Ein neues Buch arbeitet ihre Geschichte im Konzentrationslager Mauthausen auf und liefert dabei auch Antworten auf die Frage, warum die Anerkennung erst jetzt kommt. Für die Opfer kommt sie zu spät, von entscheidender Bedeutung ist sie heute aber trotzdem.
Als die Nazis im August 1938 begannen, in Mauthausen ein Konzentrationslager zu errichten, brachten sie 300 Häftlinge aus dem KZ Dachau nach Mauthausen. Diese Männer mussten das Lager erst aufbauen. Sie hatten eines gemeinsam: Sie trugen alle den „grünen Winkel“ – ein Dreieck auf der Kleidung, das ihre Häftlingskategorie zu erkennen gab. Für die Nazis waren sie „Berufsverbrecher“. Sie waren die ersten und bis März 1939 die einzigen Häftlinge in Mauthausen. Einer von ihnen war der 25-jährige Johann Kopinitz aus Wien, der wenige Wochen zuvor nach Dachau deportiert worden war und bis 1945 in Mauthausen inhaftiert war.
Die Geschichte der „Berufsverbrecher“ im KZ Mauthausen hat nun der Soziologe und Politikwissenschaftler Andreas Kranebitter, Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW), aufgearbeitet. Die späte Anerkennung als NS-Opfer – sie erfolgte durch eine Novellierung des Opferfürsorgegesetzes am 12. Juni – und die lang bestehende Forschungslücke, die Kranebitter mit seinem Buch schließt, erklärt er im Gespräch mit ORF Topos unter anderem damit, dass den sogenannten Berufsverbrechern lange das Stigma anhaftete, „zu Recht im KZ“ gewesen zu sein.
„Auch der Irrglaube, dass diese Menschen zu KZ-Haft verurteilt wurden, hält sich sehr hartnäckig“, so Kranebitter: „Tatsächlich waren die sogenannten Berufsverbrecher vorbestrafte Personen, die ihre Haftstrafen schon längst abgesessen hatten.“ Verstärkt ab 1937 verhängten die Nazis zur „Vorbeugung“ KZ-Haft über Tausende Menschen, die davor mehr als dreimal zu mindestens sechs Monaten Haft verurteilt worden waren.
In der NS-Ideologie ging man davon aus, dass kriminelles Verhalten auf vererbbaren und unveränderlichen Wesenszügen basiere – eine Vorstellung, die nicht von den Nazis erfunden wurde, sondern bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Drei Viertel der Verurteilungen betrafen Eigentumsdelikte, erklärt Kranebitter: „In der Propaganda wurden die Menschen jedoch oft als Mörder und Gewalttäter dargestellt. Für die Nazis hatten sie ihr Recht, Teil der sogenannten Volksgemeinschaft zu sein, verwirkt und sollten weggesperrt oder sogar vernichtet werden.“
Das Bild vom „kriminellen KZler“
4.234 namentlich bekannte „Berufsverbrecher“, die in Mauthausen inhaftiert waren, konnte Kranebitter ausmachen, das sind 2,5 Prozent der Häftlinge. Zählt man die 11.098 Häftlinge dazu, die in Mauthausen in „Sicherungsverwahrung“ waren und einen „grünen Winkel“ mit der Spitze nach oben tragen mussten, kommt man auf gut neun Prozent „krimineller“ Häftlinge.
„Sicherheitsverwahrte“ waren Justizhäftlinge, denen die Nazis eine „kriminelle Laufbahn“ vorhersagten und die ab 1942 der Polizei übergeben und zur „Vernichtung durch Arbeit“ in Konzentrationslager deportiert wurden. In Mauthausen wurden sie meist innerhalb kürzester Zeit ermordet. Auch Frauen wurden als „Berufsverbrecherinnen“ und „Sicherheitsverwahrte“ inhaftiert, kamen aber nicht nach Mauthausen, sondern ins KZ Ravensbrück.
Die SS kategorisierte KZ-Häftlinge meist unmittelbar nach der Ankunft mit farblichen Dreiecken („Winkeln“). „Berufsverbrecher“ mussten einen grünen Winkel auf der Häftlingskleidung tragen.
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Nach der Befreiung sah sich Österreich als erstes Opfer des Nationalsozialismus, und die tatsächlichen Opfer wurden als „Täter“ ausgemacht. Das Bild von KZ-Häftlingen als kriminelle Häftlinge, das man heute noch in rechten bis rechtsextremen Kreisen beobachten könne, so Kranebitter, sei in der Bevölkerung weit verbreitet gewesen: „In diesem Klima waren die Opferverbände enorm in der Defensive. Das führte dazu, dass sich auch politische Häftlinge von den kriminellen Häftlingen distanzierten, um nicht selbst diskreditiert zu werden.“
Der „grüne Winkel“ wurde auch innerhalb der Überlebenden zum Stigma und Tabu. „Das war schon in den Lagern so“, sagt der Soziologe, „doch wurden dort noch individuelle Unterschiede gemacht.“
Enger Opferbegriff: Heldin oder Unschuldiger
Im Opferfürsorgegesetz waren in der ersten Fassung von 1947 nur jene Menschen als Opfer anerkannt, die „mit der Waffe in der Hand“ für ein freies Österreich gekämpft haben, sowie Menschen, die „aus politischen Gründen oder aus Gründen der Abstammung, Religion oder Nationalität“ verfolgt wurden.
Dass letztere auch als Opfer galten, war die Folge langer Diskussionen, erklärt Kranebitter: „Sogar Jüdinnen und Juden mussten darum kämpfen, als Opfer anerkannt zu werden, weil der Opferbegriff zunächst so eng verstanden wurde, dass er nur aktive Widerstandskämpfer fasste. Außerdem mussten Opfer eine weiße Weste haben, also keine Vorstrafen.“
Erst Jahrzehnte später wurden weitere Opfergruppen anerkannt: 1995 Menschen mit Behinderungen und 2005 Homosexuelle, als "
asozial" Verfolgte, Opfer der NS-Militärjustiz – hauptsächlich Deserteure – und Opfer der NS-Gesundheitspolitik, die etwa zwangssterilisiert wurden.
Im Konzentrationslager Mauthausen und seinen Außenlagern waren zwischen 1938 und 1945 circa 190.000 Menschen inhaftiert, mindestens 90.000 kamen zu Tode.
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Doch bis vor gut drei Wochen sah das Opferfürsorgegesetz vor, dass ein NS-Opfer nicht vorbestraft sein durfte. Auf die Frage, warum die Anerkennung der „Berufsverbrecherinnen“ und „Berufsverbrecher“ noch einmal fast zwei Jahrzehnte länger gedauert hat als die anderer ebenfalls stark stigmatisierter Gruppen, antwortet Kranebitter mit einer Gegenfrage: „Wer identifiziert sich schon gerne mit einem mehrfach verurteilten Einbrecher?“
Kaum jemand setzte sich für die Anerkennung dieser Opfergruppe ein. Teilweise gab es auch Widerstände von Überlebendenverbänden, sagt Kranebitter, weil auch dort „Berufsverbrecher“ von manchen nicht als echte Opfer oder pauschal als „Helfershelfer der SS“ gesehen wurden.
Das Narrativ vom „gewaltaffinen Berufsverbrecher“
Im KZ Mauthausen waren überdurchschnittlich viele „Berufsverbrecher“ Funktionshäftlinge, darunter auch gefürchtete Kapos, also Vorarbeiter in einem Arbeitskommando, etwa im Steinbruch von Mauthausen. „Die SS machte sich selbst nicht die Hände schmutzig und zwang die Kapos, ihren Terror auszuführen“, sagt Soziologe Kranebitter.
„Die anderen Häftlinge sahen oft nur den Kapo, der sie terrorisierte und mehr zu essen bekam als sie. Dabei muss man aber bedenken, dass er mit dem Leben bezahlte, wenn sein Kommando nicht die geforderte Arbeit erbrachte, und dass er ebenfalls zu wenig zu essen hatte, wenn auch mehr als die anderen. Den Verwaltungsführer der SS, der im Sinn des Mordprogrammes die Rationen kürzte, um die Häftlinge verhungern zu lassen, hat man nicht gesehen“, so Kranebitter.
Lange Zeit wurde auch in der historischen Aufarbeitung unhinterfragt die Erzählung tradiert, die „Berufsverbrecher“ seien aufgrund der Vorstrafen gewaltaffin und prädestiniert dafür gewesen, den Job der Kapos auszuüben. Kranebitter stellt das infrage und verweist nochmals auf die 75 Prozent an Eigentumsdelikten bei den Vorstrafen. Der DÖW-Leiter hält eine andere Erklärung für plausibler: „Sie waren die ersten, die da waren. Die Funktionen wurden oft nach dem Senioritätsprinzip vergeben.“ Von August 1938 bis März 1939 waren ausschließlich „Berufsverbrecher“ in Mauthausen inhaftiert.
Anerkennung bringt Klarheit für Angehörige
Das Thema der Verantwortung der Funktionshäftlinge sei ein extrem schwieriges und werde oft auf die „Berufsverbrecher“ reduziert und abgeschoben, sagt Kranebitter: „Viele Kapos – egal ob kriminelle, politische oder jüdische – waren unter den anderen Häftlingen gefürchtet, weil sie aus eigenem Antrieb noch brutaler handelten als von der SS angeordnet. Andere führten exakt die Befehle der SS aus und wieder andere nutzten ihre Machtpositionen, um anderen zu helfen und dem Widerstand zuzuarbeiten.“
Mit zahlreichen Fallbeispielen aus der Gruppe der „Berufsverbrecher“ stellt der Soziologe in seinem Buch die Komplexität des Themas dar. Auch Kopinitz, der mit dem Widerstand in Verbindung stand, wird in dem Band porträtiert.
Für die Opfer kommt die Anerkennung zu spät. „Die Änderung des Opferfürsorgegesetzes ist für die Familien und die Angehörigen gemacht. Für sie ist es wichtig zu wissen, dass der Onkel oder Opa ein Opfer war“, sagt der Soziologe. In seiner jahrelangen Forschungstätigkeit interviewte er viele Angehörige von „Berufsverbrechern“, die sich unsicher waren, ob ihr Verwandter überhaupt ein Opfer war, da er ja vorbestraft war.
Kranebitter sagt dazu: „Niemand war zu Recht im KZ. Es hat fast 80 Jahre gedauert, bis das gesellschaftlich anerkannt wurde. Und erst jetzt ist es auch juristische Realität.“
05.07.2024, Katharina Gruber, ORF Wissen
Links:
Andreas Kranebitter (DÖW)
Die Konstruktion von Kriminellen. Die Inhaftierung von „Berufsverbrechern“ im KZ Mauthausen (new academic press)
Literaturhinweis: