharbeiter oder Menschen, die nicht lange in der Stadt blieben. Es gab die Zwingburg unter dem Schwarzenbergplatz, eine Unterkunft für Obdachlose, die bis 1940 genutzt wurde. Und während des Zweiten Weltkrieges kamen dann auch noch sämtliche Verbindungsgänge dazu, was den Eindruck des Labyrinthes nur verstärkte.

Mit Ende des Krieges aber verließen alle die Unterwelt, die Menschen kamen ans Licht und überließen die Kellerräume wieder sich selbst. Seit Jahrzehnten unberührt, treten Jerry und Tina in sie ein. Auch in dem Kohlenkeller, den sie uns nun zeigen, liegen immer noch Tonnen von Kohle herum, die nie weggeräumt oder verheizt wurden. Der Schubkarren ist noch da, mit der die Kohle zum Ofen gebracht wurde, während "in einem Haus in der Bräunergasse sogar noch die Feldbahnschienen wie im Bergwerk vorhanden sind, samt der Lore, mit der die Kohle transportiert wurde".


Was man hier unten findet: hölzerne Weinfässer, ungeöffnete Tinkturen ...
Christian Fischer

Private Bunker
"Hier sieht man den für einen Luftschutzkeller typischen Notausstieg, der später errichtet wurde, und die zahlreichen Luftschächte, die den typischen Kellergeruch vermissen lassen", erklärt Jerry und zeigt uns gleich darauf "eine gut erhaltene, typische Zwischentüre mit Holzrahmen." Entlang von Wandteilen, Türen und Türstöcken, Verankerungen oder Holzkeilen in der Wand sowie Mauerresten und Gravuren in Ziegeln spüren sie der verlorenen Zeit nach: "Draußen im 23. Bezirk bei der Altmannsdorfer Straße gibt es noch immer den kleinen privaten Luftschutzbunker einer dort ansässigen Fabrik, wo die Mitarbeiter jeden Angriff samt Datum und Uhrzeit an der Wand notiert haben."

Sie leuchten alte Rechnungen, Zettel und Zeitungen mit ihren Taschenlampen an, Kisten mit Büchern oder alte Weinflaschen, die sich nach dem Öffnen aber meist nicht als gut gelagerter Bordeaux entpuppen, sondern halt doch als Brünnerstraßler. Und natürlich finden sie immer wieder Weltkriegsrelikte wie Gasmasken oder Munition, die in diesem Land nach wie vor ihr Publikum anlocken würden.

Romantische Enge
Deswegen geben Jerry und Tina die Standorte ihrer Unterwelttouren nie bekannt, anders als beim Social-Media-Wahnsinn "Lost Places", wo irgendwer ein Foto von sich auf einer Scholle in der Antarktis samt den genauen Koordinaten postet und am nächsten Tag schon alle anderen auch dorthin wollen.

Ein Massentrend wird ihre Leidenschaft aber ohnehin nicht werden, denn ihr Slogan "Eng, feucht und dreckig" schreckt am Ende doch viele ab, die unter Klaustrophobie leiden oder der Angst vor Finsternis, Spinnen oder Ratten. Sie selbst kennen all das nicht, und Panik befällt sie nicht einmal, wenn sie in der Wathose durch die dunklen Schächte mit fünfzig oder weniger Zentimeter Durchmesser robben.


... oder alte Schilder und Zeitschriften.
Christian Fischer

Tina selbst hat Jerry als Fan kennengelernt. Ihr wurde auf Tiktok, "wo ich sonst eigentlich nie bin", eines seiner Unterwelt-Videos vorgeschlagen, das Internet kannte scheinbar ihre einschlägigen Vorlieben. Seither sind sie, dem Algorithmus sei Dank, ein Paar, und wenn andere sich nach einem Familienessen aufs Ohr hauen, dann gehen sie in einen Park oder in den Wald.

Jeremy hat längst ein Auge für die kaum mehr sichtbaren Eingänge, die sie in vergessene Welten führen, oft sind sie zugeschüttet oder verwachsen, "und manchmal stehen sie auch sperrangelweit offen". Trotzdem steigt niemand hinein, weil diese Welt niemand mehr kennt. Sie wieder in Erinnerung zu rufen, das wollen sie tun, für sich und ihre mittlerweile 1,3 Millionen Follower in den sozialen Netzwerken.
(Manfred Rebhandl, 23.11.2022)
Mit Instagram durch Kellerlabyrinthe und private Luftschutzbunker
 
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